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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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anfing, so ganz ausfüllten, daß er wirklich die meiste Zeit nicht im min¬
desten gestört wurde durch das, waS um ihn vorging. Ja, er gewöhnte sich
auch in dieser harten Prüfungsschule, sich seine Arbeiten und seine Seelen¬
stimmung ganz von dem Unangenehmen, was in seiner Familie und um ihn
her vorging, so getrennt zu halten, daß er dem Ununterrichteten fast hartherzig,
theilnahmlos erscheinen mochte." -- Auch in seiner äußern Erscheinung trug
er das Bewußtsein seiner Genialität zur Schau: er skandalistrte seine Umge¬
bungen durch eine abenteuerliche Tracht, um ihnen den Abstand sichtbar zu
machen. Er begann seine Rundschreiben an große Männer, um in ihren
Kreis aufgenommen zu werden, vorläufig ohne Erfolg. Im Jahre 1787 wurde
seine Existenz durch eine Hofmeisterstelle sichergestellt; als diese nach zwei Jah¬
ren aufhörte, war er endlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß er, um zu
leben, sich in den Formen seinen Mitbürgern nähern müsse. Er warf seine
phantastische Tracht von sich und nahm 1790 eine Schullehrerstelle an. Ein
wichtiger Schritt, denn er lehrte ihn zum ersten Mal das wirkliche Leben
kennen. Was seine spätern Idyllen vortreffliches enthalten, ist aus dieser eig¬
nen Lebenserfahrung geschöpft: die Geschichte des Schulmeisterleins Wutz,
Quintus Firlein (1794), der Jubelsenior (1796) und Fibel (1809).
Leider hat der Dichter diese kleinen beschränkten Zustände nie mit warmem
Gefühl durchlebt, sondern nur mit dem angstvollen Streben, darüber hinaus zu
kommen: der Humor, mit dem er sie schildert, hat etwas Unbehagliches.
Während die modernen Dorfgeschichten das Stilleben der von der Cultur
noch nicht heimgesuchten Kreise mit der Andacht übersättigter Culturmenschen
aufsuchen, sehnt sich Jean Paul, selbst der strebsame Sohn des Volkes, aus
dieser Enge heraus, und seine Pietät gegen die Heimath ist reflectirt, es mischt
sich etwas von geringschätzigen Mitleid hinein. Sein Respect vor dem Natur¬
wüchsigen war angekünstelt; er zeigt uns die Naturmenschen nur in ihrer
Sonntagsstimmung, oder humoristisch verzerrt, nicht in ihrer wirklichen Arbeit;
er übertreibt auch die Freude an der Beschränktheit, indem er die ganze Existenz
seiner Naturmenschen auf das Alphabet beschränkt, das sie den Kindern bei¬
bringen.

Alle diese Versuche betrachtete der Dichter nur als Vorstudien zu einem
großen pädagogischen Roman: Die unsichtbare Loge. Die Tendenz des¬
selben ist, durch Erziehung das hervorzubringen, was der damaligen Generation
als das höchste Ziel galt, eine schöne Seele. Der Thectterdirector Goethe
führte seinen Helden der Bildung wegen unter die Schauspieler; der Schul¬
meister Jean Paul läßt seinen Helden Gustav durch einen edlen und
schwärmerischen Pietisten unter der Erde erziehen. Es wird ihm verheißen,
daß er einst das Sonnenlicht schauen solle, wenn er sterbe: die Idee des
Sterbens ist also die höchste Hoffnung seines Lebens. Aehnlich wie das In-


anfing, so ganz ausfüllten, daß er wirklich die meiste Zeit nicht im min¬
desten gestört wurde durch das, waS um ihn vorging. Ja, er gewöhnte sich
auch in dieser harten Prüfungsschule, sich seine Arbeiten und seine Seelen¬
stimmung ganz von dem Unangenehmen, was in seiner Familie und um ihn
her vorging, so getrennt zu halten, daß er dem Ununterrichteten fast hartherzig,
theilnahmlos erscheinen mochte." — Auch in seiner äußern Erscheinung trug
er das Bewußtsein seiner Genialität zur Schau: er skandalistrte seine Umge¬
bungen durch eine abenteuerliche Tracht, um ihnen den Abstand sichtbar zu
machen. Er begann seine Rundschreiben an große Männer, um in ihren
Kreis aufgenommen zu werden, vorläufig ohne Erfolg. Im Jahre 1787 wurde
seine Existenz durch eine Hofmeisterstelle sichergestellt; als diese nach zwei Jah¬
ren aufhörte, war er endlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß er, um zu
leben, sich in den Formen seinen Mitbürgern nähern müsse. Er warf seine
phantastische Tracht von sich und nahm 1790 eine Schullehrerstelle an. Ein
wichtiger Schritt, denn er lehrte ihn zum ersten Mal das wirkliche Leben
kennen. Was seine spätern Idyllen vortreffliches enthalten, ist aus dieser eig¬
nen Lebenserfahrung geschöpft: die Geschichte des Schulmeisterleins Wutz,
Quintus Firlein (1794), der Jubelsenior (1796) und Fibel (1809).
Leider hat der Dichter diese kleinen beschränkten Zustände nie mit warmem
Gefühl durchlebt, sondern nur mit dem angstvollen Streben, darüber hinaus zu
kommen: der Humor, mit dem er sie schildert, hat etwas Unbehagliches.
Während die modernen Dorfgeschichten das Stilleben der von der Cultur
noch nicht heimgesuchten Kreise mit der Andacht übersättigter Culturmenschen
aufsuchen, sehnt sich Jean Paul, selbst der strebsame Sohn des Volkes, aus
dieser Enge heraus, und seine Pietät gegen die Heimath ist reflectirt, es mischt
sich etwas von geringschätzigen Mitleid hinein. Sein Respect vor dem Natur¬
wüchsigen war angekünstelt; er zeigt uns die Naturmenschen nur in ihrer
Sonntagsstimmung, oder humoristisch verzerrt, nicht in ihrer wirklichen Arbeit;
er übertreibt auch die Freude an der Beschränktheit, indem er die ganze Existenz
seiner Naturmenschen auf das Alphabet beschränkt, das sie den Kindern bei¬
bringen.

Alle diese Versuche betrachtete der Dichter nur als Vorstudien zu einem
großen pädagogischen Roman: Die unsichtbare Loge. Die Tendenz des¬
selben ist, durch Erziehung das hervorzubringen, was der damaligen Generation
als das höchste Ziel galt, eine schöne Seele. Der Thectterdirector Goethe
führte seinen Helden der Bildung wegen unter die Schauspieler; der Schul¬
meister Jean Paul läßt seinen Helden Gustav durch einen edlen und
schwärmerischen Pietisten unter der Erde erziehen. Es wird ihm verheißen,
daß er einst das Sonnenlicht schauen solle, wenn er sterbe: die Idee des
Sterbens ist also die höchste Hoffnung seines Lebens. Aehnlich wie das In-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/92>, abgerufen am 30.06.2024.