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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Gebiet der Politik, sondern auf dem Gebiet der Geschichte. Wir haben schon
mehrfach aus die Reihe von Schriftstellern hingewiesen, welche die nächste Ver¬
gangenheit unsers Vaterlandes behandeln, zum Theil mit einer entschiedenen
Kraft der Darstellung, mit glänzender Beredtsamkeit, mit tiefer Einsicht, was
aber die Hauptsache ist, alle in der gleichen Gesinnung und Ueberzeugung.
Sie haben sich nicht etwa untereinander verabredet, Droysen, Gervinus, Sy-
bel, Hauffer, Waitz, Duncke/und wie sie alle heißen, die Begebenheiten von
diesem bestimmten Standpunkt aus anzusehen, sondern es waltet in ihnen der
historisch entwickelte Kor 3<zns der Nation, den sie durch ihre Einsicht und
Bildung weiter entwickeln, den sie aber bereits in ihrer Gesinnung vor¬
finden. Im Zeitalter der Romantik schien es, als habe die Nation diesen ge¬
sunden Menschenverstand, der Vergangenheit und Zukunft verknüpft, verloren;
aber sie hat ihn wiedergefunden, und das ist uns die sicherste Bürgschaft für
ihre Zukunft. Das Gefühl, das in unsern Geschichtschreibern lebt, ist nicht
schwermüthig, wie bei Tacitus, der als geiht- und gefühlvoller Romantiker die Welt
seines Innern gegen die Wirklichkeit herauskehrte, ihr Tadel, ihre Ironie und
ihre Klage ist nicht hoffnungslos, sie wird vielmehr getragen von einem mäch¬
tigen, siegesgewisser Glauben, der die Zukunft in freudiger Gewißheit voraus¬
nimmt. Die häßlichen und widerwärtigen Erscheinungen unsers staatlichen
Lebens spielen nur auf der Oberfläche; der innere Kern unsers Denkens und
Empfindens ist noch nicht angegriffen, und darum werden wir, so schwer und
gefährlich sie ist, die Krankheit unsers Organismus überwinden.

In die Reihe dieser Geschichtschreiber tritt der Verfasser des vorliegenden
Buchs vielleicht als der bedeutendste. Ein hingebender Schüler der alten Ge¬
lehrtenschule , ausgerüstet mit dem ungeheuern Material und zugleich mit der
strengen Methode, die wir der ernsten, mühevollen Anstrengung eines halben
Jahrhunderts und dem organischen Zusammenwirken der bedeutendsten Kräfte
verdanken, verbindet er mit diesem kritischen Ernst zugleich das Feuer der
Jugend und jene lebendige Gestaltungskraft, die man sonst nur den Dichtern
zuschrieb. Sein Verstand dringt mit eiserner Schärfe in das Gewirr der That¬
sachen und Vorurtheile, kein Blendwerk täuscht ihn, keine altehrwürdige Mei¬
nung verbirgt ihm die Thorheit und das Laster, um seine Lippen spielt zu¬
weilen das bittre Zucken des Hohns, wenn er eine neue Schlechtigkeit entlarvt
-- eine Schlechtigkeit, in der ihm zugleich das Bild dessen, was er selbst er¬
lebt, vor Augen tritt, -- aber se,in Herz ist zugleich warm und rasch bewegt,
und wo er eine wirkliche Größe entdeckt, da bricht er in einen freudigen Jubel
aus, der um so hinreißender wirkt, weil er sich in den feinsten Formen der
Bildung ausspricht. Der Haß schärft seinen Sarkasmus, aber er verleitet ihn
zuweilen zu Formen, die aus den Grenzen der Schönheit heraustreten: bei
der Bewunderung aber sühlt man, daß seine eigne Seele sich erweitert, und


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Gebiet der Politik, sondern auf dem Gebiet der Geschichte. Wir haben schon
mehrfach aus die Reihe von Schriftstellern hingewiesen, welche die nächste Ver¬
gangenheit unsers Vaterlandes behandeln, zum Theil mit einer entschiedenen
Kraft der Darstellung, mit glänzender Beredtsamkeit, mit tiefer Einsicht, was
aber die Hauptsache ist, alle in der gleichen Gesinnung und Ueberzeugung.
Sie haben sich nicht etwa untereinander verabredet, Droysen, Gervinus, Sy-
bel, Hauffer, Waitz, Duncke/und wie sie alle heißen, die Begebenheiten von
diesem bestimmten Standpunkt aus anzusehen, sondern es waltet in ihnen der
historisch entwickelte Kor 3<zns der Nation, den sie durch ihre Einsicht und
Bildung weiter entwickeln, den sie aber bereits in ihrer Gesinnung vor¬
finden. Im Zeitalter der Romantik schien es, als habe die Nation diesen ge¬
sunden Menschenverstand, der Vergangenheit und Zukunft verknüpft, verloren;
aber sie hat ihn wiedergefunden, und das ist uns die sicherste Bürgschaft für
ihre Zukunft. Das Gefühl, das in unsern Geschichtschreibern lebt, ist nicht
schwermüthig, wie bei Tacitus, der als geiht- und gefühlvoller Romantiker die Welt
seines Innern gegen die Wirklichkeit herauskehrte, ihr Tadel, ihre Ironie und
ihre Klage ist nicht hoffnungslos, sie wird vielmehr getragen von einem mäch¬
tigen, siegesgewisser Glauben, der die Zukunft in freudiger Gewißheit voraus¬
nimmt. Die häßlichen und widerwärtigen Erscheinungen unsers staatlichen
Lebens spielen nur auf der Oberfläche; der innere Kern unsers Denkens und
Empfindens ist noch nicht angegriffen, und darum werden wir, so schwer und
gefährlich sie ist, die Krankheit unsers Organismus überwinden.

In die Reihe dieser Geschichtschreiber tritt der Verfasser des vorliegenden
Buchs vielleicht als der bedeutendste. Ein hingebender Schüler der alten Ge¬
lehrtenschule , ausgerüstet mit dem ungeheuern Material und zugleich mit der
strengen Methode, die wir der ernsten, mühevollen Anstrengung eines halben
Jahrhunderts und dem organischen Zusammenwirken der bedeutendsten Kräfte
verdanken, verbindet er mit diesem kritischen Ernst zugleich das Feuer der
Jugend und jene lebendige Gestaltungskraft, die man sonst nur den Dichtern
zuschrieb. Sein Verstand dringt mit eiserner Schärfe in das Gewirr der That¬
sachen und Vorurtheile, kein Blendwerk täuscht ihn, keine altehrwürdige Mei¬
nung verbirgt ihm die Thorheit und das Laster, um seine Lippen spielt zu¬
weilen das bittre Zucken des Hohns, wenn er eine neue Schlechtigkeit entlarvt
— eine Schlechtigkeit, in der ihm zugleich das Bild dessen, was er selbst er¬
lebt, vor Augen tritt, — aber se,in Herz ist zugleich warm und rasch bewegt,
und wo er eine wirkliche Größe entdeckt, da bricht er in einen freudigen Jubel
aus, der um so hinreißender wirkt, weil er sich in den feinsten Formen der
Bildung ausspricht. Der Haß schärft seinen Sarkasmus, aber er verleitet ihn
zuweilen zu Formen, die aus den Grenzen der Schönheit heraustreten: bei
der Bewunderung aber sühlt man, daß seine eigne Seele sich erweitert, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/11>, abgerufen am 21.06.2024.