Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

echten Alter nie Nachklänge der weichsten Gefühle auftauchten; welch ein
Schmelz herrscht nicht in dem Adagio der neunten Synfonie! Aber im
Ganzen läßt sich doch dieser Stufengang bei Beethoven verfolgen, und in
keinem seiner Werke vielleicht tritt die Richtung zum Vereinzeln, zu äußerster
Bestimmtheit und Schärfe des Ausdrucks mit allen ihren schroffen und jähen
Uebergängen so offenbar hervor, als grade in der Messe.

Mehre Oratorien oder wenigstens der Gattung verwandte Werke kamen
als vollständige Neuigkeiten in diesem Winter zur Aufführung. Zuerst ein
Oratorium "Luther" von Julius Schneider in Berlin, mit einem Text, der
heutzutage nicht mehr hätte gedruckt werden sollen. Auch die Composition
konnte sich keine besondere Theilnahme verschaffen. Ein Eklekticismus, der
gar zu oft ins Profane überging; weichliche Sentimentalität, namentlich in
der Behandlung der Person Luthers; eine gewisse musikalische Routine, äußerer
Fluß, das sind fast die einzigen Vorzüge, die man dem Werke nachrühmen
kann. Schneider hat manche beliebte Compositionen kleineren Genres geschrie¬
ben, namentlich solche, die gesellige Unterhaltung zum Zweck haben; aber an
einen Stoff von dieser Größe, gegen dessen musikalische Behandlungöfähigkeit
sich außerdem manche Bedenken vorbringen lassen, hätte er sich nicht wagen
sollen. Eine höhere Stufe nimmt der David von Reisstger ein, indem wir
eine gewisse Einheit des Stils, Klarheit und Natürlichkeit des Ausdrucks und
der Form, ein sicheres Bewußtsein des eignen Willens wohl anerkennen.
Unsere musikalischen Aristokraten haben das Werk allzu übel behandelt, mit
dem etwas leidenschaftlichen Hasse, der seit einiger Zeit gegen alle sogenannte
Kapellmeistermusik Mode wird. Aber verschweigen können wir es ebensowenig,
daß der musikalische Inhalt des Oratoriums klein und unbedeutend war; ja
selbst die Würde des Kirchenstils, die man ohne originelle Schöpferkraft theil¬
weise nachahmen kann, zeigte sich nicht festgeholten. Es ging alles zu sehr
ins Ebene, Gefällige, leicht Faßliche; der Ausdruck erhob sich selten über eine
gewisse verständige Nichtigkeit; ein beschränkter Umfang der Phantasie, für den
wir durch die gute Ordnung, die darin herrscht, nur einigermaßen schadlos
gehalten werden. -- Der oben erwähnte Psalm von Blumner war nachklingend,
aber etwas zu weich. Das Oratorium von Rungcnhagen "der Tod Abels"
zu einem Text von Metastasto, das der bescheidene Componist schon vor dreißig
Jahren vollendet hatte und, obschon es sein Lieblingswerk war, doch niemals
zur Aufführung brachte, zeichnet sich vor allem durch eine gewisse Reinheit des
Stils, und eine durchweg edle Haltung aus. Aber mit dem Stoffe selbst und
mit der Bearbeitung desselben durch Metastasto entstehen, der heutigen Gewohn¬
heit gegenüber, unüberwindbare Schwierigkeiten. Theils ermüdet uns die
Übergroße Ausdehnung der Recitative; theils läßt uns der Inhalt selbst etwas
kalt, dem es nicht nur an lebendiger äußerer Handlung, sondern auch in den


Grenzboten. III. 1866. 63

echten Alter nie Nachklänge der weichsten Gefühle auftauchten; welch ein
Schmelz herrscht nicht in dem Adagio der neunten Synfonie! Aber im
Ganzen läßt sich doch dieser Stufengang bei Beethoven verfolgen, und in
keinem seiner Werke vielleicht tritt die Richtung zum Vereinzeln, zu äußerster
Bestimmtheit und Schärfe des Ausdrucks mit allen ihren schroffen und jähen
Uebergängen so offenbar hervor, als grade in der Messe.

