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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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während des Gesangs abzuändern, etwa um einzelne Derbheiten zu beseitigen,
die ihn vor dem civilisirten Städter die Augen niederschlagen machen; oder wäre
es auch um seiner Laune zu genügen, welche die mannigfaltigsten Varianten
in die Texte der Dainos gebracht hat. Zu dictiren vermag der Lithauer nicht.
Sobald er versuchen wollte, eine Dama herzusprechen, so würde ihn das Ge¬
dächtniß unbedingt im Stiche lassen und er würde sich den Inhalt immer
wieder singend recapituliren müssen, um fortfahren zu können. Selbst die hin¬
geschriebene oder gedruckte Dama vermöchte der Lithauer nicht nach dem ge¬
wöhnlichen Wortaccent, sondern immer nur nach der Melodie zu lesen: so innig
sind auch hier wie bei den meisten echten Volksliedern Text und Musik inein¬
ander verschmolzen und eins geworden. --

Was war aber der Inhalt des Gesanges, den wir bei unserm Eintritt
in die Wohnung vernahmen? -- Es war ein Doppcllied, wie es der lithaui¬
schen Poesie eigenthümlich ist. Oft machen nämlich zwei Lieder ein Ganzes
aus, so daß das zweite in möglichst wortgetreuer Wiederholung den Inhalt
deS ersten gleichsam parodirt. Solche Wechselgesänge gibt es zwischen Vater
und Mutter, Schwester und Bruder, Jüngling und Mädchen. So singt z.B.
der Jüngling:

Ein Wandrer ging ich hin meine Wege, ging nicht gar weit, da traf ich
ein Mädchen.

Drauf das Mädchen: Eine Wandrerin ging ich hin meine Wege, ging
nicht gar weit, traf einen Knaben.

Dann der Knabe wieder: Mehr denn zweihundert, dreihundert Meilen
jenseit am Wald, an der flache" Wiese. -- Diese Strophe wird von dem Mäd¬
chen wörtlich wiederholt, und der Knabe fährt fort:

Es prangt mein Mädchen im Rautengarten, bei Rauten, bei Rosen, bei
bunten Nelken.

Das Mädchen wiederum: Es prangt mein Knabe im Distelgarten, bei
Disteln, Kletten, bei Ncsselstauden.

Und nun jauchz-t der Knabe abschließend auf: El rumai, rumai, du Grün
der Raute! Wie freut mich des Mädchens.so holde Schönheit! --

Und das Mädchen läßt das Liedlein neckisch verhallen: El rumai, rumai,
du spitzer Dorn du! Wie hat doch mein Knabe so rauhe Wildheit! --

Das ist der Wechselgesang des Bräutigams und der Braut. Kein mun¬
tres Lachen, kein lauter Scherz folgt diesen Liedern ; wäre auch kein Fremder
dabei, die beiden Liebenden säßen sich stumm gegenüber, das Mädchen an ihrem
Hochzeitskleid emsiger fortarbeitcnd, der Jüngling die Augen schweigend vor sich
auf den Boden geheftet und mit dem Gedanken an die Hochzeit erfüllt, die er
schon vorbereitet: denn Martinszeit ist nahe. Der Platzmeister ist bestellt, der
mit bebänderten Hut und aufgeputztem Rock dem Brautwagen voranstürmen


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während des Gesangs abzuändern, etwa um einzelne Derbheiten zu beseitigen,
die ihn vor dem civilisirten Städter die Augen niederschlagen machen; oder wäre
es auch um seiner Laune zu genügen, welche die mannigfaltigsten Varianten
in die Texte der Dainos gebracht hat. Zu dictiren vermag der Lithauer nicht.
Sobald er versuchen wollte, eine Dama herzusprechen, so würde ihn das Ge¬
dächtniß unbedingt im Stiche lassen und er würde sich den Inhalt immer
wieder singend recapituliren müssen, um fortfahren zu können. Selbst die hin¬
geschriebene oder gedruckte Dama vermöchte der Lithauer nicht nach dem ge¬
wöhnlichen Wortaccent, sondern immer nur nach der Melodie zu lesen: so innig
sind auch hier wie bei den meisten echten Volksliedern Text und Musik inein¬
ander verschmolzen und eins geworden. —

Was war aber der Inhalt des Gesanges, den wir bei unserm Eintritt
in die Wohnung vernahmen? — Es war ein Doppcllied, wie es der lithaui¬
schen Poesie eigenthümlich ist. Oft machen nämlich zwei Lieder ein Ganzes
aus, so daß das zweite in möglichst wortgetreuer Wiederholung den Inhalt
deS ersten gleichsam parodirt. Solche Wechselgesänge gibt es zwischen Vater
und Mutter, Schwester und Bruder, Jüngling und Mädchen. So singt z.B.
der Jüngling:

Ein Wandrer ging ich hin meine Wege, ging nicht gar weit, da traf ich
ein Mädchen.

Drauf das Mädchen: Eine Wandrerin ging ich hin meine Wege, ging
nicht gar weit, traf einen Knaben.

Dann der Knabe wieder: Mehr denn zweihundert, dreihundert Meilen
jenseit am Wald, an der flache» Wiese. — Diese Strophe wird von dem Mäd¬
chen wörtlich wiederholt, und der Knabe fährt fort:

Es prangt mein Mädchen im Rautengarten, bei Rauten, bei Rosen, bei
bunten Nelken.

Das Mädchen wiederum: Es prangt mein Knabe im Distelgarten, bei
Disteln, Kletten, bei Ncsselstauden.

Und nun jauchz-t der Knabe abschließend auf: El rumai, rumai, du Grün
der Raute! Wie freut mich des Mädchens.so holde Schönheit! —

Und das Mädchen läßt das Liedlein neckisch verhallen: El rumai, rumai,
du spitzer Dorn du! Wie hat doch mein Knabe so rauhe Wildheit! —

Das ist der Wechselgesang des Bräutigams und der Braut. Kein mun¬
tres Lachen, kein lauter Scherz folgt diesen Liedern ; wäre auch kein Fremder
dabei, die beiden Liebenden säßen sich stumm gegenüber, das Mädchen an ihrem
Hochzeitskleid emsiger fortarbeitcnd, der Jüngling die Augen schweigend vor sich
auf den Boden geheftet und mit dem Gedanken an die Hochzeit erfüllt, die er
schon vorbereitet: denn Martinszeit ist nahe. Der Platzmeister ist bestellt, der
mit bebänderten Hut und aufgeputztem Rock dem Brautwagen voranstürmen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/203>, abgerufen am 23.07.2024.