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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Lebens, womit unsre eignen Planeten und die von andern Systemen bevölkert
werden können. Ist es nothwendig, daß eine unsterbliche Seele mit einem
Knochengerüste verbunden ußd daß sie in einen Kerker von Fleisch und Haut
gebannt ist? Muß sie mit zwei Augen sehen und mit zwei Ohren hören? Muß
sie mit zehn Fingern fühlen und auf zwei Füßen stehen? Könnte sie nicht
(das schreibt ein berühmter Physiker!) in einem Polypen mit einem Auge oder
in einem Argus mit hundert Augen wohnen? Könnte sie nicht in den Nie¬
sengestalten der Titanen herrschen und die hundert Hände eines Briareus
regen?

Nicht weniger mannigfaltig mögen die Functionen sein, welche die Bürger
der Sphären zu erfüllen haben, nicht weniger verschieden ihre Arten zu leben,
nicht weniger eigenthümlich die Oertlichkeiten, in denen sie wohnen. Wenn
diese kleine Welt hienieden ihren Bewohnern solche Pflichten auferlegt und mit
ihrer Erfüllung so verschiedene Freuden verbindet, wenn Pflichten, so mannig¬
fach und so zahlreich, tausende von Jahren erfordert haben, ,um ihre goldnen
Früchte zu reisen, welche unendlichen und zahllosen Obliegenheiten dürfen wir
nicht jener Mehrheit intellectueller Gemeinschaften zuschreiben, welche sich in
den himmlischen Sphären gebildet haben oder in der Bildung begriffen sind?
Was für Thaten moralischen und vielleicht physischen Muthes? Was für
Unternehmungen der Menschenliebe -- was für Errungenschaften des Genies
dürfen wir nicht in so ausgedehnten Reichen und auf so großen Weltkörpern
erwarten?

Es ist schwer, neben den Entdeckungen Brewsters an die Möglichkeit von
Tiraden zu glauben, in denen derselbe Gelehrte von der Größe einer Körper-
masse auf die Größe deS an sie geknüpften Geistes schließt, als ob die Pata-
gonier die begabtesten, besten und menschlichsten der Menschen wären. Aber
hören wir ihn weiter. Wir wollen zwar nicht wissen, was sein kön.nee, wenn
dies und jenes wäre, sondern was sein kann, da dies und jenes so und
nicht anders ist. Dennoch ist es belehrend, den Speculationen des Verthei¬
digers der bewohnten Sternenwelt noch etwas weiter zu folgen.

Könnte auf einem Planeten, großartiger als der unsre, nicht ein Typus
der Vernunft sein, in Vergleich mit welchem der Geist eines Newton die unterste
Stufe einnehmen würde? Könnten sich dort nicht weiter reichende Fernröhre
und mächtigere Vergrößerungsgläser finden? Nicht feinere Processe des Be¬
weises, nicht eine tiefer dringende Weise des Analystrens, nicht eine umfassen¬
dere Combinationsgabe? Könnte nicht die Chemie dort neue Elemente, neue
Gase, neue Säuren, neue Alkalien, neue Erden und Metalle haben, die
Geologie neue Felsen, neue Flöhe und neue Perioden des Wechsels, und Zoo¬
logie, Mineralogie und Botanik neue Ordnungen und Abtheilungen, neue
Lebensformen und neue Typen der Organisation, die allesammt höhere Ver-


Lebens, womit unsre eignen Planeten und die von andern Systemen bevölkert
werden können. Ist es nothwendig, daß eine unsterbliche Seele mit einem
Knochengerüste verbunden ußd daß sie in einen Kerker von Fleisch und Haut
gebannt ist? Muß sie mit zwei Augen sehen und mit zwei Ohren hören? Muß
sie mit zehn Fingern fühlen und auf zwei Füßen stehen? Könnte sie nicht
(das schreibt ein berühmter Physiker!) in einem Polypen mit einem Auge oder
in einem Argus mit hundert Augen wohnen? Könnte sie nicht in den Nie¬
sengestalten der Titanen herrschen und die hundert Hände eines Briareus
regen?

Nicht weniger mannigfaltig mögen die Functionen sein, welche die Bürger
der Sphären zu erfüllen haben, nicht weniger verschieden ihre Arten zu leben,
nicht weniger eigenthümlich die Oertlichkeiten, in denen sie wohnen. Wenn
diese kleine Welt hienieden ihren Bewohnern solche Pflichten auferlegt und mit
ihrer Erfüllung so verschiedene Freuden verbindet, wenn Pflichten, so mannig¬
fach und so zahlreich, tausende von Jahren erfordert haben, ,um ihre goldnen
Früchte zu reisen, welche unendlichen und zahllosen Obliegenheiten dürfen wir
nicht jener Mehrheit intellectueller Gemeinschaften zuschreiben, welche sich in
den himmlischen Sphären gebildet haben oder in der Bildung begriffen sind?
Was für Thaten moralischen und vielleicht physischen Muthes? Was für
Unternehmungen der Menschenliebe — was für Errungenschaften des Genies
dürfen wir nicht in so ausgedehnten Reichen und auf so großen Weltkörpern
erwarten?

