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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Die nacheinander erfolgten Sammlungen lithauischer Dainos reichen hin
uns eine Vorstellung von dem erloschenen Leben des Volkes zu bilden und
unsre Anschauungen zu ergänzen, wo der Gegenwart kein tieferer Blick in die
Vergangenheit dieses Stammes vergönnt ist. Der milde Charakter des
Lithauers ließ ihn ausschließlich am Ackerbau Gefallen finden, wie denn dieser
auch heute die alleinige Beschäftigung des Nationallithaucrs ist. Die Fischerei
wird nur wenig betrieben, und d^e kräftigen Männergestalten mit blau und
rothen Kappen, die den Segen der Seen und des Hasses in die Städte Ost¬
preußens vertheilen, sind keine Lithauer, sondern dem kurischen Stamme ver¬
wandt. Selten treffen wir einen Handwerker unter den Lithauern, wol aber
wissen diese geschickt ihr Ackergerät!) eigenhändig zu verfertigen. Es ist ferner
ein Irrthum, daß die nahe an der russischen Grenze wohnenden Lithauer den
Schmuggelhandel zu ihrem Hauptgeschäft machen. Treffen einmal die Namen
berüchtigter Schmuggler, die sogar den Raub als Handwerk treiben, mit li¬
thauischen Klänge unser Ohr, wie es in den letzten Jahren nicht selten vorkam,
so dürfen wir versichert sein, daß die echte Nationalität in diesen Individuen
und in ihren Familien längst erloschen ist. Der deutsch-lithauische Grenzwvhner
freilich, besonders an dem Grenzflüßchcn Szeschupp, gibt seine Hütte und die
ihm bekannten Waldverstecke in der Umgebung zum Schlupfwinkel der jensei¬
tigen und diesseitigen Schmuggler her. Er kommt zur Nachtzeit ans User
neben seinen Kahn und lauscht auf einen Schlag ins Wasser, auf ein leises
Pfeifen und ähnliche Signale, um den Nachen zu lösen und ihn dem jenjeits
harrenden, schwerbeladener Schleicher entgegenzubringen. Ist alles in Sicher¬
heit, so erwärmt wol ein hochloderndes Feuer am Waldessaume die Glieder
des weitwandernden Schmugglers, und indem es die Ballen der eingepaschten
Waaren erhellt, verhöhnt es den russischen Grenzsoldaten, der auf dem jensei¬
tigen Ufer in seinem langen, grauen Kittel, das Gewehr geschultert, langsam
über den Sand und die Haide hinwandelt und sich bessere Wachsamkeit für
die Zukunft gelobt.

Solche Scenen' aber erlebt der Nationallithauer nicht. Friedlich und
ehrlich sammelt er die Garben seiner Mühe und bereitet sich den Genuß, die
Früchte seines Ackers nach den Städten zum Verkauf zu bringen. Dann legt
er seinen weißen Schafpelz ab und legt den Nock von "Wand" an -- so nennt
man das weißgraue, dichte Wollenzeug, das die lithauischen Frauen eigM
händig wehen. Die Frauengestalten erregten früher, als man ihre National¬
tracht noch häufiger zu Gesicht bekam, durch ihre grünen, weiß und roth ge¬
putzten Leibrocke von ganz zierlichem Schnitt unsre Aufmerksamkeit. Der Kopf
wurde gewöhnlich mit einem seidenen, gleichfalls in jenen Nationalfarben
schimmernden Tuche umwunden; oft flatterte auch -- und so finden wir eS


Die nacheinander erfolgten Sammlungen lithauischer Dainos reichen hin
uns eine Vorstellung von dem erloschenen Leben des Volkes zu bilden und
unsre Anschauungen zu ergänzen, wo der Gegenwart kein tieferer Blick in die
Vergangenheit dieses Stammes vergönnt ist. Der milde Charakter des
Lithauers ließ ihn ausschließlich am Ackerbau Gefallen finden, wie denn dieser
auch heute die alleinige Beschäftigung des Nationallithaucrs ist. Die Fischerei
wird nur wenig betrieben, und d^e kräftigen Männergestalten mit blau und
rothen Kappen, die den Segen der Seen und des Hasses in die Städte Ost¬
preußens vertheilen, sind keine Lithauer, sondern dem kurischen Stamme ver¬
wandt. Selten treffen wir einen Handwerker unter den Lithauern, wol aber
wissen diese geschickt ihr Ackergerät!) eigenhändig zu verfertigen. Es ist ferner
ein Irrthum, daß die nahe an der russischen Grenze wohnenden Lithauer den
Schmuggelhandel zu ihrem Hauptgeschäft machen. Treffen einmal die Namen
berüchtigter Schmuggler, die sogar den Raub als Handwerk treiben, mit li¬
thauischen Klänge unser Ohr, wie es in den letzten Jahren nicht selten vorkam,
so dürfen wir versichert sein, daß die echte Nationalität in diesen Individuen
und in ihren Familien längst erloschen ist. Der deutsch-lithauische Grenzwvhner
freilich, besonders an dem Grenzflüßchcn Szeschupp, gibt seine Hütte und die
ihm bekannten Waldverstecke in der Umgebung zum Schlupfwinkel der jensei¬
tigen und diesseitigen Schmuggler her. Er kommt zur Nachtzeit ans User
neben seinen Kahn und lauscht auf einen Schlag ins Wasser, auf ein leises
Pfeifen und ähnliche Signale, um den Nachen zu lösen und ihn dem jenjeits
harrenden, schwerbeladener Schleicher entgegenzubringen. Ist alles in Sicher¬
heit, so erwärmt wol ein hochloderndes Feuer am Waldessaume die Glieder
des weitwandernden Schmugglers, und indem es die Ballen der eingepaschten
Waaren erhellt, verhöhnt es den russischen Grenzsoldaten, der auf dem jensei¬
tigen Ufer in seinem langen, grauen Kittel, das Gewehr geschultert, langsam
über den Sand und die Haide hinwandelt und sich bessere Wachsamkeit für
die Zukunft gelobt.

