Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.setzt, durch die harmonische Ausbildung seines Lebens die harmonische Aus¬ Im Jahr 1781 bezog er die Universität Leipzig. Kurze Zeit darauf ver¬ II *
setzt, durch die harmonische Ausbildung seines Lebens die harmonische Aus¬ Im Jahr 1781 bezog er die Universität Leipzig. Kurze Zeit darauf ver¬ II *
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100011"/> <p xml:id="ID_248" prev="#ID_247"> setzt, durch die harmonische Ausbildung seines Lebens die harmonische Aus¬<lb/> bildung seines Talents beeinträchtigt habe. Wenigstens war er ehrlich in<lb/> seinem Streben, mit sich selbst fertig zu werden. Jean Paul hat für die innere<lb/> Bildung seines Geistes und Herzens nichts gethan: alles was er trieb, hatte<lb/> die unmittelbare Bestimmung, als poetisches Material verwerthet zu werden.<lb/> So blieb er nicht blos in seinem Wissen und seiner Einsicht unfertig, sondern<lb/> er nahm auch eine unwahre Stellung zum Leben ein. Goethe hat in seinen<lb/> Dichtungen mühelos die Früchte seines reichen Lebens abgeschüttelt, Jean Paul<lb/> lebte nur, um zu dichten. In seinen Romanen ist nichts geworden, sondern<lb/> alles ist gemacht; mit künstlicher Hitze trieb er sich in beliebige Lebensverhält¬<lb/> nisse hinein, um sie nachher für den Roman gebrauchen zu können. Der Laus<lb/> seines Lebens, von der frühesten Jugend an, ist eine fortgesetzte Wiederholung<lb/> überspannter und lügenhafter Liebesversuche zum Zweck novellistischer Studien;<lb/> sein Biograph Spazier macht uns darüber erschreckende Mittheilungen. Um<lb/> Liebesbriefe schreiben zu können, wählte er sich eine beliebige Geliebte, die er<lb/> dann, wenn die Briefe wirklich geschrieben waren, wegwarf. Er war in be¬<lb/> ständigem Suchen nach Modellen für die poetisch angeschauter Charaktere, die<lb/> ihm in allgemeinen Umrissen vorschwebten. Daher die Schnelligkeit, mit der<lb/> er nach der Bekanntschaft von einer Stunde mit sovielen Personen in das<lb/> glühendste Liebes- und Freundschaftsverhältniß gerieth. Die Glut verlor sich,<lb/> wenn das Resultat der Bekanntschaft erreicht war, und nun ein neues Modell<lb/> gesucht werden mußte. Doch dauerte der Verkehr fort, und die früheren Mo¬<lb/> delle hatten einen großen Antheil an der sonderbaren Familienähnlichkeit seiner<lb/> Poetischen Charaktere.</p><lb/> <p xml:id="ID_249" next="#ID_250"> Im Jahr 1781 bezog er die Universität Leipzig. Kurze Zeit darauf ver¬<lb/> armte seine Familie, und er lernte die bittere Noth kennen. Hier nun tritt<lb/> die Stimmung hervor, die uns den Krebsschaden der Zeit versinnlicht. Jean<lb/> Paul war ein guter Mensch und eigentlich unedle Züge würde man in ihm<lb/> kaum entdecken, aber seine Sittlichkeit wurde durch die Idee untergraben, daß<lb/> er zu einer großen Laufbahn bestimmt sei und daß der Genius andre Pflichten<lb/> habe, als sonst die Sterblichen. Statt zu studiren schrieb er satirische Versuche<lb/> und lebte Romane; er gerieth in Schulden, mußte im November 1784 heim¬<lb/> lich entweichen, um seinen Gläubigern zu entgehen und kehrte nach seiner<lb/> Heimath zurück. ,.Bewundernswerth", erzählt sein Biograph, „bleibt die Cha¬<lb/> rakterstärke, mit welcher er, umgeben von Armuth, umscharrt und umtobt<lb/> von den übrigen Familienmitgliedern und von dem widrigen Geknarr einer<lb/> dürftigen Haushaltung, anhörend die täglichen Klagen über den Mangel an<lb/> jedem geringsten Bedarf, den jeder Augenblick forderte, unerschütterlich seinem<lb/> Ziele entgegenarbeitete. Es war der Zeitpunkt gekommen, wo ihn seine Be¬<lb/> strebungen nach Erreichung des Ideals, das ihm vor die Seele zu treten</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> II *</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0091]
setzt, durch die harmonische Ausbildung seines Lebens die harmonische Aus¬
bildung seines Talents beeinträchtigt habe. Wenigstens war er ehrlich in
seinem Streben, mit sich selbst fertig zu werden. Jean Paul hat für die innere
Bildung seines Geistes und Herzens nichts gethan: alles was er trieb, hatte
die unmittelbare Bestimmung, als poetisches Material verwerthet zu werden.
