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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Hermann und Böckh, von Niebuhr und Savigny, von Grimm und Lach¬
mann, so wie von den Gebrüdern von Humboldt hat jeder etwas gehört, der
sich um die Literatur kümmert. Man weiß auch historisch, daß es noch immer
jüngere Kräfte gibt, die-in dem gleichen Sinn und mit gleichem Erfolg fort¬
wirken; aber was sie geschaffen haben, geht nicht unmittelbar, sondern nur
durch die Vermittlung vielfach verzweigter, unscheinbarer Kanäle in das Leben
der Nation über. Sie sind die Väter unserer Bildung, die Gegenstände un¬
serer Verehrung, aber sie zu lieben vermag nur der näher stehende Schüler, nur
der Eingeweihte, denn die Nation hat für sie kein Verständniß und kann es
nicht haben. Wir verdanken ihnen, daß die deutsche Wissenschaft den ersten
Rang in der Weltliteratur einnimmt. Wer wollte also noch mit unfrucht¬
baren Wünschen an sie gehen und den schuldigen Dank durch die Betrachtung
verkümmern, daß sie ihrem Volk doch gar zu vornehm gegenüberstanden.

Aber es wäre ein Irrthum, anzunehmen, daß dies Verhältniß immer so
bleiben müsse. Wir treten in eine neue Periode der Literatur ein, wo die
Wissenschaft, die lange im Verborgenen ihre Triebkraft gesammelt, entwickelt
und gekräftigt hat, ihre Schale sprengt und in voller, reiner und schöner Ge¬
stalt ebenbürtig in den Kreis der Nation eindringt. Es ist ihr die Zunge ge¬
löst worden, sie hat die Kraft, zu sagen, was sie weiß; und wenn man von
einem der berühmtesten Gelehrten der vorigen Periode erzählte, er wisse in
vier und zwanzig Sprachen auf eine correcte Weise zu schweigen, so können
seine Jünger und Schüler dreist auf den Markt treten, denn ihre Beredtsam-
keit ist feuriger, hinreißender, ja verständlicher, als das ermüdend geistreiche
Geschwätz der Dilettanten, die bisher das große Wort führten.

Die Dilettanten der Junkerschaft und die Dilettanten des Pöbels äußer¬
ten ihren lebhaftesten Unwillen, als bei dem Ausbruch der Bewegung von
-IM8 das Volk so thöricht war, die "gelehrten'Zöpfe" zu seinen Vertretern
zu wählen, und als die Bewegung scheiterte, empfanden sie trotz der unmittel¬
baren schlimmen Folgen eine gewisse innere Genugthuung, daß die Zöpfe sich
compromittirt hätten, wie ein Theil des berliner Publicums nach der Schlacht
bei Jena froh war, daß den übermüthigen Fähnrichen eine tüchtige Lehre
ertheilt sei. Wenn man sich aber heute jene Tage unbefangen ins Gedächtniß
zurückruft, so wird man sich überzeugen, daß die einzig vernünftige Ansicht von
jenen Zöpfen aufgestellt wurde, daß sie ihr Princip am folgerichtigsten vertra¬
ten, daß sie es in dem Schlamm und Schutt jener Zeit rein erhielten und der
Nachwelt zur Fortbildung überlieferten. Die Bewegung von 1848 mußte schei¬
tern, weil sie aus falschen Voraussetzungen hervorging, weil man den Hebel
an einem Punkt ansetzte, der mit der Schwerkraft des Gegenstandes nichts zu
thun hatte; ihre Ideen sind aber geblieben und werden fortleben.

Sie zeigen ihre richtige Anwendung zunächst nicht auf dem unmittelbaren


Hermann und Böckh, von Niebuhr und Savigny, von Grimm und Lach¬
mann, so wie von den Gebrüdern von Humboldt hat jeder etwas gehört, der
sich um die Literatur kümmert. Man weiß auch historisch, daß es noch immer
jüngere Kräfte gibt, die-in dem gleichen Sinn und mit gleichem Erfolg fort¬
wirken; aber was sie geschaffen haben, geht nicht unmittelbar, sondern nur
durch die Vermittlung vielfach verzweigter, unscheinbarer Kanäle in das Leben
der Nation über. Sie sind die Väter unserer Bildung, die Gegenstände un¬
serer Verehrung, aber sie zu lieben vermag nur der näher stehende Schüler, nur
der Eingeweihte, denn die Nation hat für sie kein Verständniß und kann es
nicht haben. Wir verdanken ihnen, daß die deutsche Wissenschaft den ersten
Rang in der Weltliteratur einnimmt. Wer wollte also noch mit unfrucht¬
baren Wünschen an sie gehen und den schuldigen Dank durch die Betrachtung
verkümmern, daß sie ihrem Volk doch gar zu vornehm gegenüberstanden.

Aber es wäre ein Irrthum, anzunehmen, daß dies Verhältniß immer so
bleiben müsse. Wir treten in eine neue Periode der Literatur ein, wo die
Wissenschaft, die lange im Verborgenen ihre Triebkraft gesammelt, entwickelt
und gekräftigt hat, ihre Schale sprengt und in voller, reiner und schöner Ge¬
stalt ebenbürtig in den Kreis der Nation eindringt. Es ist ihr die Zunge ge¬
löst worden, sie hat die Kraft, zu sagen, was sie weiß; und wenn man von
einem der berühmtesten Gelehrten der vorigen Periode erzählte, er wisse in
vier und zwanzig Sprachen auf eine correcte Weise zu schweigen, so können
seine Jünger und Schüler dreist auf den Markt treten, denn ihre Beredtsam-
keit ist feuriger, hinreißender, ja verständlicher, als das ermüdend geistreiche
Geschwätz der Dilettanten, die bisher das große Wort führten.

