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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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bedeutender Weise neue Anregungen zu empfangen. Ueberblicke man Cherubinis
Werke im Ganzen, so scheint es nicht, als ob seine für alle Stilarten empfäng¬
liche Natur zur Einheit durchgedrungen wäre; im Einzelnen finden wir aber
Meisterwerke, die den größten würdig zur Seite stehen. Dahin gehört z. B.
die große DinoU-Messe, dahin auch das Requiem, die dramatisch lebendigste
Composttion des alten Kirchentertes. Die einzelnen Vorstellungen, die in
demselben auftreten, die düstere Ruhe des Todes, die Schrecken des jüngsten
Gerichts, das angstvolle Flehen um Gnade, die trotzig drohende Berufung auf
das Abraham gegebene Versprechen, das lichte Gewand des heiligen Michael
u. s. w., alle diese Einzelnheiten treten, keineswegs in schroffer, abgerissener
Weise, sondern wohlthuend miteinander vermittelt, aber doch als das Haupt¬
object des musikalischen Ausdruckes hervor; man muß das-Requiem daher mit
Orchester hören, wenn man einen einigermaßen richtigen Eindruck desselben
haben will.

Bemerkenswerth ist noch, daß Cherubinis Requiem keine Solopartien, auch
nicht einen einzigen Takt Soloquartett, enthält, mit gutem Grund gewiß, weil
der Sologesang sofort subjective Vorstellungen erweckt, es ihm aber, abweichend
von Mozart, darauf ankam, die objective Seite des Requiem ausschließlich
festzuhalten.

Der Sternsche Verein erwarb sich daS Verdienst, einen Anfang mit der
großen Beethovenschen Messe zu machen. Schwer zu verantworten ist es
allerdings, daß Berlin bis jetzt diesem mächtigen Werke scheu aus dem Wege
gegangen ist. Um die Sänger nicht allzusehr zu ermüden, hatte der Dirigent
sich für jetzt auf die beiden ersten Sätze, das Kyrie und Gloria, beschränkt.
Zuversichtlich hoffen wir, das ganze Werk in kurzem zu hören, umsomehr,
als alle Sänger sich mit Begeisterung der Aufgabe unterzogen und Vorzüg¬
liches leisteten. Ob das, was in diesem Winter davon zu Gehör kam, das
Publicum grade angesprochen hat, möchten wir bezweifeln; und wer in der
Kunst nur das Ansprechende verlangt, ^wird wol darauf verzichten müssen;
imponirt hat es aber gewiß allgemein durch den wunderbaren Reichthum der
musikalischen Erfindung und die Gewalt des Ausdruckes. Ist die Messe kirch¬
lich oder weltlich-dramatisch? Ich glaube, keines von beiden. Sie legt zu
starke Accente auf die Einzelnheiten der Worte, auf die verständige, endliche
Seite des Textes, um kirchlich zu sein; sie beruht zu sehr auf polyphonen
Wirkungen, um als weltlich-dramatisch gelten zu können. Etwas schroff schienen
uns die einzelnen Glieder des Werkes herauszutreten. Ueberall auch sonst
erscheint Beethoven als einer der manu liebsten Komponisten, hart und eckig,
wie die Formen des Mannes, aber bestimmt und gewaltig. Die Werke der
weicheren Jugend mußten frühzeitig den ernsten Schöpfungen deö Mannes
weichen, und diese den titanenhaften deö Alters. Nicht als ob auch im Spa-


bedeutender Weise neue Anregungen zu empfangen. Ueberblicke man Cherubinis
Werke im Ganzen, so scheint es nicht, als ob seine für alle Stilarten empfäng¬
liche Natur zur Einheit durchgedrungen wäre; im Einzelnen finden wir aber
Meisterwerke, die den größten würdig zur Seite stehen. Dahin gehört z. B.
die große DinoU-Messe, dahin auch das Requiem, die dramatisch lebendigste
Composttion des alten Kirchentertes. Die einzelnen Vorstellungen, die in
demselben auftreten, die düstere Ruhe des Todes, die Schrecken des jüngsten
Gerichts, das angstvolle Flehen um Gnade, die trotzig drohende Berufung auf
das Abraham gegebene Versprechen, das lichte Gewand des heiligen Michael
u. s. w., alle diese Einzelnheiten treten, keineswegs in schroffer, abgerissener
Weise, sondern wohlthuend miteinander vermittelt, aber doch als das Haupt¬
object des musikalischen Ausdruckes hervor; man muß das-Requiem daher mit
Orchester hören, wenn man einen einigermaßen richtigen Eindruck desselben
haben will.

Bemerkenswerth ist noch, daß Cherubinis Requiem keine Solopartien, auch
nicht einen einzigen Takt Soloquartett, enthält, mit gutem Grund gewiß, weil
der Sologesang sofort subjective Vorstellungen erweckt, es ihm aber, abweichend
von Mozart, darauf ankam, die objective Seite des Requiem ausschließlich
festzuhalten.

