Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

haftigkeit seiner Phantasie so groß, daß alle mit fortgerissen werden. "Das
Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen ansteckt." An sich
ist dieses Motiv nicht undramatisch, denn in dem, was man doppeltes Gesicht
oder Ahnung nennt, liegt bei einer Natur, die mehr in der Phantasie und
im grübelnden Gefühl lebt, als in der praktischen Welt, keine poetische Un¬
wahrheit und wenn der Philosoph dieses irrationelle Moment auflösen müßte,
so ist es dem Dichter erlaubt, es in seiner unaufgelösten Gestalt anzuwenden,
wie ja Shakespeare so häufig psychologische Thatsachen in sinnliche Erschei¬
nungen und Wunder krystallisirt. Allein Tieck hat es dadurch verdorben,
daß er die Natur Simons aus der dramatischen Färbung des Stücks heraus¬
treten läßt. Simon ist melancholisch geworden durch Vorausnahme des trans¬
scendentalen Idealismus; er reflectirt über Ich und Nicht-Ich, Sein und Nicht¬
sein, Raum und Zeit u. s. w. auf dieselbe Weise, wie Aristophanes seinen So-
krates reflectiren läßt, d. h. durchaus possenhaft, mit unzweckmäßiger Anwendung
der Speculation auf endliche, dem gemeinen Leben angehörige Gegenstände. So
macht er auf uns den Eindruck einer parodischen, dem Lustspiel angehörigen
Figur und wir gerathen außer Fassung, als aus ihm plötzlich ein tragisches
Motiv genommen werden soll. Der Dichter hat geflissentlich seinen eignen
Zwecken zuwider gearbeitet. -- Dieser Mangel an dramatischer Einsicht zeigt sich
ebenso in der Nachlässigkeit der Composilioii, in der Einmischung von Episoden,
die nicht nur aus dem Zusammenhang des Stücks heraustreten, sondern die
auch an sich sehr langweilig sind. Außerdem sind die Shakespeareschen Clowns
in einer noch übertriebenen Gestalt gleichfalls eingeführt: Figuren, die sich bei
Shakespeare aus den Gewohnheiten und dem Geschmack der Zeit erklären,
die sich aber auf unserm Theater nur durch glänzendere Eingebungen recht¬
fertigen können, als es hier der Fall ist, und die man hier um so eher ent¬
behren könnte, da sich die Mehrzahl der ernsthaften Personen gleichfalls
närrisch benimmt.

Tieck hat im spätern Alter versichert, er habe seine Stücke für die Auffüh¬
rung berechnet; aber das schreibt sich erst aus einer Zeit her, wo man den Be¬
griff eines mit den Vorstellungen des Volks zusammenhängenden Theaters voll¬
ständig verloren hatte, wo der Faust, der Götz, der Sommernachtstraum, die
Antigone und Medea, die Caldervnschen Stücke, mit oder ohne Musik, neben
Joao dem brasilianischen Affen und dem Hund des Aubry ungenirt über die
deutsche Bühne gingen, wo durch die Oper die Einbildungskrast auf das
gründlichste demoralisirt war und wo Goethe sich im Gespräch mit Eckermann
behaglich über die Vorstellung ausließ, den zweiten Theil seines Faust auf
dem Theater zu sehen und sich namentlich auf die schöne Gruppe freute, deren
Mittelpunkt der Elephant, auf dem Plutus reitet, bilden sollte. Bei einer
solchen Stimmung der Phantasie war es wol begreiflich, daß man der Ab-


haftigkeit seiner Phantasie so groß, daß alle mit fortgerissen werden. „Das
Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen ansteckt." An sich
ist dieses Motiv nicht undramatisch, denn in dem, was man doppeltes Gesicht
oder Ahnung nennt, liegt bei einer Natur, die mehr in der Phantasie und
im grübelnden Gefühl lebt, als in der praktischen Welt, keine poetische Un¬
wahrheit und wenn der Philosoph dieses irrationelle Moment auflösen müßte,
so ist es dem Dichter erlaubt, es in seiner unaufgelösten Gestalt anzuwenden,
wie ja Shakespeare so häufig psychologische Thatsachen in sinnliche Erschei¬
nungen und Wunder krystallisirt. Allein Tieck hat es dadurch verdorben,
daß er die Natur Simons aus der dramatischen Färbung des Stücks heraus¬
treten läßt. Simon ist melancholisch geworden durch Vorausnahme des trans¬
scendentalen Idealismus; er reflectirt über Ich und Nicht-Ich, Sein und Nicht¬
sein, Raum und Zeit u. s. w. auf dieselbe Weise, wie Aristophanes seinen So-
krates reflectiren läßt, d. h. durchaus possenhaft, mit unzweckmäßiger Anwendung
der Speculation auf endliche, dem gemeinen Leben angehörige Gegenstände. So
macht er auf uns den Eindruck einer parodischen, dem Lustspiel angehörigen
Figur und wir gerathen außer Fassung, als aus ihm plötzlich ein tragisches
Motiv genommen werden soll. Der Dichter hat geflissentlich seinen eignen
Zwecken zuwider gearbeitet. — Dieser Mangel an dramatischer Einsicht zeigt sich
ebenso in der Nachlässigkeit der Composilioii, in der Einmischung von Episoden,
die nicht nur aus dem Zusammenhang des Stücks heraustreten, sondern die
auch an sich sehr langweilig sind. Außerdem sind die Shakespeareschen Clowns
in einer noch übertriebenen Gestalt gleichfalls eingeführt: Figuren, die sich bei
Shakespeare aus den Gewohnheiten und dem Geschmack der Zeit erklären,
die sich aber auf unserm Theater nur durch glänzendere Eingebungen recht¬
fertigen können, als es hier der Fall ist, und die man hier um so eher ent¬
behren könnte, da sich die Mehrzahl der ernsthaften Personen gleichfalls
närrisch benimmt.

