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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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jetzt noch am häufigsten -- ein Tuch von feinem weißen Zeuge, am Halse
verschlungen, um die in Flechten aufgenommenen Haare.

So erscheinen uns die letzten Repräsentanten eines Völkerstammes, der erst
jetzt, wenige Jahrzehnte vor seinem völligen Untergange, durch die Bemühungen
patriotischer Forscher dem Ganzen, wozu er gehört, bekannt zu werden anfängt.
ES hat etwas Versöhnendes, mitten aus der socialen Nullität dieser verschollenen
Menschen ihre bescheidene Lebensbefriedigung, ihre beglückende Wohlhäbigkeit
herauszuempfinden. Diese Beobachtung läßt uns das Loos eines solchen
Völkerstammes weniger bedauernswert!) erscheinen, als das Loos ihrer Stamm¬
verwandten in dem sogenannten russischen Lithauen, welche auf den Witiinnen,
breiten, flachen, mit brelernem Dach versehenen, elenden Fahrzeugen, oft den
Niemen hinab unsern Augen vorbeifahren. Diese Armen sind Leibeigne,
ä^ImKliZ, von clxillnz^, Knecht, und von ihren Herren einem jüdischen Händler
auf bestimmte Zeit zur Fortschnffung von Waaren überlassen. Sind diese an
ihren Bestimmungsort gelangt, so wird das elende Fahrzeug zertrümmert, das
Holz verkauft, und jene Unglücklichen müssen zu Fuß den weilen Weg zu den
Erdhöhlen ihrer Heimath zurück. -- Sollte man glauben, daß unter diesen
Halbmenschen noch der Frohsinn wohnen könne? In Königsberg und Memel, wo
diese Parias in ihre graubraunen, zerlumpten, oft über den nackten Leib hängenden
Kitteln, mit-groben Stohhüten, gewöhnlich barfuß, oft mit Bastschuhen in
Scharen an den Stromufern umherlaufen, hat man selten Gelegenheit, sie in einem
Augenblick der Ruhe zu belauschen. Widrige Zufälle aberhaben jene Fahrzeuge
mitunter aus den Wellen des Niemen, unsers Grenzflusses, eine Zeitlang fest¬
gehalten, wodurch den armen Menschen auf einige Stunden Ruhe entstand.
Dann sieht man sie am User um ihren großen Kessel tanzen, worin ein un¬
sägliches Gebräu, ihr unerforschliches Mittagsessen brodelte. In wilden
Sprüngen, mit ausgelassenem Lachen ließen sie ihre Kittel schlottern und zap¬
pelten sie einher, in bachantische Lust versetzt durch die arbeitlose Stunde, die
Wärme des Feuers, die Dämpfe des Kessels und vor allem durch das Ge-
zwitscher einer Kindergcige oder einer kleinen Flöte, die ein Ueberglücklicher auf
dem verlockenden Markt des kleinen Städtchens nach langem innern Kampfe
für wenig Pfennige erstanden hat.

Diesem Tumult schaut der Grenzlithauer vom Waldessaume.lächelnd zu
' >>d ahnt nicht, daß es seine Stammverwandten sind, deren wilde Sprünge
er verachtet.




Korrespondenzen.
Die Friedenshoffnnngen.

-- Die Nachricht von der unbedingten Annahme der
östreichischen Vorschläge durch Rußland flog als überraschende Neuigkeit durch die


jetzt noch am häufigsten — ein Tuch von feinem weißen Zeuge, am Halse
verschlungen, um die in Flechten aufgenommenen Haare.

So erscheinen uns die letzten Repräsentanten eines Völkerstammes, der erst
jetzt, wenige Jahrzehnte vor seinem völligen Untergange, durch die Bemühungen
patriotischer Forscher dem Ganzen, wozu er gehört, bekannt zu werden anfängt.
ES hat etwas Versöhnendes, mitten aus der socialen Nullität dieser verschollenen
Menschen ihre bescheidene Lebensbefriedigung, ihre beglückende Wohlhäbigkeit
herauszuempfinden. Diese Beobachtung läßt uns das Loos eines solchen
Völkerstammes weniger bedauernswert!) erscheinen, als das Loos ihrer Stamm¬
verwandten in dem sogenannten russischen Lithauen, welche auf den Witiinnen,
breiten, flachen, mit brelernem Dach versehenen, elenden Fahrzeugen, oft den
Niemen hinab unsern Augen vorbeifahren. Diese Armen sind Leibeigne,
ä^ImKliZ, von clxillnz^, Knecht, und von ihren Herren einem jüdischen Händler
auf bestimmte Zeit zur Fortschnffung von Waaren überlassen. Sind diese an
ihren Bestimmungsort gelangt, so wird das elende Fahrzeug zertrümmert, das
Holz verkauft, und jene Unglücklichen müssen zu Fuß den weilen Weg zu den
Erdhöhlen ihrer Heimath zurück. — Sollte man glauben, daß unter diesen
Halbmenschen noch der Frohsinn wohnen könne? In Königsberg und Memel, wo
diese Parias in ihre graubraunen, zerlumpten, oft über den nackten Leib hängenden
Kitteln, mit-groben Stohhüten, gewöhnlich barfuß, oft mit Bastschuhen in
Scharen an den Stromufern umherlaufen, hat man selten Gelegenheit, sie in einem
Augenblick der Ruhe zu belauschen. Widrige Zufälle aberhaben jene Fahrzeuge
mitunter aus den Wellen des Niemen, unsers Grenzflusses, eine Zeitlang fest¬
gehalten, wodurch den armen Menschen auf einige Stunden Ruhe entstand.
Dann sieht man sie am User um ihren großen Kessel tanzen, worin ein un¬
sägliches Gebräu, ihr unerforschliches Mittagsessen brodelte. In wilden
Sprüngen, mit ausgelassenem Lachen ließen sie ihre Kittel schlottern und zap¬
pelten sie einher, in bachantische Lust versetzt durch die arbeitlose Stunde, die
Wärme des Feuers, die Dämpfe des Kessels und vor allem durch das Ge-
zwitscher einer Kindergcige oder einer kleinen Flöte, die ein Ueberglücklicher auf
dem verlockenden Markt des kleinen Städtchens nach langem innern Kampfe
für wenig Pfennige erstanden hat.

