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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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auf das frische Grab, eine Thräne und ein Seufzer für die Todten und --
neuer Tanz. Doch wie und wann die lustigen, anmuthigen Wirbel dieses gott¬
losen Weltkindes sich auch drehen, es ist nicht bloßer Leichtsinn, bloße Ge¬
nußsucht -- es steckt etwas in diesen frivolen Sprüngen, was sie erzeugt, er¬
klärt und entschuldigt: das stets gegenwärtige Bewußtsein der unglaublichen
Beweglichkeit und Elasticität der Nation und ihrer Schicksale. Sieger dreht
sich und Besiegter, heute mir, morgen dir, denkt jeder bei sich und daß er mit
einem Schlag vom liederlichen Tanz zum frischen Kampf überzugehen im
Stande wäre, darin liegt, was uns mit ihnen versöhnen darf. Ich bleibe
dabei lei I'on clausa-, -- seit jenem 15. Juli mischt sich hier Groß und Klein
in ewigem Wirbel, alles berührt, alles begegnet sich und wo immer man
tanze, tanzt man doch stets allen Traditionen und Vorurtheilen auf dem
Kopfe herum. Wenn ich bei einem solchen Balle an den großen Platz vor
dem Hotel de Ville komme, so wundere ich mich stets über die zahllose Masse,
welche vor den Thoren wogt, um der Einfahrt der Geladenen gaffend beizu¬
wohnen--ich wundere mich, daß nicht alle diese Grisetten , Lehrlinge, Meister
und Meisterinnen jeglicher seine Karte zum Balle hat und ich mochte sie fragen,
warum habt ihr euch denn nicht einladen lassen? denn in dieser, seit 7V Jahren
beständig umgerüttelten Gesellschaft sind nie mehr als zwei Schritt von dem
Mächtigen bis zum Kleinsten und wer hier nicht zu Hof, zum Präfecten und
zu allen großen Staatsceremonien kommt, der will eben nicht. O großmäch¬
tige Königin Victoria, du hast schwerlich je in so legitimer Gesellschaft
getanzt als heute, beinahe lauter ehrliche Bürgerssöhne und Töchter und un¬
endlich wenig hoffähige Abkömmlinge von den Bastarden Heinrichs VI. und
Ludwigs XIV.!

Ich beschreibe die Einzelnheiten des Balls nicht, denn die genaueste Vor¬
stellung der Einzelnheiten gibt umsoweniger eine Idee von der Gesammtwirkung
dieses Eindrucks, als es grade das Charakteristische dieses Sinnentaumelappa¬
rats ist, weder Auge, noch Ohr, noch Verstand zum genauen Unterscheiden
der auf sie einströmenden Erscheinungen kommen zu lassen. -- Man tritt ein und
-- Leser, bist du je in Dover oder sonst einem großen Hafen ans Land ge¬
stiegen, wo hundert zudringliche Flegel zugleich dich anfallen, der deinen Reise¬
sack, jener deine Schachtel, ein andrer deinen Koffer an sich reißen will, Lohn-
bediente dich in deutscher, französischer und englischer Sprache anfallen, wo
du gleichzeitig merkst, daß du deinen Regenschirm zurückgelassen hast und im
selben Augenblick, wo du deinen Paß abgeben sollst, keine Münze findest, um
deinen Kutscher zu bezahlen -- warst du je in dieser verzweifelten Lage, so
übersetze dir diese tausend gleichzeitigen Aufforderungen und Anreden ins An¬
genehme, Herrliche, Blendende und du weißt etwa, wie es dem zu Muthe ist,
der in die Vorhalle dieses Ballsaals eintritt. Diese Gesammtwirkung einer


auf das frische Grab, eine Thräne und ein Seufzer für die Todten und —
neuer Tanz. Doch wie und wann die lustigen, anmuthigen Wirbel dieses gott¬
losen Weltkindes sich auch drehen, es ist nicht bloßer Leichtsinn, bloße Ge¬
nußsucht — es steckt etwas in diesen frivolen Sprüngen, was sie erzeugt, er¬
klärt und entschuldigt: das stets gegenwärtige Bewußtsein der unglaublichen
Beweglichkeit und Elasticität der Nation und ihrer Schicksale. Sieger dreht
sich und Besiegter, heute mir, morgen dir, denkt jeder bei sich und daß er mit
einem Schlag vom liederlichen Tanz zum frischen Kampf überzugehen im
Stande wäre, darin liegt, was uns mit ihnen versöhnen darf. Ich bleibe
dabei lei I'on clausa-, — seit jenem 15. Juli mischt sich hier Groß und Klein
in ewigem Wirbel, alles berührt, alles begegnet sich und wo immer man
tanze, tanzt man doch stets allen Traditionen und Vorurtheilen auf dem
Kopfe herum. Wenn ich bei einem solchen Balle an den großen Platz vor
dem Hotel de Ville komme, so wundere ich mich stets über die zahllose Masse,
welche vor den Thoren wogt, um der Einfahrt der Geladenen gaffend beizu¬
wohnen—ich wundere mich, daß nicht alle diese Grisetten , Lehrlinge, Meister
und Meisterinnen jeglicher seine Karte zum Balle hat und ich mochte sie fragen,
warum habt ihr euch denn nicht einladen lassen? denn in dieser, seit 7V Jahren
beständig umgerüttelten Gesellschaft sind nie mehr als zwei Schritt von dem
Mächtigen bis zum Kleinsten und wer hier nicht zu Hof, zum Präfecten und
zu allen großen Staatsceremonien kommt, der will eben nicht. O großmäch¬
tige Königin Victoria, du hast schwerlich je in so legitimer Gesellschaft
getanzt als heute, beinahe lauter ehrliche Bürgerssöhne und Töchter und un¬
endlich wenig hoffähige Abkömmlinge von den Bastarden Heinrichs VI. und
Ludwigs XIV.!

Ich beschreibe die Einzelnheiten des Balls nicht, denn die genaueste Vor¬
stellung der Einzelnheiten gibt umsoweniger eine Idee von der Gesammtwirkung
dieses Eindrucks, als es grade das Charakteristische dieses Sinnentaumelappa¬
rats ist, weder Auge, noch Ohr, noch Verstand zum genauen Unterscheiden
der auf sie einströmenden Erscheinungen kommen zu lassen. — Man tritt ein und
— Leser, bist du je in Dover oder sonst einem großen Hafen ans Land ge¬
stiegen, wo hundert zudringliche Flegel zugleich dich anfallen, der deinen Reise¬
sack, jener deine Schachtel, ein andrer deinen Koffer an sich reißen will, Lohn-
bediente dich in deutscher, französischer und englischer Sprache anfallen, wo
du gleichzeitig merkst, daß du deinen Regenschirm zurückgelassen hast und im
selben Augenblick, wo du deinen Paß abgeben sollst, keine Münze findest, um
deinen Kutscher zu bezahlen — warst du je in dieser verzweifelten Lage, so
übersetze dir diese tausend gleichzeitigen Aufforderungen und Anreden ins An¬
genehme, Herrliche, Blendende und du weißt etwa, wie es dem zu Muthe ist,
der in die Vorhalle dieses Ballsaals eintritt. Diese Gesammtwirkung einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/440>, abgerufen am 22.12.2024.