Tieck hat im spätern Alter versichert, er habe seine Stücke für die Auffüh¬
rung berechnet; aber das schreibt sich erst aus einer Zeit her, wo man den Be¬
griff eines mit den Vorstellungen des Volks zusammenhängenden Theaters voll¬
ständig verloren hatte, wo der Faust, der Götz, der Sommernachtstraum, die
Antigone und Medea, die Caldervnschen Stücke, mit oder ohne Musik, neben
Joao dem brasilianischen Affen und dem Hund des Aubry ungenirt über die
deutsche Bühne gingen, wo durch die Oper die Einbildungskrast auf das
gründlichste demoralisirt war und wo Goethe sich im Gespräch mit Eckermann
behaglich über die Vorstellung ausließ, den zweiten Theil seines Faust auf
dem Theater zu sehen und sich namentlich auf die schöne Gruppe freute, deren
Mittelpunkt der Elephant, auf dem Plutus reitet, bilden sollte. Bei einer
solchen Stimmung der Phantasie war es wol begreiflich, daß man der Ab-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100263"/>
          <p xml:id="ID_1004" prev="#ID_1003"> haftigkeit seiner Phantasie so groß, daß alle mit fortgerissen werden. &#x201E;Das<lb/>
Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen ansteckt." An sich<lb/>
ist dieses Motiv nicht undramatisch, denn in dem, was man doppeltes Gesicht<lb/>
oder Ahnung nennt, liegt bei einer Natur, die mehr in der Phantasie und<lb/>
im grübelnden Gefühl lebt, als in der praktischen Welt, keine poetische Un¬<lb/>
wahrheit und wenn der Philosoph dieses irrationelle Moment auflösen müßte,<lb/>
so ist es dem Dichter erlaubt, es in seiner unaufgelösten Gestalt anzuwenden,<lb/>
wie ja Shakespeare so häufig psychologische Thatsachen in sinnliche Erschei¬<lb/>
nungen und Wunder krystallisirt. Allein Tieck hat es dadurch verdorben,<lb/>
daß er die Natur Simons aus der dramatischen Färbung des Stücks heraus¬<lb/>
treten läßt. Simon ist melancholisch geworden durch Vorausnahme des trans¬<lb/>
scendentalen Idealismus; er reflectirt über Ich und Nicht-Ich, Sein und Nicht¬<lb/>
sein, Raum und Zeit u. s. w. auf dieselbe Weise, wie Aristophanes seinen So-<lb/>
krates reflectiren läßt, d. h. durchaus possenhaft, mit unzweckmäßiger Anwendung<lb/>
der Speculation auf endliche, dem gemeinen Leben angehörige Gegenstände. So<lb/>
macht er auf uns den Eindruck einer parodischen, dem Lustspiel angehörigen<lb/>
Figur und wir gerathen außer Fassung, als aus ihm plötzlich ein tragisches<lb/>
Motiv genommen werden soll. Der Dichter hat geflissentlich seinen eignen<lb/>
Zwecken zuwider gearbeitet. &#x2014; Dieser Mangel an dramatischer Einsicht zeigt sich<lb/>
ebenso in der Nachlässigkeit der Composilioii, in der Einmischung von Episoden,<lb/>
die nicht nur aus dem Zusammenhang des Stücks heraustreten, sondern die<lb/>
auch an sich sehr langweilig sind. Außerdem sind die Shakespeareschen Clowns<lb/>
in einer noch übertriebenen Gestalt gleichfalls eingeführt: Figuren, die sich bei<lb/>
Shakespeare aus den Gewohnheiten und dem Geschmack der Zeit erklären,<lb/>
die sich aber auf unserm Theater nur durch glänzendere Eingebungen recht¬<lb/>
fertigen können, als es hier der Fall ist, und die man hier um so eher ent¬<lb/>
behren könnte, da sich die Mehrzahl der ernsthaften Personen gleichfalls<lb/>
närrisch benimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1005" next="#ID_1006"> Tieck hat im spätern Alter versichert, er habe seine Stücke für die Auffüh¬<lb/>
rung berechnet; aber das schreibt sich erst aus einer Zeit her, wo man den Be¬<lb/>
griff eines mit den Vorstellungen des Volks zusammenhängenden Theaters voll¬<lb/>
ständig verloren hatte, wo der Faust, der Götz, der Sommernachtstraum, die<lb/>
Antigone und Medea, die Caldervnschen Stücke, mit oder ohne Musik, neben<lb/>
