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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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stcifhälsige Noten gebannt zu sehen, da die Musik unsrer Tage sich diesen
frischen Klängen immermehr zu entfremden scheint und bei all ihrem Streben
uns doch nur einen falschen Begriff von derselben beibringen könnte! Mögen
sie nachhalten, so lang es möglich ist und dann verhallen, wie so manches
Schöne verhallt ist: Hat doch auch der Untergang sein Recht, wie das
Dasein.

Treten wir ein, um die Lieder zu hören, so lange sie tönen. Die Haus¬
thür besteht in einer oberen, gewöhnlich offen stehenden und einer unteren ge¬
schlossenen Hälfte, deren jede sich in ihren eignen Angeln bewegt. Leicht
öffnen wir den geschlossenen unteren Theil und treten in das enge, mit Stei¬
nen gepflasterte Norhaus. Noch tönt der Gesang, aber sobald unsre H.uib
die Krämpe des Einganges berührt, bricht er plötzlich ab und die scheue Ueber-
raschung über die fremdartigen Gestalten an der Thür nimmt alle lächelnde
SangeSlust von den Lippen der Sänger.

Einer von uns muß als Nahwohnender mit den Hausleuten bekannt
sein, um einen genügenden Vorwand des Besuchs mitzubringen; oder unsre
Vvlsicht muß uns den unabweisbaren Grund eines längern Aufenthalts in
dieser Häuslichkeit eingegeben haben; denn merkte man, daß wir nur der Be¬
obachtung halber in die Hütte dränget, so würde die Blödigkeit der Haus¬
bewohner uns nicht den geringsten Einblick in ihr Leben verstatten. Zwar
dürfen wir getrost sagen, daß wir ermüdet, daß wir hungrig und durstig sind,
der echte Luhauer -- freilich nicht der lithauisch-deutsche Bauer nimmt uns
gastfreundlich an seinen Herd und an seinen Tisch auf; aber die Familie zieht
sich in die entferntesten Winkel der Wohnung zurück und zeigt uns nichts als
die hervvrgukende" Köpfe mit den langen, schlichten, hochblonden Haaren und
den wasftlblauen Augen. So zurückhaltend ist der Lithauer von Natur und
so nu'iurauisch ist er überdies in der letzten Zeit durch die vielen Besuche ge¬
worden , die ihren Zweck der Beobachtung und Nachforschung schlecht verhehl¬
ten. Selbst wenn wir als Bekannte kommen oder uns durch-rasches Mitleben
zutraulich gezeigt haben, wird es uns schwer fallen, die Leute aus ihrer na¬
türlichen Befangenheit zu schmeicheln.

Wir ersehen hieraus, .wie schwierig es dem culturhistorischen Forscher sein
muß, über diese hinschwindenden Völkerreste thatsächliche Ergebnisse festzustellen
und welche Schwierigkeiten besonders dem Freunde ihrer Poesie in den Weg
treten, der es unternommen hat, ihre Liederschatze in den Tiefen aufzusuchen,
wo sie wie Gold im Schachte gewachsen sind. Ist eS wirklich gelungen, die
zögernden, schüchternen Liedestöne wieder hervorzulocken, so wird sich wiederum
dem aufschreibenden Herrn gegenüber eine Verwirrung einstellen, welche das
poetische Unternehmen völlig in Stocken bringt; im günstigsten Falle wird sich
der vorsingende Lithauer durch sein Zartgefühl oft veranlaßt sehen, den Tert


stcifhälsige Noten gebannt zu sehen, da die Musik unsrer Tage sich diesen
frischen Klängen immermehr zu entfremden scheint und bei all ihrem Streben
uns doch nur einen falschen Begriff von derselben beibringen könnte! Mögen
sie nachhalten, so lang es möglich ist und dann verhallen, wie so manches
Schöne verhallt ist: Hat doch auch der Untergang sein Recht, wie das
Dasein.

Treten wir ein, um die Lieder zu hören, so lange sie tönen. Die Haus¬
thür besteht in einer oberen, gewöhnlich offen stehenden und einer unteren ge¬
schlossenen Hälfte, deren jede sich in ihren eignen Angeln bewegt. Leicht
öffnen wir den geschlossenen unteren Theil und treten in das enge, mit Stei¬
nen gepflasterte Norhaus. Noch tönt der Gesang, aber sobald unsre H.uib
die Krämpe des Einganges berührt, bricht er plötzlich ab und die scheue Ueber-
raschung über die fremdartigen Gestalten an der Thür nimmt alle lächelnde
SangeSlust von den Lippen der Sänger.

Einer von uns muß als Nahwohnender mit den Hausleuten bekannt
sein, um einen genügenden Vorwand des Besuchs mitzubringen; oder unsre
Vvlsicht muß uns den unabweisbaren Grund eines längern Aufenthalts in
dieser Häuslichkeit eingegeben haben; denn merkte man, daß wir nur der Be¬
obachtung halber in die Hütte dränget, so würde die Blödigkeit der Haus¬
bewohner uns nicht den geringsten Einblick in ihr Leben verstatten. Zwar
dürfen wir getrost sagen, daß wir ermüdet, daß wir hungrig und durstig sind,
der echte Luhauer — freilich nicht der lithauisch-deutsche Bauer nimmt uns
gastfreundlich an seinen Herd und an seinen Tisch auf; aber die Familie zieht
sich in die entferntesten Winkel der Wohnung zurück und zeigt uns nichts als
die hervvrgukende» Köpfe mit den langen, schlichten, hochblonden Haaren und
den wasftlblauen Augen. So zurückhaltend ist der Lithauer von Natur und
so nu'iurauisch ist er überdies in der letzten Zeit durch die vielen Besuche ge¬
worden , die ihren Zweck der Beobachtung und Nachforschung schlecht verhehl¬
ten. Selbst wenn wir als Bekannte kommen oder uns durch-rasches Mitleben
zutraulich gezeigt haben, wird es uns schwer fallen, die Leute aus ihrer na¬
türlichen Befangenheit zu schmeicheln.

Wir ersehen hieraus, .wie schwierig es dem culturhistorischen Forscher sein
muß, über diese hinschwindenden Völkerreste thatsächliche Ergebnisse festzustellen
und welche Schwierigkeiten besonders dem Freunde ihrer Poesie in den Weg
treten, der es unternommen hat, ihre Liederschatze in den Tiefen aufzusuchen,
wo sie wie Gold im Schachte gewachsen sind. Ist eS wirklich gelungen, die
zögernden, schüchternen Liedestöne wieder hervorzulocken, so wird sich wiederum
dem aufschreibenden Herrn gegenüber eine Verwirrung einstellen, welche das
poetische Unternehmen völlig in Stocken bringt; im günstigsten Falle wird sich
der vorsingende Lithauer durch sein Zartgefühl oft veranlaßt sehen, den Tert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/202>, abgerufen am 23.07.2024.