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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Schatten gestellt. Da nun Italien jetzt schon in den Ferien durchreist wird, und
Befähigte und Unbesähigte nach"ihrer Rückkehr ihre Eindrücke veröffentlichen,
so schwillt die Flut der Schriften auch über Pompeji immer höher an.

Aber trotz einer Anzahl von Schriften in allen Sprachen eristirt doch noch
immer kein einziges Werk über Herculanum und Pompeji, das sowol wissen¬
schaftlichen Ansprüchen genügte, als dem weitern Kreise alter Gebildeten über
diese in der Geschichte der Menschheit beispiellose Entdeckung umfassende und
zuverlässige Belehrung geben könnte. Um ein solches Werk zu schreiben, dazu
gehört freilich dreierlei. Erstens und hauptsächlich, daß man lange genug in
Neapel und Pompeji gewesen ist, um durch Autopsie genau alles das kennen
zu lernen, was sich aus Büchern nicht lernen läßt. Zweitens, daß man die
nöthigen antiquarischen und kunsthistorischen Kenntnisse besitzt, die die Erklärung
der Denkmäler erfordert. Drittens, daß man die weitschichtige Literatur über
Pompeji in möglichster Vollständigkeit durchgearbeitet hat.

Auch däs neueste Buch über Pompeji von Herrn Overbeck, außerordent¬
lichem Professor in Leipzig") befriedigt die eben aufgestellten Ansprüche nur zum
geringsten Theil. Selbst die Literatur hat Herr Overbeck nicht vollständig ge¬
kannt. Hätte er z. B. die sacstmilirten Mauerschriften Pompejis von Words-
worth benutzt, so würde sein Capitel "Zeugnisse des Verkehrs und des Lebens
nach Inschriften^ besser ausgesehen haben., Die kunsthistorischen Kenntnisse,
die erforderlich sind, besitzt Herr Overbeck, obwol sich hie und da der Mange
an Autopsie fühlbar macht; die Capitel über Architektur, wo sich nach Abbil¬
dungen vielfach sicher urtheilen läßt, scheinen uns von den artistischen die besten
zu sein. In Bezug auf die Alterthümer verräth er aber mitunter eine Un-
kenntniß, die man dem Verfasser eines Buchs über Pompeji nicht verzeihen
kann. Man sollte glauben, daß wer über Pompeji schreibt, wenigstens so viel
Kenntniß von den Zuständen und Verfassungen der alten Municipien haben
müßte, als man aus gangbaren Handbüchern sich erwerben kann: aber nicht
einmal dieser bescheidenen Forderung entspricht Herrn Overbecks antiquarische
Gelehrsamkeit. In den alten Municipien war es z. B. etwas Gewöhnliches,
daß Söhne der Gemeinderäthe (welche den Senat dieser Städte bildeten noch
im Knabenalter in den Gemeinderath aufgenommen wurden. Herr Overbeck
hat dies nicht gewußt, und da in einer pompejanischen Inschrift die Wahl
eines sechsjährigen Knaben in den Gemeinderath erwähnt wird, ist ihm dies
ungemein lächerlich vorgekommen, und er hat das unglückliche Kind in einen
Greis von sechzig verwandeln zu müssen geglaubt. Hätte er auch nur das Register
zu Mommsens Jnschriftensammlung, aus der er diese Inschrift genommen hat,



") Pompeji. Zu seinen Gehäusen, Alterthümern und Kmisiwerken für Kunst und Altcr-
thnmösrennde dargestellt von Dr. Z. Overbeck, anßerord. Professor in Leipzig. Leipzig, Engel-
mann ->8l>(i.

Schatten gestellt. Da nun Italien jetzt schon in den Ferien durchreist wird, und
Befähigte und Unbesähigte nach"ihrer Rückkehr ihre Eindrücke veröffentlichen,
so schwillt die Flut der Schriften auch über Pompeji immer höher an.

Aber trotz einer Anzahl von Schriften in allen Sprachen eristirt doch noch
immer kein einziges Werk über Herculanum und Pompeji, das sowol wissen¬
schaftlichen Ansprüchen genügte, als dem weitern Kreise alter Gebildeten über
diese in der Geschichte der Menschheit beispiellose Entdeckung umfassende und
zuverlässige Belehrung geben könnte. Um ein solches Werk zu schreiben, dazu
gehört freilich dreierlei. Erstens und hauptsächlich, daß man lange genug in
Neapel und Pompeji gewesen ist, um durch Autopsie genau alles das kennen
zu lernen, was sich aus Büchern nicht lernen läßt. Zweitens, daß man die
nöthigen antiquarischen und kunsthistorischen Kenntnisse besitzt, die die Erklärung
der Denkmäler erfordert. Drittens, daß man die weitschichtige Literatur über
Pompeji in möglichster Vollständigkeit durchgearbeitet hat.