Diesem Tumult schaut der Grenzlithauer vom Waldessaume.lächelnd zu
' >>d ahnt nicht, daß es seine Stammverwandten sind, deren wilde Sprünge
er verachtet.




Korrespondenzen.
Die Friedenshoffnnngen.

— Die Nachricht von der unbedingten Annahme der
östreichischen Vorschläge durch Rußland flog als überraschende Neuigkeit durch die


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[0207] jetzt noch am häufigsten — ein Tuch von feinem weißen Zeuge, am Halse verschlungen, um die in Flechten aufgenommenen Haare. So erscheinen uns die letzten Repräsentanten eines Völkerstammes, der erst jetzt, wenige Jahrzehnte vor seinem völligen Untergange, durch die Bemühungen patriotischer Forscher dem Ganzen, wozu er gehört, bekannt zu werden anfängt. ES hat etwas Versöhnendes, mitten aus der socialen Nullität dieser verschollenen Menschen ihre bescheidene Lebensbefriedigung, ihre beglückende Wohlhäbigkeit herauszuempfinden. Diese Beobachtung läßt uns das Loos eines solchen Völkerstammes weniger bedauernswert!) erscheinen, als das Loos ihrer Stamm¬ verwandten in dem sogenannten russischen Lithauen, welche auf den Witiinnen, breiten, flachen, mit brelernem Dach versehenen, elenden Fahrzeugen, oft den Niemen hinab unsern Augen vorbeifahren. Diese Armen sind Leibeigne, ä^ImKliZ, von clxillnz^, Knecht, und von ihren Herren einem jüdischen Händler auf bestimmte Zeit zur Fortschnffung von Waaren überlassen. Sind diese an ihren Bestimmungsort gelangt, so wird das elende Fahrzeug zertrümmert, das Holz verkauft, und jene Unglücklichen müssen zu Fuß den weilen Weg zu den Erdhöhlen ihrer Heimath zurück. — Sollte man glauben, daß unter diesen Halbmenschen noch der Frohsinn wohnen könne? In Königsberg und Memel, wo diese Parias in ihre graubraunen, zerlumpten, oft über den nackten Leib hängenden Kitteln, mit-groben Stohhüten, gewöhnlich barfuß, oft mit Bastschuhen in Scharen an den Stromufern umherlaufen, hat man selten Gelegenheit, sie in einem Augenblick der Ruhe zu belauschen. Widrige Zufälle aberhaben jene Fahrzeuge mitunter aus den Wellen des Niemen, unsers Grenzflusses, eine Zeitlang fest¬ gehalten, wodurch den armen Menschen auf einige Stunden Ruhe entstand. Dann sieht man sie am User um ihren großen Kessel tanzen, worin ein un¬ sägliches Gebräu, ihr unerforschliches Mittagsessen brodelte. In wilden Sprüngen, mit ausgelassenem Lachen ließen sie ihre Kittel schlottern und zap¬ pelten sie einher, in bachantische Lust versetzt durch die arbeitlose Stunde, die Wärme des Feuers, die Dämpfe des Kessels und vor allem durch das Ge- zwitscher einer Kindergcige oder einer kleinen Flöte, die ein Ueberglücklicher auf dem verlockenden Markt des kleinen Städtchens nach langem innern Kampfe für wenig Pfennige erstanden hat. Diesem Tumult schaut der Grenzlithauer vom Waldessaume.lächelnd zu ' >>d ahnt nicht, daß es seine Stammverwandten sind, deren wilde Sprünge er verachtet. Korrespondenzen. Die Friedenshoffnnngen. — Die Nachricht von der unbedingten Annahme der östreichischen Vorschläge durch Rußland flog als überraschende Neuigkeit durch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/207>, abgerufen am 23.07.2024.