Mehre Oratorien oder wenigstens der Gattung verwandte Werke kamen
als vollständige Neuigkeiten in diesem Winter zur Aufführung. Zuerst ein
Oratorium „Luther" von Julius Schneider in Berlin, mit einem Text, der
heutzutage nicht mehr hätte gedruckt werden sollen. Auch die Composition
konnte sich keine besondere Theilnahme verschaffen. Ein Eklekticismus, der
gar zu oft ins Profane überging; weichliche Sentimentalität, namentlich in
der Behandlung der Person Luthers; eine gewisse musikalische Routine, äußerer
Fluß, das sind fast die einzigen Vorzüge, die man dem Werke nachrühmen
kann. Schneider hat manche beliebte Compositionen kleineren Genres geschrie¬
ben, namentlich solche, die gesellige Unterhaltung zum Zweck haben; aber an
einen Stoff von dieser Größe, gegen dessen musikalische Behandlungöfähigkeit
sich außerdem manche Bedenken vorbringen lassen, hätte er sich nicht wagen
sollen. Eine höhere Stufe nimmt der David von Reisstger ein, indem wir
eine gewisse Einheit des Stils, Klarheit und Natürlichkeit des Ausdrucks und
der Form, ein sicheres Bewußtsein des eignen Willens wohl anerkennen.
Unsere musikalischen Aristokraten haben das Werk allzu übel behandelt, mit
dem etwas leidenschaftlichen Hasse, der seit einiger Zeit gegen alle sogenannte
Kapellmeistermusik Mode wird. Aber verschweigen können wir es ebensowenig,
daß der musikalische Inhalt des Oratoriums klein und unbedeutend war; ja
selbst die Würde des Kirchenstils, die man ohne originelle Schöpferkraft theil¬
weise nachahmen kann, zeigte sich nicht festgeholten. Es ging alles zu sehr
ins Ebene, Gefällige, leicht Faßliche; der Ausdruck erhob sich selten über eine
gewisse verständige Nichtigkeit; ein beschränkter Umfang der Phantasie, für den
wir durch die gute Ordnung, die darin herrscht, nur einigermaßen schadlos
gehalten werden. — Der oben erwähnte Psalm von Blumner war nachklingend,
aber etwas zu weich. Das Oratorium von Rungcnhagen „der Tod Abels"
zu einem Text von Metastasto, das der bescheidene Componist schon vor dreißig
Jahren vollendet hatte und, obschon es sein Lieblingswerk war, doch niemals
zur Aufführung brachte, zeichnet sich vor allem durch eine gewisse Reinheit des
Stils, und eine durchweg edle Haltung aus. Aber mit dem Stoffe selbst und
mit der Bearbeitung desselben durch Metastasto entstehen, der heutigen Gewohn¬
heit gegenüber, unüberwindbare Schwierigkeiten. Theils ermüdet uns die
Übergroße Ausdehnung der Recitative; theils läßt uns der Inhalt selbst etwas
kalt, dem es nicht nur an lebendiger äußerer Handlung, sondern auch in den