Solche Scenen' aber erlebt der Nationallithauer nicht. Friedlich und
ehrlich sammelt er die Garben seiner Mühe und bereitet sich den Genuß, die
Früchte seines Ackers nach den Städten zum Verkauf zu bringen. Dann legt
er seinen weißen Schafpelz ab und legt den Nock von „Wand" an — so nennt
man das weißgraue, dichte Wollenzeug, das die lithauischen Frauen eigM
händig wehen. Die Frauengestalten erregten früher, als man ihre National¬
tracht noch häufiger zu Gesicht bekam, durch ihre grünen, weiß und roth ge¬
putzten Leibrocke von ganz zierlichem Schnitt unsre Aufmerksamkeit. Der Kopf
wurde gewöhnlich mit einem seidenen, gleichfalls in jenen Nationalfarben
schimmernden Tuche umwunden; oft flatterte auch — und so finden wir eS


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[0206] Die nacheinander erfolgten Sammlungen lithauischer Dainos reichen hin uns eine Vorstellung von dem erloschenen Leben des Volkes zu bilden und unsre Anschauungen zu ergänzen, wo der Gegenwart kein tieferer Blick in die Vergangenheit dieses Stammes vergönnt ist. Der milde Charakter des Lithauers ließ ihn ausschließlich am Ackerbau Gefallen finden, wie denn dieser auch heute die alleinige Beschäftigung des Nationallithaucrs ist. Die Fischerei wird nur wenig betrieben, und d^e kräftigen Männergestalten mit blau und rothen Kappen, die den Segen der Seen und des Hasses in die Städte Ost¬ preußens vertheilen, sind keine Lithauer, sondern dem kurischen Stamme ver¬ wandt. Selten treffen wir einen Handwerker unter den Lithauern, wol aber wissen diese geschickt ihr Ackergerät!) eigenhändig zu verfertigen. Es ist ferner ein Irrthum, daß die nahe an der russischen Grenze wohnenden Lithauer den Schmuggelhandel zu ihrem Hauptgeschäft machen. Treffen einmal die Namen berüchtigter Schmuggler, die sogar den Raub als Handwerk treiben, mit li¬ thauischen Klänge unser Ohr, wie es in den letzten Jahren nicht selten vorkam, so dürfen wir versichert sein, daß die echte Nationalität in diesen Individuen und in ihren Familien längst erloschen ist. Der deutsch-lithauische Grenzwvhner freilich, besonders an dem Grenzflüßchcn Szeschupp, gibt seine Hütte und die ihm bekannten Waldverstecke in der Umgebung zum Schlupfwinkel der jensei¬ tigen und diesseitigen Schmuggler her. Er kommt zur Nachtzeit ans User neben seinen Kahn und lauscht auf einen Schlag ins Wasser, auf ein leises Pfeifen und ähnliche Signale, um den Nachen zu lösen und ihn dem jenjeits harrenden, schwerbeladener Schleicher entgegenzubringen. Ist alles in Sicher¬ heit, so erwärmt wol ein hochloderndes Feuer am Waldessaume die Glieder des weitwandernden Schmugglers, und indem es die Ballen der eingepaschten Waaren erhellt, verhöhnt es den russischen Grenzsoldaten, der auf dem jensei¬ tigen Ufer in seinem langen, grauen Kittel, das Gewehr geschultert, langsam über den Sand und die Haide hinwandelt und sich bessere Wachsamkeit für die Zukunft gelobt. Solche Scenen' aber erlebt der Nationallithauer nicht. Friedlich und ehrlich sammelt er die Garben seiner Mühe und bereitet sich den Genuß, die Früchte seines Ackers nach den Städten zum Verkauf zu bringen. Dann legt er seinen weißen Schafpelz ab und legt den Nock von „Wand" an — so nennt man das weißgraue, dichte Wollenzeug, das die lithauischen Frauen eigM händig wehen. Die Frauengestalten erregten früher, als man ihre National¬ tracht noch häufiger zu Gesicht bekam, durch ihre grünen, weiß und roth ge¬ putzten Leibrocke von ganz zierlichem Schnitt unsre Aufmerksamkeit. Der Kopf wurde gewöhnlich mit einem seidenen, gleichfalls in jenen Nationalfarben schimmernden Tuche umwunden; oft flatterte auch — und so finden wir eS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/206>, abgerufen am 25.08.2024.