Die Dilettanten der Junkerschaft und die Dilettanten des Pöbels äußer¬
ten ihren lebhaftesten Unwillen, als bei dem Ausbruch der Bewegung von
-IM8 das Volk so thöricht war, die „gelehrten'Zöpfe" zu seinen Vertretern
zu wählen, und als die Bewegung scheiterte, empfanden sie trotz der unmittel¬
baren schlimmen Folgen eine gewisse innere Genugthuung, daß die Zöpfe sich
compromittirt hätten, wie ein Theil des berliner Publicums nach der Schlacht
bei Jena froh war, daß den übermüthigen Fähnrichen eine tüchtige Lehre
ertheilt sei. Wenn man sich aber heute jene Tage unbefangen ins Gedächtniß
zurückruft, so wird man sich überzeugen, daß die einzig vernünftige Ansicht von
jenen Zöpfen aufgestellt wurde, daß sie ihr Princip am folgerichtigsten vertra¬
ten, daß sie es in dem Schlamm und Schutt jener Zeit rein erhielten und der
Nachwelt zur Fortbildung überlieferten. Die Bewegung von 1848 mußte schei¬
tern, weil sie aus falschen Voraussetzungen hervorging, weil man den Hebel
an einem Punkt ansetzte, der mit der Schwerkraft des Gegenstandes nichts zu
thun hatte; ihre Ideen sind aber geblieben und werden fortleben.

Sie zeigen ihre richtige Anwendung zunächst nicht auf dem unmittelbaren


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[0010] Hermann und Böckh, von Niebuhr und Savigny, von Grimm und Lach¬ mann, so wie von den Gebrüdern von Humboldt hat jeder etwas gehört, der sich um die Literatur kümmert. Man weiß auch historisch, daß es noch immer jüngere Kräfte gibt, die-in dem gleichen Sinn und mit gleichem Erfolg fort¬ wirken; aber was sie geschaffen haben, geht nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittlung vielfach verzweigter, unscheinbarer Kanäle in das Leben der Nation über. Sie sind die Väter unserer Bildung, die Gegenstände un¬ serer Verehrung, aber sie zu lieben vermag nur der näher stehende Schüler, nur der Eingeweihte, denn die Nation hat für sie kein Verständniß und kann es nicht haben. Wir verdanken ihnen, daß die deutsche Wissenschaft den ersten Rang in der Weltliteratur einnimmt. Wer wollte also noch mit unfrucht¬ baren Wünschen an sie gehen und den schuldigen Dank durch die Betrachtung verkümmern, daß sie ihrem Volk doch gar zu vornehm gegenüberstanden. Aber es wäre ein Irrthum, anzunehmen, daß dies Verhältniß immer so bleiben müsse. Wir treten in eine neue Periode der Literatur ein, wo die Wissenschaft, die lange im Verborgenen ihre Triebkraft gesammelt, entwickelt und gekräftigt hat, ihre Schale sprengt und in voller, reiner und schöner Ge¬ stalt ebenbürtig in den Kreis der Nation eindringt. Es ist ihr die Zunge ge¬ löst worden, sie hat die Kraft, zu sagen, was sie weiß; und wenn man von einem der berühmtesten Gelehrten der vorigen Periode erzählte, er wisse in vier und zwanzig Sprachen auf eine correcte Weise zu schweigen, so können seine Jünger und Schüler dreist auf den Markt treten, denn ihre Beredtsam- keit ist feuriger, hinreißender, ja verständlicher, als das ermüdend geistreiche Geschwätz der Dilettanten, die bisher das große Wort führten. Die Dilettanten der Junkerschaft und die Dilettanten des Pöbels äußer¬ ten ihren lebhaftesten Unwillen, als bei dem Ausbruch der Bewegung von -IM8 das Volk so thöricht war, die „gelehrten'Zöpfe" zu seinen Vertretern zu wählen, und als die Bewegung scheiterte, empfanden sie trotz der unmittel¬ baren schlimmen Folgen eine gewisse innere Genugthuung, daß die Zöpfe sich compromittirt hätten, wie ein Theil des berliner Publicums nach der Schlacht bei Jena froh war, daß den übermüthigen Fähnrichen eine tüchtige Lehre ertheilt sei. Wenn man sich aber heute jene Tage unbefangen ins Gedächtniß zurückruft, so wird man sich überzeugen, daß die einzig vernünftige Ansicht von jenen Zöpfen aufgestellt wurde, daß sie ihr Princip am folgerichtigsten vertra¬ ten, daß sie es in dem Schlamm und Schutt jener Zeit rein erhielten und der Nachwelt zur Fortbildung überlieferten. Die Bewegung von 1848 mußte schei¬ tern, weil sie aus falschen Voraussetzungen hervorging, weil man den Hebel an einem Punkt ansetzte, der mit der Schwerkraft des Gegenstandes nichts zu thun hatte; ihre Ideen sind aber geblieben und werden fortleben. Sie zeigen ihre richtige Anwendung zunächst nicht auf dem unmittelbaren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/10>, abgerufen am 05.07.2024.