Grenzboten. III. 1866. 63
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100425"/>
            <p xml:id="ID_1451" prev="#ID_1450"> echten Alter nie Nachklänge der weichsten Gefühle auftauchten; welch ein<lb/>
Schmelz herrscht nicht in dem Adagio der neunten Synfonie! Aber im<lb/>
Ganzen läßt sich doch dieser Stufengang bei Beethoven verfolgen, und in<lb/>
keinem seiner Werke vielleicht tritt die Richtung zum Vereinzeln, zu äußerster<lb/>
Bestimmtheit und Schärfe des Ausdrucks mit allen ihren schroffen und jähen<lb/>
Uebergängen so offenbar hervor, als grade in der Messe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1452" next="#ID_1453"> Mehre Oratorien oder wenigstens der Gattung verwandte Werke kamen<lb/>
als vollständige Neuigkeiten in diesem Winter zur Aufführung. Zuerst ein<lb/>
Oratorium &#x201E;Luther" von Julius Schneider in Berlin, mit einem Text, der<lb/>
heutzutage nicht mehr hätte gedruckt werden sollen. Auch die Composition<lb/>
konnte sich keine besondere Theilnahme verschaffen. Ein Eklekticismus, der<lb/>
gar zu oft ins Profane überging; weichliche Sentimentalität, namentlich in<lb/>
der Behandlung der Person Luthers; eine gewisse musikalische Routine, äußerer<lb/>
Fluß, das sind fast die einzigen Vorzüge, die man dem Werke nachrühmen<lb/>
kann. Schneider hat manche beliebte Compositionen kleineren Genres geschrie¬<lb/>
ben, namentlich solche, die gesellige Unterhaltung zum Zweck haben; aber an<lb/>
einen Stoff von dieser Größe, gegen dessen musikalische Behandlungöfähigkeit<lb/>
sich außerdem manche Bedenken vorbringen lassen, hätte er sich nicht wagen<lb/>
sollen. Eine höhere Stufe nimmt der David von Reisstger ein, indem wir<lb/>
eine gewisse Einheit des Stils, Klarheit und Natürlichkeit des Ausdrucks und<lb/>
der Form, ein sicheres Bewußtsein des eignen Willens wohl anerkennen.<lb/>
Unsere musikalischen Aristokraten haben das Werk allzu übel behandelt, mit<lb/>
dem etwas leidenschaftlichen Hasse, der seit einiger Zeit gegen alle sogenannte<lb/>
Kapellmeistermusik Mode wird. Aber verschweigen können wir es ebensowenig,<lb/>
daß der musikalische Inhalt des Oratoriums klein und unbedeutend war; ja<lb/>
selbst die Würde des Kirchenstils, die man ohne originelle Schöpferkraft theil¬<lb/>
weise nachahmen kann, zeigte sich nicht festgeholten. Es ging alles zu sehr<lb/>
ins Ebene, Gefällige, leicht Faßliche; der Ausdruck erhob sich selten über eine<lb/>
gewisse verständige Nichtigkeit; ein beschränkter Umfang der Phantasie, für den<lb/>
wir durch die gute Ordnung, die darin herrscht, nur einigermaßen schadlos<lb/>
gehalten werden. &#x2014; Der oben erwähnte Psalm von Blumner war nachklingend,<lb/>
aber etwas zu weich. Das Oratorium von Rungcnhagen &#x201E;der Tod Abels"<lb/>
zu einem Text von Metastasto, das der bescheidene Componist schon vor dreißig<lb/>
Jahren vollendet hatte und, obschon es sein Lieblingswerk war, doch niemals<lb/>
zur Aufführung brachte, zeichnet sich vor allem durch eine gewisse Reinheit des<lb/>
Stils, und eine durchweg edle Haltung aus. Aber mit dem Stoffe selbst und<lb/>
mit der Bearbeitung desselben durch Metastasto entstehen, der heutigen Gewohn¬<lb/>
heit gegenüber, unüberwindbare Schwierigkeiten. Theils ermüdet uns die<lb/>
Übergroße Ausdehnung der Recitative; theils läßt uns der Inhalt selbst etwas<lb/>
kalt, dem es nicht nur an lebendiger äußerer Handlung, sondern auch in den</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. III. 1866. 63</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0505] echten Alter nie Nachklänge der weichsten Gefühle auftauchten; welch ein Schmelz herrscht nicht in dem Adagio der neunten Synfonie! Aber im Ganzen läßt sich doch dieser Stufengang bei Beethoven verfolgen, und in keinem seiner Werke vielleicht tritt die Richtung zum Vereinzeln, zu äußerster Bestimmtheit und Schärfe des Ausdrucks mit allen ihren schroffen und jähen Uebergängen so offenbar hervor, als grade in der Messe. Mehre Oratorien oder wenigstens der Gattung verwandte Werke kamen als vollständige Neuigkeiten in diesem Winter zur Aufführung. Zuerst ein Oratorium „Luther" von Julius Schneider in Berlin, mit einem Text, der heutzutage nicht mehr hätte gedruckt werden sollen. Auch die Composition konnte sich keine besondere Theilnahme verschaffen. Ein Eklekticismus, der gar zu oft ins Profane überging; weichliche Sentimentalität, namentlich in der Behandlung der Person Luthers; eine gewisse musikalische Routine, äußerer Fluß, das sind fast die einzigen Vorzüge, die man dem Werke nachrühmen kann. Schneider hat manche beliebte Compositionen kleineren Genres geschrie¬ ben, namentlich solche, die gesellige Unterhaltung zum Zweck haben; aber an einen Stoff von dieser Größe, gegen dessen musikalische Behandlungöfähigkeit sich außerdem manche Bedenken vorbringen lassen, hätte er sich nicht wagen sollen. Eine höhere Stufe nimmt der David von Reisstger ein, indem wir eine gewisse Einheit des Stils, Klarheit und Natürlichkeit des Ausdrucks und der Form, ein sicheres Bewußtsein des eignen Willens wohl anerkennen. Unsere musikalischen Aristokraten haben das Werk allzu übel behandelt, mit dem etwas leidenschaftlichen Hasse, der seit einiger Zeit gegen alle sogenannte Kapellmeistermusik Mode wird. Aber verschweigen können wir es ebensowenig, daß der musikalische Inhalt des Oratoriums klein und unbedeutend war; ja selbst die Würde des Kirchenstils, die man ohne originelle Schöpferkraft theil¬ weise nachahmen kann, zeigte sich nicht festgeholten. Es ging alles zu sehr ins Ebene, Gefällige, leicht Faßliche; der Ausdruck erhob sich selten über eine gewisse verständige Nichtigkeit; ein beschränkter Umfang der Phantasie, für den wir durch die gute Ordnung, die darin herrscht, nur einigermaßen schadlos gehalten werden. — Der oben erwähnte Psalm von Blumner war nachklingend, aber etwas zu weich. Das Oratorium von Rungcnhagen „der Tod Abels" zu einem Text von Metastasto, das der bescheidene Componist schon vor dreißig Jahren vollendet hatte und, obschon es sein Lieblingswerk war, doch niemals zur Aufführung brachte, zeichnet sich vor allem durch eine gewisse Reinheit des Stils, und eine durchweg edle Haltung aus. Aber mit dem Stoffe selbst und mit der Bearbeitung desselben durch Metastasto entstehen, der heutigen Gewohn¬ heit gegenüber, unüberwindbare Schwierigkeiten. Theils ermüdet uns die Übergroße Ausdehnung der Recitative; theils läßt uns der Inhalt selbst etwas kalt, dem es nicht nur an lebendiger äußerer Handlung, sondern auch in den Grenzboten. III. 1866. 63

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/505
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/505>, abgerufen am 22.07.2024.