Es ist schwer, neben den Entdeckungen Brewsters an die Möglichkeit von
Tiraden zu glauben, in denen derselbe Gelehrte von der Größe einer Körper-
masse auf die Größe deS an sie geknüpften Geistes schließt, als ob die Pata-
gonier die begabtesten, besten und menschlichsten der Menschen wären. Aber
hören wir ihn weiter. Wir wollen zwar nicht wissen, was sein kön.nee, wenn
dies und jenes wäre, sondern was sein kann, da dies und jenes so und
nicht anders ist. Dennoch ist es belehrend, den Speculationen des Verthei¬
digers der bewohnten Sternenwelt noch etwas weiter zu folgen.

Könnte auf einem Planeten, großartiger als der unsre, nicht ein Typus
der Vernunft sein, in Vergleich mit welchem der Geist eines Newton die unterste
Stufe einnehmen würde? Könnten sich dort nicht weiter reichende Fernröhre
und mächtigere Vergrößerungsgläser finden? Nicht feinere Processe des Be¬
weises, nicht eine tiefer dringende Weise des Analystrens, nicht eine umfassen¬
dere Combinationsgabe? Könnte nicht die Chemie dort neue Elemente, neue
Gase, neue Säuren, neue Alkalien, neue Erden und Metalle haben, die
Geologie neue Felsen, neue Flöhe und neue Perioden des Wechsels, und Zoo¬
logie, Mineralogie und Botanik neue Ordnungen und Abtheilungen, neue
Lebensformen und neue Typen der Organisation, die allesammt höhere Ver-


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[0317] Lebens, womit unsre eignen Planeten und die von andern Systemen bevölkert werden können. Ist es nothwendig, daß eine unsterbliche Seele mit einem Knochengerüste verbunden ußd daß sie in einen Kerker von Fleisch und Haut gebannt ist? Muß sie mit zwei Augen sehen und mit zwei Ohren hören? Muß sie mit zehn Fingern fühlen und auf zwei Füßen stehen? Könnte sie nicht (das schreibt ein berühmter Physiker!) in einem Polypen mit einem Auge oder in einem Argus mit hundert Augen wohnen? Könnte sie nicht in den Nie¬ sengestalten der Titanen herrschen und die hundert Hände eines Briareus regen? Nicht weniger mannigfaltig mögen die Functionen sein, welche die Bürger der Sphären zu erfüllen haben, nicht weniger verschieden ihre Arten zu leben, nicht weniger eigenthümlich die Oertlichkeiten, in denen sie wohnen. Wenn diese kleine Welt hienieden ihren Bewohnern solche Pflichten auferlegt und mit ihrer Erfüllung so verschiedene Freuden verbindet, wenn Pflichten, so mannig¬ fach und so zahlreich, tausende von Jahren erfordert haben, ,um ihre goldnen Früchte zu reisen, welche unendlichen und zahllosen Obliegenheiten dürfen wir nicht jener Mehrheit intellectueller Gemeinschaften zuschreiben, welche sich in den himmlischen Sphären gebildet haben oder in der Bildung begriffen sind? Was für Thaten moralischen und vielleicht physischen Muthes? Was für Unternehmungen der Menschenliebe — was für Errungenschaften des Genies dürfen wir nicht in so ausgedehnten Reichen und auf so großen Weltkörpern erwarten? Es ist schwer, neben den Entdeckungen Brewsters an die Möglichkeit von Tiraden zu glauben, in denen derselbe Gelehrte von der Größe einer Körper- masse auf die Größe deS an sie geknüpften Geistes schließt, als ob die Pata- gonier die begabtesten, besten und menschlichsten der Menschen wären. Aber hören wir ihn weiter. Wir wollen zwar nicht wissen, was sein kön.nee, wenn dies und jenes wäre, sondern was sein kann, da dies und jenes so und nicht anders ist. Dennoch ist es belehrend, den Speculationen des Verthei¬ digers der bewohnten Sternenwelt noch etwas weiter zu folgen. Könnte auf einem Planeten, großartiger als der unsre, nicht ein Typus der Vernunft sein, in Vergleich mit welchem der Geist eines Newton die unterste Stufe einnehmen würde? Könnten sich dort nicht weiter reichende Fernröhre und mächtigere Vergrößerungsgläser finden? Nicht feinere Processe des Be¬ weises, nicht eine tiefer dringende Weise des Analystrens, nicht eine umfassen¬ dere Combinationsgabe? Könnte nicht die Chemie dort neue Elemente, neue Gase, neue Säuren, neue Alkalien, neue Erden und Metalle haben, die Geologie neue Felsen, neue Flöhe und neue Perioden des Wechsels, und Zoo¬ logie, Mineralogie und Botanik neue Ordnungen und Abtheilungen, neue Lebensformen und neue Typen der Organisation, die allesammt höhere Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/317>, abgerufen am 23.07.2024.