So blieb er nicht blos in seinem Wissen und seiner Einsicht unfertig, sondern
er nahm auch eine unwahre Stellung zum Leben ein. Goethe hat in seinen
Dichtungen mühelos die Früchte seines reichen Lebens abgeschüttelt, Jean Paul
lebte nur, um zu dichten. In seinen Romanen ist nichts geworden, sondern
alles ist gemacht; mit künstlicher Hitze trieb er sich in beliebige Lebensverhält¬
nisse hinein, um sie nachher für den Roman gebrauchen zu können. Der Laus
seines Lebens, von der frühesten Jugend an, ist eine fortgesetzte Wiederholung
überspannter und lügenhafter Liebesversuche zum Zweck novellistischer Studien;
sein Biograph Spazier macht uns darüber erschreckende Mittheilungen. Um
Liebesbriefe schreiben zu können, wählte er sich eine beliebige Geliebte, die er
dann, wenn die Briefe wirklich geschrieben waren, wegwarf. Er war in be¬
ständigem Suchen nach Modellen für die poetisch angeschauter Charaktere, die
ihm in allgemeinen Umrissen vorschwebten. Daher die Schnelligkeit, mit der
er nach der Bekanntschaft von einer Stunde mit sovielen Personen in das
glühendste Liebes- und Freundschaftsverhältniß gerieth. Die Glut verlor sich,
wenn das Resultat der Bekanntschaft erreicht war, und nun ein neues Modell
gesucht werden mußte. Doch dauerte der Verkehr fort, und die früheren Mo¬
delle hatten einen großen Antheil an der sonderbaren Familienähnlichkeit seiner
Poetischen Charaktere.
Im Jahr 1781 bezog er die Universität Leipzig. Kurze Zeit darauf ver¬
armte seine Familie, und er lernte die bittere Noth kennen. Hier nun tritt
die Stimmung hervor, die uns den Krebsschaden der Zeit versinnlicht. Jean
Paul war ein guter Mensch und eigentlich unedle Züge würde man in ihm
kaum entdecken, aber seine Sittlichkeit wurde durch die Idee untergraben, daß
er zu einer großen Laufbahn bestimmt sei und daß der Genius andre Pflichten
habe, als sonst die Sterblichen. Statt zu studiren schrieb er satirische Versuche
und lebte Romane; er gerieth in Schulden, mußte im November 1784 heim¬
lich entweichen, um seinen Gläubigern zu entgehen und kehrte nach seiner
Heimath zurück. ,.Bewundernswerth", erzählt sein Biograph, „bleibt die Cha¬
rakterstärke, mit welcher er, umgeben von Armuth, umscharrt und umtobt
von den übrigen Familienmitgliedern und von dem widrigen Geknarr einer
dürftigen Haushaltung, anhörend die täglichen Klagen über den Mangel an
jedem geringsten Bedarf, den jeder Augenblick forderte, unerschütterlich seinem
Ziele entgegenarbeitete. Es war der Zeitpunkt gekommen, wo ihn seine Be¬
strebungen nach Erreichung des Ideals, das ihm vor die Seele zu treten
II *
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