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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Bunsens Raisonnement zu einem andern Resultat führt, als Stahls Rai-
sonnement, so ist das noch kein Grund, das erstere als unchristlich zu be¬
zeichnen.

Mit all diesen Bemerkungen wollten wir nur auf folgendes hindeuten.
Gewiß ist Bunsen kein Christ, wie man im zweiten, dritten, vierten Jahrhun-
hundert Christ war; aber Stahl ist es auch nicht. Auch sein Christenthum ist
durch Bildung vermittelt, wenn auch der Bildung entgegengesetzt. Paulus
wurde Christ, indem der Herr ihm persönlich erschien; Stahl wurde es durch
Studium und Nachdenken. Sein Christenthum trägt ebenso den Ursprung der
Reflexion an sich, als das seiner Gegner, und wenn er dasselbe bekämpfen will,
so kann er es nur durch Gründe thun, nicht durch Autorität, denn die Autori¬
tät kann nur eine unmittelbar zwingende sein, und die Tage von Damascus
sind selten.

Bei der einflußreichen Stellung, die Stahl innerhalb des Kirchenregiments
einnimmt, ist es noch von Wichtigkeit, auf seine Ansicht von der Reconstituirung
der Kirche einzugehen. Seine Grundsätze sind folgende: strenges Abschließen
der Kirche in sich selbst, möglichst gemeinsames Wirken mit den andern legitimen
Formen der Kirche, namentlich auch mit der katholischen, die eine besondere
Mission im Reiche Gottes habe; Toleranz gegen die individuelle Ueberzeugung
jeder Art, entschiedener Widerstand gegen jedes Bestreben, den Unglauben unter
kirchlichen Formen zu constituiren. Für das letzte gibt er folgenden Grund an.
"Den Deisten (welche die Offenbarung leugnen und blos Vernunftreligion
haben) geschieht kein Gewissenszwang durch Versagung gemeinsamer Gottes-
verehrung, denn religiöse Ueberzeugung dieser Art treibt eben nicht zu gemein¬
samer Gottesverehrung. Wenn mir jemand sagt: ""ich glaube nicht an Offen-
baruig und Wunder und die Erlösung durch Christus, aber ich habe den
Glauben an einen lebendigen Gott und seine Furcht bestimmt mein Han¬
deln"' -- warum sollte ich einen solchen Mann nicht achten und nicht an¬
nehmen, daß er ein Gewissen hat, diesen Gottesglauben und nicht mehr
als ih, zu bekennen? Aber wenn mir dieser Mann sagt: ""ich kann unmöglich
mit meinem Glauben sür mich bleiben, mich treibt mein Gewissen zu gemein¬
samem Tultus für diese vernünftige Religion,"" so sage ich ihm auf den Kopf
zu, daß das nicht wahr ist. Niemals hat jemand, der seine Religion aus der
Vermunt und nicht aus der Offenbarung schöpfte, ein Gewissensgebot gehabt,
dafür enen Cultus zu gründen."

Aus wir halten das Raisonnement sür richtig. Wir haben unsre Ueber¬
zeugung, daß die sogenannten freien Gemeinden eine Fehlgeburt sind, schon
mehrfach ausgesprochen. Aber ist damit auch die Folgerung bewiesen? Was
hilft es Ka Staat, wenn er durch seine Po^izeibeamte constcitiren läßt, ob die
Vorträge der lichtsreundlichen Pastoren kirchlichen Inhalts sind, und im ent-


6j*

Bunsens Raisonnement zu einem andern Resultat führt, als Stahls Rai-
sonnement, so ist das noch kein Grund, das erstere als unchristlich zu be¬
zeichnen.

Mit all diesen Bemerkungen wollten wir nur auf folgendes hindeuten.
Gewiß ist Bunsen kein Christ, wie man im zweiten, dritten, vierten Jahrhun-
hundert Christ war; aber Stahl ist es auch nicht. Auch sein Christenthum ist
durch Bildung vermittelt, wenn auch der Bildung entgegengesetzt. Paulus
wurde Christ, indem der Herr ihm persönlich erschien; Stahl wurde es durch
Studium und Nachdenken. Sein Christenthum trägt ebenso den Ursprung der
Reflexion an sich, als das seiner Gegner, und wenn er dasselbe bekämpfen will,
so kann er es nur durch Gründe thun, nicht durch Autorität, denn die Autori¬
tät kann nur eine unmittelbar zwingende sein, und die Tage von Damascus
sind selten.