Auch däs neueste Buch über Pompeji von Herrn Overbeck, außerordent¬
lichem Professor in Leipzig") befriedigt die eben aufgestellten Ansprüche nur zum
geringsten Theil. Selbst die Literatur hat Herr Overbeck nicht vollständig ge¬
kannt. Hätte er z. B. die sacstmilirten Mauerschriften Pompejis von Words-
worth benutzt, so würde sein Capitel „Zeugnisse des Verkehrs und des Lebens
nach Inschriften^ besser ausgesehen haben., Die kunsthistorischen Kenntnisse,
die erforderlich sind, besitzt Herr Overbeck, obwol sich hie und da der Mange
an Autopsie fühlbar macht; die Capitel über Architektur, wo sich nach Abbil¬
dungen vielfach sicher urtheilen läßt, scheinen uns von den artistischen die besten
zu sein. In Bezug auf die Alterthümer verräth er aber mitunter eine Un-
kenntniß, die man dem Verfasser eines Buchs über Pompeji nicht verzeihen
kann. Man sollte glauben, daß wer über Pompeji schreibt, wenigstens so viel
Kenntniß von den Zuständen und Verfassungen der alten Municipien haben
müßte, als man aus gangbaren Handbüchern sich erwerben kann: aber nicht
einmal dieser bescheidenen Forderung entspricht Herrn Overbecks antiquarische
Gelehrsamkeit. In den alten Municipien war es z. B. etwas Gewöhnliches,
daß Söhne der Gemeinderäthe (welche den Senat dieser Städte bildeten noch
im Knabenalter in den Gemeinderath aufgenommen wurden. Herr Overbeck
hat dies nicht gewußt, und da in einer pompejanischen Inschrift die Wahl
eines sechsjährigen Knaben in den Gemeinderath erwähnt wird, ist ihm dies
ungemein lächerlich vorgekommen, und er hat das unglückliche Kind in einen
Greis von sechzig verwandeln zu müssen geglaubt. Hätte er auch nur das Register
zu Mommsens Jnschriftensammlung, aus der er diese Inschrift genommen hat,



") Pompeji. Zu seinen Gehäusen, Alterthümern und Kmisiwerken für Kunst und Altcr-
thnmösrennde dargestellt von Dr. Z. Overbeck, anßerord. Professor in Leipzig. Leipzig, Engel-
mann ->8l>(i.
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[0450] Schatten gestellt. Da nun Italien jetzt schon in den Ferien durchreist wird, und Befähigte und Unbesähigte nach"ihrer Rückkehr ihre Eindrücke veröffentlichen, so schwillt die Flut der Schriften auch über Pompeji immer höher an. Aber trotz einer Anzahl von Schriften in allen Sprachen eristirt doch noch immer kein einziges Werk über Herculanum und Pompeji, das sowol wissen¬ schaftlichen Ansprüchen genügte, als dem weitern Kreise alter Gebildeten über diese in der Geschichte der Menschheit beispiellose Entdeckung umfassende und zuverlässige Belehrung geben könnte. Um ein solches Werk zu schreiben, dazu gehört freilich dreierlei. Erstens und hauptsächlich, daß man lange genug in Neapel und Pompeji gewesen ist, um durch Autopsie genau alles das kennen zu lernen, was sich aus Büchern nicht lernen läßt. Zweitens, daß man die nöthigen antiquarischen und kunsthistorischen Kenntnisse besitzt, die die Erklärung der Denkmäler erfordert. Drittens, daß man die weitschichtige Literatur über Pompeji in möglichster Vollständigkeit durchgearbeitet hat. Auch däs neueste Buch über Pompeji von Herrn Overbeck, außerordent¬ lichem Professor in Leipzig") befriedigt die eben aufgestellten Ansprüche nur zum geringsten Theil. Selbst die Literatur hat Herr Overbeck nicht vollständig ge¬ kannt. Hätte er z. B. die sacstmilirten Mauerschriften Pompejis von Words- worth benutzt, so würde sein Capitel „Zeugnisse des Verkehrs und des Lebens nach Inschriften^ besser ausgesehen haben., Die kunsthistorischen Kenntnisse, die erforderlich sind, besitzt Herr Overbeck, obwol sich hie und da der Mange an Autopsie fühlbar macht; die Capitel über Architektur, wo sich nach Abbil¬ dungen vielfach sicher urtheilen läßt, scheinen uns von den artistischen die besten zu sein. In Bezug auf die Alterthümer verräth er aber mitunter eine Un- kenntniß, die man dem Verfasser eines Buchs über Pompeji nicht verzeihen kann. Man sollte glauben, daß wer über Pompeji schreibt, wenigstens so viel Kenntniß von den Zuständen und Verfassungen der alten Municipien haben müßte, als man aus gangbaren Handbüchern sich erwerben kann: aber nicht einmal dieser bescheidenen Forderung entspricht Herrn Overbecks antiquarische Gelehrsamkeit. In den alten Municipien war es z. B. etwas Gewöhnliches, daß Söhne der Gemeinderäthe (welche den Senat dieser Städte bildeten noch im Knabenalter in den Gemeinderath aufgenommen wurden. Herr Overbeck hat dies nicht gewußt, und da in einer pompejanischen Inschrift die Wahl eines sechsjährigen Knaben in den Gemeinderath erwähnt wird, ist ihm dies ungemein lächerlich vorgekommen, und er hat das unglückliche Kind in einen Greis von sechzig verwandeln zu müssen geglaubt. Hätte er auch nur das Register zu Mommsens Jnschriftensammlung, aus der er diese Inschrift genommen hat, ") Pompeji. Zu seinen Gehäusen, Alterthümern und Kmisiwerken für Kunst und Altcr- thnmösrennde dargestellt von Dr. Z. Overbeck, anßerord. Professor in Leipzig. Leipzig, Engel- mann ->8l>(i.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/450>, abgerufen am 23.07.2024.