Joao dem brasilianischen Affen und dem Hund des Aubry ungenirt über die<lb/>
deutsche Bühne gingen, wo durch die Oper die Einbildungskrast auf das<lb/>
gründlichste demoralisirt war und wo Goethe sich im Gespräch mit Eckermann<lb/>
behaglich über die Vorstellung ausließ, den zweiten Theil seines Faust auf<lb/>
dem Theater zu sehen und sich namentlich auf die schöne Gruppe freute, deren<lb/>
Mittelpunkt der Elephant, auf dem Plutus reitet, bilden sollte. Bei einer<lb/>
solchen Stimmung der Phantasie war es wol begreiflich, daß man der Ab-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] haftigkeit seiner Phantasie so groß, daß alle mit fortgerissen werden. „Das Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen ansteckt." An sich ist dieses Motiv nicht undramatisch, denn in dem, was man doppeltes Gesicht oder Ahnung nennt, liegt bei einer Natur, die mehr in der Phantasie und im grübelnden Gefühl lebt, als in der praktischen Welt, keine poetische Un¬ wahrheit und wenn der Philosoph dieses irrationelle Moment auflösen müßte, so ist es dem Dichter erlaubt, es in seiner unaufgelösten Gestalt anzuwenden, wie ja Shakespeare so häufig psychologische Thatsachen in sinnliche Erschei¬ nungen und Wunder krystallisirt. Allein Tieck hat es dadurch verdorben, daß er die Natur Simons aus der dramatischen Färbung des Stücks heraus¬ treten läßt. Simon ist melancholisch geworden durch Vorausnahme des trans¬ scendentalen Idealismus; er reflectirt über Ich und Nicht-Ich, Sein und Nicht¬ sein, Raum und Zeit u. s. w. auf dieselbe Weise, wie Aristophanes seinen So- krates reflectiren läßt, d. h. durchaus possenhaft, mit unzweckmäßiger Anwendung der Speculation auf endliche, dem gemeinen Leben angehörige Gegenstände. So macht er auf uns den Eindruck einer parodischen, dem Lustspiel angehörigen Figur und wir gerathen außer Fassung, als aus ihm plötzlich ein tragisches Motiv genommen werden soll. Der Dichter hat geflissentlich seinen eignen Zwecken zuwider gearbeitet. — Dieser Mangel an dramatischer Einsicht zeigt sich ebenso in der Nachlässigkeit der Composilioii, in der Einmischung von Episoden, die nicht nur aus dem Zusammenhang des Stücks heraustreten, sondern die auch an sich sehr langweilig sind. Außerdem sind die Shakespeareschen Clowns in einer noch übertriebenen Gestalt gleichfalls eingeführt: Figuren, die sich bei Shakespeare aus den Gewohnheiten und dem Geschmack der Zeit erklären, die sich aber auf unserm Theater nur durch glänzendere Eingebungen recht¬ fertigen können, als es hier der Fall ist, und die man hier um so eher ent¬ behren könnte, da sich die Mehrzahl der ernsthaften Personen gleichfalls närrisch benimmt. Tieck hat im spätern Alter versichert, er habe seine Stücke für die Auffüh¬ rung berechnet; aber das schreibt sich erst aus einer Zeit her, wo man den Be¬ griff eines mit den Vorstellungen des Volks zusammenhängenden Theaters voll¬ ständig verloren hatte, wo der Faust, der Götz, der Sommernachtstraum, die Antigone und Medea, die Caldervnschen Stücke, mit oder ohne Musik, neben Joao dem brasilianischen Affen und dem Hund des Aubry ungenirt über die deutsche Bühne gingen, wo durch die Oper die Einbildungskrast auf das gründlichste demoralisirt war und wo Goethe sich im Gespräch mit Eckermann behaglich über die Vorstellung ausließ, den zweiten Theil seines Faust auf dem Theater zu sehen und sich namentlich auf die schöne Gruppe freute, deren Mittelpunkt der Elephant, auf dem Plutus reitet, bilden sollte. Bei einer solchen Stimmung der Phantasie war es wol begreiflich, daß man der Ab-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/343>, abgerufen am 22.12.2024.