Bei der einflußreichen Stellung, die Stahl innerhalb des Kirchenregiments
einnimmt, ist es noch von Wichtigkeit, auf seine Ansicht von der Reconstituirung
der Kirche einzugehen. Seine Grundsätze sind folgende: strenges Abschließen
der Kirche in sich selbst, möglichst gemeinsames Wirken mit den andern legitimen
Formen der Kirche, namentlich auch mit der katholischen, die eine besondere
Mission im Reiche Gottes habe; Toleranz gegen die individuelle Ueberzeugung
jeder Art, entschiedener Widerstand gegen jedes Bestreben, den Unglauben unter
kirchlichen Formen zu constituiren. Für das letzte gibt er folgenden Grund an.
„Den Deisten (welche die Offenbarung leugnen und blos Vernunftreligion
haben) geschieht kein Gewissenszwang durch Versagung gemeinsamer Gottes-
verehrung, denn religiöse Ueberzeugung dieser Art treibt eben nicht zu gemein¬
samer Gottesverehrung. Wenn mir jemand sagt: „„ich glaube nicht an Offen-
baruig und Wunder und die Erlösung durch Christus, aber ich habe den
Glauben an einen lebendigen Gott und seine Furcht bestimmt mein Han¬
deln"' — warum sollte ich einen solchen Mann nicht achten und nicht an¬
nehmen, daß er ein Gewissen hat, diesen Gottesglauben und nicht mehr
als ih, zu bekennen? Aber wenn mir dieser Mann sagt: „„ich kann unmöglich
mit meinem Glauben sür mich bleiben, mich treibt mein Gewissen zu gemein¬
samem Tultus für diese vernünftige Religion,"" so sage ich ihm auf den Kopf
zu, daß das nicht wahr ist. Niemals hat jemand, der seine Religion aus der
Vermunt und nicht aus der Offenbarung schöpfte, ein Gewissensgebot gehabt,
dafür enen Cultus zu gründen."

Aus wir halten das Raisonnement sür richtig. Wir haben unsre Ueber¬
zeugung, daß die sogenannten freien Gemeinden eine Fehlgeburt sind, schon
mehrfach ausgesprochen. Aber ist damit auch die Folgerung bewiesen? Was
hilft es Ka Staat, wenn er durch seine Po^izeibeamte constcitiren läßt, ob die
Vorträge der lichtsreundlichen Pastoren kirchlichen Inhalts sind, und im ent-


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[0515] Bunsens Raisonnement zu einem andern Resultat führt, als Stahls Rai- sonnement, so ist das noch kein Grund, das erstere als unchristlich zu be¬ zeichnen. Mit all diesen Bemerkungen wollten wir nur auf folgendes hindeuten. Gewiß ist Bunsen kein Christ, wie man im zweiten, dritten, vierten Jahrhun- hundert Christ war; aber Stahl ist es auch nicht. Auch sein Christenthum ist durch Bildung vermittelt, wenn auch der Bildung entgegengesetzt. Paulus wurde Christ, indem der Herr ihm persönlich erschien; Stahl wurde es durch Studium und Nachdenken. Sein Christenthum trägt ebenso den Ursprung der Reflexion an sich, als das seiner Gegner, und wenn er dasselbe bekämpfen will, so kann er es nur durch Gründe thun, nicht durch Autorität, denn die Autori¬ tät kann nur eine unmittelbar zwingende sein, und die Tage von Damascus sind selten. Bei der einflußreichen Stellung, die Stahl innerhalb des Kirchenregiments einnimmt, ist es noch von Wichtigkeit, auf seine Ansicht von der Reconstituirung der Kirche einzugehen. Seine Grundsätze sind folgende: strenges Abschließen der Kirche in sich selbst, möglichst gemeinsames Wirken mit den andern legitimen Formen der Kirche, namentlich auch mit der katholischen, die eine besondere Mission im Reiche Gottes habe; Toleranz gegen die individuelle Ueberzeugung jeder Art, entschiedener Widerstand gegen jedes Bestreben, den Unglauben unter kirchlichen Formen zu constituiren. Für das letzte gibt er folgenden Grund an. „Den Deisten (welche die Offenbarung leugnen und blos Vernunftreligion haben) geschieht kein Gewissenszwang durch Versagung gemeinsamer Gottes- verehrung, denn religiöse Ueberzeugung dieser Art treibt eben nicht zu gemein¬ samer Gottesverehrung. Wenn mir jemand sagt: „„ich glaube nicht an Offen- baruig und Wunder und die Erlösung durch Christus, aber ich habe den Glauben an einen lebendigen Gott und seine Furcht bestimmt mein Han¬ deln"' — warum sollte ich einen solchen Mann nicht achten und nicht an¬ nehmen, daß er ein Gewissen hat, diesen Gottesglauben und nicht mehr als ih, zu bekennen? Aber wenn mir dieser Mann sagt: „„ich kann unmöglich mit meinem Glauben sür mich bleiben, mich treibt mein Gewissen zu gemein¬ samem Tultus für diese vernünftige Religion,"" so sage ich ihm auf den Kopf zu, daß das nicht wahr ist. Niemals hat jemand, der seine Religion aus der Vermunt und nicht aus der Offenbarung schöpfte, ein Gewissensgebot gehabt, dafür enen Cultus zu gründen." Aus wir halten das Raisonnement sür richtig. Wir haben unsre Ueber¬ zeugung, daß die sogenannten freien Gemeinden eine Fehlgeburt sind, schon mehrfach ausgesprochen. Aber ist damit auch die Folgerung bewiesen? Was hilft es Ka Staat, wenn er durch seine Po^izeibeamte constcitiren läßt, ob die Vorträge der lichtsreundlichen Pastoren kirchlichen Inhalts sind, und im ent- 6j*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/515>, abgerufen am 23.07.2024.