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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Wer gewohnt ist, in Goethes classischer, sonnenheller Schreibart sich das
Zeitalter abspiegeln zu sehen, wird bei Jean Paul durch die Verwilderung
der Form in Erstaunen gesetzt. Noch immer gibt es gelehrte und ungelehrte
Männer, die seinen Stil bewundern, und der Einfluß desselben macht sich in
unsrer schönen Literatur auf das verhängnißvollste geltend. Jean Paul ist
der eigentliche Vater des jungdeutschen Stils. Wie er zu diesem Stil ge¬
kommen, das läßt sich im Einzelnen genau verfolgen; wir begnügen uns mit
einigen Andeutungen.

Zunächst fehlt ihm die classische Bildung.- Seine umfassende, aber zer¬
streute Lectüre hatte ihm eine unglaubliche Menge von Kenntnissen und Ge¬
sichtspunkten zugeführt, aber ohne ihm ein Maß zu geben, diese wüste Masse
harmonisch zu gestalten. -- Durch seinen falschen Begriff von Humor ließ er
sich verleiten, überall bei Vergleichungen und Effecten stehen zu bleiben und
niemals einen Gedanken, nie eine Empfindung rein zu Ende zu führen. --
Was dem Stil allein Form gibt, der plastische Gesichtssinn, kann sich nur an
Anschauungen lebendigen Lebens oder an Meisterwerken der bildenden Kunst
entwickeln, aber alle seine Anregungen knüpften sich an gedruckte Worte. Er
hatte, nach seinem eignen Geständnis), niemals Sinn für geographische Vor¬
stellungen, nie ein klares Bild von Landkarten und Länderlagen gehabt. Noch
in späten Jahren konnte er der dresdner Galerie kein Verständniß abgewin¬
nen; die Malerei blieb ihm fremd. Die einzige Kunst, die er pflegte, war die
Musik, aber auch hier floh er die Schule, den Rhythmus und das Maß, und
legte sich aufs Phantasiren. -- So war er zu dem äußeren Hilfsmittel ge¬
nöthigt, bei seinen Studien das Gelesene, Gehörte, Erlebte, Gedachte, Erfun¬
dene festzuhalten, nebeneinander hinzulegen und aus diesen verschiedenen
Bruchstücken dann Neues gewissermaßen wie aus Karten zu mischen. In
der Furcht, irgendeinen Gedanken zu verlieren, ließ er den Gedanken in der
Seele nicht wachsen und reifen, er war froh, wenn er ihn auf dem Papier
hatte, um ihn für den Gebrauch aufzusparen. -- Wenn andere Jünglinge ihre
Stimmungen in Gedichten niederlegten, stellte er witzige Gleichnisse zusammen.
In seinen Excerpten, die er eifrig registrirte und durchlas, traten die zusammen¬
hanglosesten Bilder und Notizen aus allen Kreisen des Wissens täglich vor
seine Seele, und die Verbindung derselben ersetzte ihm die Anregung der Wirk¬
lichkeit. Wenn er einen neuen Roman begann, trug er alle Einfälle zu Sce¬
nen, zu Charakterzügen u. s. w. in "Studienbücher" ein, und rubricirte diesel¬
ben nach allen erdenkbaren Gesichtspunkten, um durch Aneinanderreihung
fertiger Gedanken neue Gedanken zu erzeugen; aus dem Vollen zu schaffen,
war ihm bei dieser sporadischen Beobachtung unmöglich.

Man hat Goethe häufig getadelt, daß er durch die Beschäftigung mit der
Naturwissenschaft und der bildenden Kunst seinen eigentlichen Beruf Hintange-


Wer gewohnt ist, in Goethes classischer, sonnenheller Schreibart sich das
Zeitalter abspiegeln zu sehen, wird bei Jean Paul durch die Verwilderung
der Form in Erstaunen gesetzt. Noch immer gibt es gelehrte und ungelehrte
Männer, die seinen Stil bewundern, und der Einfluß desselben macht sich in
unsrer schönen Literatur auf das verhängnißvollste geltend. Jean Paul ist
der eigentliche Vater des jungdeutschen Stils. Wie er zu diesem Stil ge¬
kommen, das läßt sich im Einzelnen genau verfolgen; wir begnügen uns mit
einigen Andeutungen.

Zunächst fehlt ihm die classische Bildung.- Seine umfassende, aber zer¬
streute Lectüre hatte ihm eine unglaubliche Menge von Kenntnissen und Ge¬
sichtspunkten zugeführt, aber ohne ihm ein Maß zu geben, diese wüste Masse
harmonisch zu gestalten. — Durch seinen falschen Begriff von Humor ließ er
sich verleiten, überall bei Vergleichungen und Effecten stehen zu bleiben und
niemals einen Gedanken, nie eine Empfindung rein zu Ende zu führen. —
Was dem Stil allein Form gibt, der plastische Gesichtssinn, kann sich nur an
Anschauungen lebendigen Lebens oder an Meisterwerken der bildenden Kunst
entwickeln, aber alle seine Anregungen knüpften sich an gedruckte Worte. Er
hatte, nach seinem eignen Geständnis), niemals Sinn für geographische Vor¬
stellungen, nie ein klares Bild von Landkarten und Länderlagen gehabt. Noch
in späten Jahren konnte er der dresdner Galerie kein Verständniß abgewin¬
nen; die Malerei blieb ihm fremd. Die einzige Kunst, die er pflegte, war die
Musik, aber auch hier floh er die Schule, den Rhythmus und das Maß, und
legte sich aufs Phantasiren. — So war er zu dem äußeren Hilfsmittel ge¬
nöthigt, bei seinen Studien das Gelesene, Gehörte, Erlebte, Gedachte, Erfun¬
dene festzuhalten, nebeneinander hinzulegen und aus diesen verschiedenen
Bruchstücken dann Neues gewissermaßen wie aus Karten zu mischen. In
der Furcht, irgendeinen Gedanken zu verlieren, ließ er den Gedanken in der
Seele nicht wachsen und reifen, er war froh, wenn er ihn auf dem Papier
hatte, um ihn für den Gebrauch aufzusparen. — Wenn andere Jünglinge ihre
Stimmungen in Gedichten niederlegten, stellte er witzige Gleichnisse zusammen.
In seinen Excerpten, die er eifrig registrirte und durchlas, traten die zusammen¬
hanglosesten Bilder und Notizen aus allen Kreisen des Wissens täglich vor
seine Seele, und die Verbindung derselben ersetzte ihm die Anregung der Wirk¬
lichkeit. Wenn er einen neuen Roman begann, trug er alle Einfälle zu Sce¬
nen, zu Charakterzügen u. s. w. in „Studienbücher" ein, und rubricirte diesel¬
ben nach allen erdenkbaren Gesichtspunkten, um durch Aneinanderreihung
fertiger Gedanken neue Gedanken zu erzeugen; aus dem Vollen zu schaffen,
war ihm bei dieser sporadischen Beobachtung unmöglich.

Man hat Goethe häufig getadelt, daß er durch die Beschäftigung mit der
Naturwissenschaft und der bildenden Kunst seinen eigentlichen Beruf Hintange-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/90>, abgerufen am 23.06.2024.