Der Sternsche Verein erwarb sich daS Verdienst, einen Anfang mit der
großen Beethovenschen Messe zu machen. Schwer zu verantworten ist es
allerdings, daß Berlin bis jetzt diesem mächtigen Werke scheu aus dem Wege
gegangen ist. Um die Sänger nicht allzusehr zu ermüden, hatte der Dirigent
sich für jetzt auf die beiden ersten Sätze, das Kyrie und Gloria, beschränkt.
Zuversichtlich hoffen wir, das ganze Werk in kurzem zu hören, umsomehr,
als alle Sänger sich mit Begeisterung der Aufgabe unterzogen und Vorzüg¬
liches leisteten. Ob das, was in diesem Winter davon zu Gehör kam, das
Publicum grade angesprochen hat, möchten wir bezweifeln; und wer in der
Kunst nur das Ansprechende verlangt, ^wird wol darauf verzichten müssen;
imponirt hat es aber gewiß allgemein durch den wunderbaren Reichthum der
musikalischen Erfindung und die Gewalt des Ausdruckes. Ist die Messe kirch¬
lich oder weltlich-dramatisch? Ich glaube, keines von beiden. Sie legt zu
starke Accente auf die Einzelnheiten der Worte, auf die verständige, endliche
Seite des Textes, um kirchlich zu sein; sie beruht zu sehr auf polyphonen
Wirkungen, um als weltlich-dramatisch gelten zu können. Etwas schroff schienen
uns die einzelnen Glieder des Werkes herauszutreten. Ueberall auch sonst
erscheint Beethoven als einer der manu liebsten Komponisten, hart und eckig,
wie die Formen des Mannes, aber bestimmt und gewaltig. Die Werke der
weicheren Jugend mußten frühzeitig den ernsten Schöpfungen deö Mannes
weichen, und diese den titanenhaften deö Alters. Nicht als ob auch im Spa-


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[0504] bedeutender Weise neue Anregungen zu empfangen. Ueberblicke man Cherubinis Werke im Ganzen, so scheint es nicht, als ob seine für alle Stilarten empfäng¬ liche Natur zur Einheit durchgedrungen wäre; im Einzelnen finden wir aber Meisterwerke, die den größten würdig zur Seite stehen. Dahin gehört z. B. die große DinoU-Messe, dahin auch das Requiem, die dramatisch lebendigste Composttion des alten Kirchentertes. Die einzelnen Vorstellungen, die in demselben auftreten, die düstere Ruhe des Todes, die Schrecken des jüngsten Gerichts, das angstvolle Flehen um Gnade, die trotzig drohende Berufung auf das Abraham gegebene Versprechen, das lichte Gewand des heiligen Michael u. s. w., alle diese Einzelnheiten treten, keineswegs in schroffer, abgerissener Weise, sondern wohlthuend miteinander vermittelt, aber doch als das Haupt¬ object des musikalischen Ausdruckes hervor; man muß das-Requiem daher mit Orchester hören, wenn man einen einigermaßen richtigen Eindruck desselben haben will. Bemerkenswerth ist noch, daß Cherubinis Requiem keine Solopartien, auch nicht einen einzigen Takt Soloquartett, enthält, mit gutem Grund gewiß, weil der Sologesang sofort subjective Vorstellungen erweckt, es ihm aber, abweichend von Mozart, darauf ankam, die objective Seite des Requiem ausschließlich festzuhalten. Der Sternsche Verein erwarb sich daS Verdienst, einen Anfang mit der großen Beethovenschen Messe zu machen. Schwer zu verantworten ist es allerdings, daß Berlin bis jetzt diesem mächtigen Werke scheu aus dem Wege gegangen ist. Um die Sänger nicht allzusehr zu ermüden, hatte der Dirigent sich für jetzt auf die beiden ersten Sätze, das Kyrie und Gloria, beschränkt. Zuversichtlich hoffen wir, das ganze Werk in kurzem zu hören, umsomehr, als alle Sänger sich mit Begeisterung der Aufgabe unterzogen und Vorzüg¬ liches leisteten. Ob das, was in diesem Winter davon zu Gehör kam, das Publicum grade angesprochen hat, möchten wir bezweifeln; und wer in der Kunst nur das Ansprechende verlangt, ^wird wol darauf verzichten müssen; imponirt hat es aber gewiß allgemein durch den wunderbaren Reichthum der musikalischen Erfindung und die Gewalt des Ausdruckes. Ist die Messe kirch¬ lich oder weltlich-dramatisch? Ich glaube, keines von beiden. Sie legt zu starke Accente auf die Einzelnheiten der Worte, auf die verständige, endliche Seite des Textes, um kirchlich zu sein; sie beruht zu sehr auf polyphonen Wirkungen, um als weltlich-dramatisch gelten zu können. Etwas schroff schienen uns die einzelnen Glieder des Werkes herauszutreten. Ueberall auch sonst erscheint Beethoven als einer der manu liebsten Komponisten, hart und eckig, wie die Formen des Mannes, aber bestimmt und gewaltig. Die Werke der weicheren Jugend mußten frühzeitig den ernsten Schöpfungen deö Mannes weichen, und diese den titanenhaften deö Alters. Nicht als ob auch im Spa-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/504>, abgerufen am 22.07.2024.