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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Inhalt: Es gibt deren, wenn auch wenige, mit mythologischen Beziehungen,
die dem Lithauer selbst meistens unverständlich geworden sind, und deren Deu¬
tung selbst dem gelehrten Mythologen schwer fallen dürfte. Andre Dainos
handeln von der Beschäftigung, von dem täglichen Leben des Lithauers. Hier
ist eS besonders das liebe Roß des Jünglings, der Braune, den das Lied be¬
singt, und den des Jünglings Eitelkeit mit goldenen und silbernen Sporen
antreibt und mit seidenem Zaume zügelt, wenn er zu Markte und von Markte
reitet. Sehr niedlich sind die Dainos, welche Anschauungen aus der Thier¬
welt enthalten, wie "des Sperlings Hochzeit" und die bereits durch Adalbert
von Chamisso bearbeitete Dama von dem gebratenen Sperling, bei dessen Ver-
schmausung zwei Tonnen Bier geleert werden. -- Ueberaus rührend, so enge
auch der Kreis der Vorstellungen und Bilder sein mag, sind die Klagen des
verwaisten Kindes; überaus ergötzlich die Neckereien des spröden Mädchens
gegen ihre Bewerber, welche einen Theil der wenigen heiter gestimmten Dainos
bilden. Auch der Trinklieder gibt es wenige, wenngleich, wie auch Nessel¬
mann bemerkt, "der Lithauer der Sache weniger feind ist, als gut wäre,"
so daß in einem Doppelliede sogar die Jungfrau über ein Räuschchen klagt.
Der Lithauer liebt in der That den Trunk, und nach der reichen Stadt
Tilse oder auch nur nach den nahe gelegenen kleinen Grenzstädten zieht
ihn am Markttag oft mehr das Trünkchen, das er in der Schenke
nach beendeten Verkauf zu genießen hofft, als der lockende Ertrag sei¬
ner Marktwaare. Doch findet man unter den Lithauern von echter Na¬
tionalität wol kaum einen, der sich dem Trunk bis zum Ruin von Haus
und Hof ergäbe. -- Noch zu erwähnen wären die Kriegslieder und die Lieder
mit historischen Bezügen; jene gewiß älter, ursprünglicher und volkstümlicher,
diese neuerer Zeit angehörig und auf die letzten Kriege bezüglich. Diese we¬
nigen Lieder sind die einzigen, in denen sich geringe Spuren epischer Motive
finden, die sonst den lithauischen Dainos ganz fremd sind. Einer der früheren
Sammler dieser Dichtungen, Rhcsa, hoffte durch diese leisen Spuren irre
geleitet, noch Ueberreste alter Epopöen bei den Lithauern vorzufinden; doch
ist die Bekanntschaft mit dieser Poesie jetzt schon hinreichend, um diese Hoff¬
nung .niederzuschlagen. Auch nicht das kleinste epische Bruchstück ist aufzufin¬
den. Dagegen ist diese Literatur reich an Märchen und Erzählungen, welche
wol bei jedem Volke die langen Abende am flackernden Herdfeuer verkürzen,
und eS wäre ein sehr verdienstvolles Werk, eine Sammlung dieser Märchen zu
veröffentlichen, wie solches bereis von einem preußischen Sammler versprochen
worden. -- nachzuholen wäre in unserer Erwähnung noch das Todtenlied,
das> aber nicht, wie Rhesa thut, von der Dama als Nanda (Todtenklage) abge¬
sondert werden darf, weil letztere als besondre Gattung ausschließlich dem
lettischen Stamme angehört.


Inhalt: Es gibt deren, wenn auch wenige, mit mythologischen Beziehungen,
die dem Lithauer selbst meistens unverständlich geworden sind, und deren Deu¬
tung selbst dem gelehrten Mythologen schwer fallen dürfte. Andre Dainos
handeln von der Beschäftigung, von dem täglichen Leben des Lithauers. Hier
ist eS besonders das liebe Roß des Jünglings, der Braune, den das Lied be¬
singt, und den des Jünglings Eitelkeit mit goldenen und silbernen Sporen
antreibt und mit seidenem Zaume zügelt, wenn er zu Markte und von Markte
reitet. Sehr niedlich sind die Dainos, welche Anschauungen aus der Thier¬
welt enthalten, wie „des Sperlings Hochzeit" und die bereits durch Adalbert
von Chamisso bearbeitete Dama von dem gebratenen Sperling, bei dessen Ver-
schmausung zwei Tonnen Bier geleert werden. — Ueberaus rührend, so enge
auch der Kreis der Vorstellungen und Bilder sein mag, sind die Klagen des
verwaisten Kindes; überaus ergötzlich die Neckereien des spröden Mädchens
gegen ihre Bewerber, welche einen Theil der wenigen heiter gestimmten Dainos
bilden. Auch der Trinklieder gibt es wenige, wenngleich, wie auch Nessel¬
mann bemerkt, „der Lithauer der Sache weniger feind ist, als gut wäre,"
so daß in einem Doppelliede sogar die Jungfrau über ein Räuschchen klagt.
Der Lithauer liebt in der That den Trunk, und nach der reichen Stadt
Tilse oder auch nur nach den nahe gelegenen kleinen Grenzstädten zieht
ihn am Markttag oft mehr das Trünkchen, das er in der Schenke
nach beendeten Verkauf zu genießen hofft, als der lockende Ertrag sei¬
ner Marktwaare. Doch findet man unter den Lithauern von echter Na¬
tionalität wol kaum einen, der sich dem Trunk bis zum Ruin von Haus
und Hof ergäbe. — Noch zu erwähnen wären die Kriegslieder und die Lieder
mit historischen Bezügen; jene gewiß älter, ursprünglicher und volkstümlicher,
diese neuerer Zeit angehörig und auf die letzten Kriege bezüglich. Diese we¬
nigen Lieder sind die einzigen, in denen sich geringe Spuren epischer Motive
finden, die sonst den lithauischen Dainos ganz fremd sind. Einer der früheren
Sammler dieser Dichtungen, Rhcsa, hoffte durch diese leisen Spuren irre
geleitet, noch Ueberreste alter Epopöen bei den Lithauern vorzufinden; doch
ist die Bekanntschaft mit dieser Poesie jetzt schon hinreichend, um diese Hoff¬
nung .niederzuschlagen. Auch nicht das kleinste epische Bruchstück ist aufzufin¬
den. Dagegen ist diese Literatur reich an Märchen und Erzählungen, welche
wol bei jedem Volke die langen Abende am flackernden Herdfeuer verkürzen,
und eS wäre ein sehr verdienstvolles Werk, eine Sammlung dieser Märchen zu
veröffentlichen, wie solches bereis von einem preußischen Sammler versprochen
worden. — nachzuholen wäre in unserer Erwähnung noch das Todtenlied,
das> aber nicht, wie Rhesa thut, von der Dama als Nanda (Todtenklage) abge¬
sondert werden darf, weil letztere als besondre Gattung ausschließlich dem
lettischen Stamme angehört.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/205>, abgerufen am 23.07.2024.