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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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sten Antheil an dem Gang der Begebenheiten, sondern beurtheilte sie auch mit
großem Scharfblick. Im März 1608 sagt er in einem Brief an den pfälzer
Rat!, Lingelsheim die protestantische Union und den daraus folgenden dreißig¬
jährigen .Krieg voraus: "das eine weiß ich, daß dies Jahr etwas Ungeheures
zur Welt bringen wird. Denn alles deutet auf eine große Veränderung, die
sich nicht auf einen Winkel von Europa, sondern auf ganz Europa erstrecken
wird. Ich treibe nicht selbst Politik, aber ich sehe, was vielleicht Erfahrenere
übersehen, weil sie ihre Aufmerksamkeit schon getheilt haben. Ich wünsche
nichts mehr, als daß ich mich täuschen möchte."-- Aber trotz der ehrenvollen
Stellung, trotz der segensreichen Wirksamkeit, die ihm gegönnt war, sehnte er
sich unter jenem Nebelhimmel, wo er "die Nachtigallen nie schlagen hörte, doch
immer nach dem schönen S-über zurück/' Er schreibt an Casaubonus, der von
Genf nach Montpellier gezogen war -1397: "Ich werde hier die Redeübungen
der Frösche hören, während um dich das Schlagen der Nachtigallen schmettert.
Bis jetzt haben sie sich hierher noch nicht gewagt. Schon seit drei Jahren ver¬
misse ich ihre Klagelieder. Mich treiben die Wolken zwischen meine vier Wände:
du erfreust dich mitten im Winter reiner Luft und lieblicher Fluren. Ich be¬
neide dich." ,

Zunächst schloß sich in Lerchen an Scaliger ein Kreis von jungen Hollän¬
dern an, aus dem fast alle bedeutenden Philologen der Niederlande im 4 6. Jahr¬
hundert hervorgegangen sind; unter ihnen trat Daniel Heinsius dem Lehrer
am nächsten. Auf England wirkte er weniger durch persönliche Beziehungen,
als durch seine chronologisch-historischen Werke, die dort am frühesten und
längsten Gegenstand des Studiums und auch der Bestreitung wurde"; John
Salben, der Führer im langen Parlament, war der bedeutendste der Gelehrten,
die sich an diesen Forschungen betheiligien. Weniger unmittelbar war ScaligerS
Wirksamkeit aus Dentschland, dessen Geister schon im Anfang des -17. Jahr¬
hunderts von dein Wust kirchlicher Stteitigkeiten und einer jeden frischen Trieb
erstickenden Erziehung gehemmt waren. Unter den deutschen Gelehrten, deren
Thätigkeit durch Scaligers Nath geleitet wurde, war der Heidelberger Biblio¬
thekar, Janrs Gruter, und ihn bewog und trieb Scaliger zu der ersten großen
Sanunluiig römischer Inschriften, die das Fundament min Studium der römischen
Epigiaphik legte. Bon Scaliger ging nicht nur Anregung und Plan aus,
auch ein großer und wichtiger Theil des Materials, daS Wichtigste der Be¬
arbeitung ist sein; und endlich mußte er sich noch zu der zehnmonatlichen
Sklavena>den eines Verzeichnisses versteh", ohne das die ganze Sammluug
unbenützbar gewesen wäre. Cealiger hatte eine Vorliebe für Deutschland von
seinem Vater ererbt, der am Hofe Maximilians l. erzogen, lauge im deutschen
Heere gedient halte: er hat eine Grabrede auf die -U>29 bei Wien gegen die
Türken Gefallenen verfaßt, worin er von der deutschen Sprache sagt, in dieser


sten Antheil an dem Gang der Begebenheiten, sondern beurtheilte sie auch mit
großem Scharfblick. Im März 1608 sagt er in einem Brief an den pfälzer
Rat!, Lingelsheim die protestantische Union und den daraus folgenden dreißig¬
jährigen .Krieg voraus: „das eine weiß ich, daß dies Jahr etwas Ungeheures
zur Welt bringen wird. Denn alles deutet auf eine große Veränderung, die
sich nicht auf einen Winkel von Europa, sondern auf ganz Europa erstrecken
wird. Ich treibe nicht selbst Politik, aber ich sehe, was vielleicht Erfahrenere
übersehen, weil sie ihre Aufmerksamkeit schon getheilt haben. Ich wünsche
nichts mehr, als daß ich mich täuschen möchte."— Aber trotz der ehrenvollen
Stellung, trotz der segensreichen Wirksamkeit, die ihm gegönnt war, sehnte er
sich unter jenem Nebelhimmel, wo er „die Nachtigallen nie schlagen hörte, doch
immer nach dem schönen S-über zurück/' Er schreibt an Casaubonus, der von
Genf nach Montpellier gezogen war -1397: „Ich werde hier die Redeübungen
der Frösche hören, während um dich das Schlagen der Nachtigallen schmettert.
Bis jetzt haben sie sich hierher noch nicht gewagt. Schon seit drei Jahren ver¬
misse ich ihre Klagelieder. Mich treiben die Wolken zwischen meine vier Wände:
du erfreust dich mitten im Winter reiner Luft und lieblicher Fluren. Ich be¬
neide dich." ,

Zunächst schloß sich in Lerchen an Scaliger ein Kreis von jungen Hollän¬
dern an, aus dem fast alle bedeutenden Philologen der Niederlande im 4 6. Jahr¬
hundert hervorgegangen sind; unter ihnen trat Daniel Heinsius dem Lehrer
am nächsten. Auf England wirkte er weniger durch persönliche Beziehungen,
als durch seine chronologisch-historischen Werke, die dort am frühesten und
längsten Gegenstand des Studiums und auch der Bestreitung wurde»; John
Salben, der Führer im langen Parlament, war der bedeutendste der Gelehrten,
die sich an diesen Forschungen betheiligien. Weniger unmittelbar war ScaligerS
Wirksamkeit aus Dentschland, dessen Geister schon im Anfang des -17. Jahr¬
hunderts von dein Wust kirchlicher Stteitigkeiten und einer jeden frischen Trieb
erstickenden Erziehung gehemmt waren. Unter den deutschen Gelehrten, deren
Thätigkeit durch Scaligers Nath geleitet wurde, war der Heidelberger Biblio¬
thekar, Janrs Gruter, und ihn bewog und trieb Scaliger zu der ersten großen
Sanunluiig römischer Inschriften, die das Fundament min Studium der römischen
Epigiaphik legte. Bon Scaliger ging nicht nur Anregung und Plan aus,
auch ein großer und wichtiger Theil des Materials, daS Wichtigste der Be¬
arbeitung ist sein; und endlich mußte er sich noch zu der zehnmonatlichen
Sklavena>den eines Verzeichnisses versteh», ohne das die ganze Sammluug
unbenützbar gewesen wäre. Cealiger hatte eine Vorliebe für Deutschland von
seinem Vater ererbt, der am Hofe Maximilians l. erzogen, lauge im deutschen
Heere gedient halte: er hat eine Grabrede auf die -U>29 bei Wien gegen die
Türken Gefallenen verfaßt, worin er von der deutschen Sprache sagt, in dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/140>, abgerufen am 23.07.2024.