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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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In unsern Tagen ist die Ehrfurcht vor dem instinctartigen Schaffen des Volks
und vor den Ueberlieferungen desselben in Sagen und Märchen so groß, daß
man sich leicht einbildet, der erste, der diese Neigung angeregt hat, müsse auch
von demselben Gefühl durchdrungen gewesen sein; umsomehr, da Tieck es sich
von Zeit zu Zeit angelegen sein ließ, die berliner Aufklärer durch seine Be¬
wunderung dieser alten einfältigen Geschichten zu ärgern. Allein diese Be¬
wunderung war nichts weniger als naiv. Er betrachtete die Märchen und
Sagen als den rohen Stoff, aus dem die freie dichterische Phantasie erst etwas
zu machen habe. A. W. Schlegel hat in seiner Recension der "Altdeutschen
Wälder" 1813 rücksichtslos die ganze Verachtung ausgesprochen, welche der
Verkündiger der absoluten Kunst vor diesen Gestalten des Instincts empfinden
mußte; und wenn Tieck als geborner Naturalist in seiner Geringschätzung auch
nicht soweit ging, so zeigt doch seine Bearbeitung selbst, wiewenig er sich
aus der Ueberlieferung machte. Er steht seinen Stoffen im Grunde ebenso
ironisch gegenüber, als seine Vorgänger Musäus und Wieland: aber freilich
unterscheidet er sich sehr vortheilhaft von ihnen durch die bewundernswürdige
Feinheit und Sauberkeit seiner Arbeit und durch die unnachahmliche Anmuth
und Noblesse seines Stils.

Der Reiz jedes Märchens, des deutschen, des persischen, des slawischen,
liegt in der kindlich einfachen, unbefangenen Auffassung der Menschen und
Situationen, die dem Zusammenhange der Sittlichkeit so fern steht, daß wir sie
mit innerer Freiheit genießen. Im Märchen gibt es kein Naturgesetz, keine
verständig überlegte, sittliche Ordnung: jede Beziehung auf das eine oder die
andere, also jedes ängstliche Motiviren stört unsre Unbefangenheit. Die
Charaktere müssen von der einfachsten Anlage sein, jede Verwicklung, jeder Zug,
reißt uns aus der lustigen Idealwelt heraus.

An einem echten Volksmärchen können wir in jedem Lebensalter einen
heitern Antheil nehmen, denn die ursprüngliche Natur findet in jeder Seele
eine entsprechende Stimme. Aber solche Märchen macht man nicht, sie müssen
werden. Im Volk gehen sie von Mund zu Munde, die alten Götter und
Dämonen werden mit jedem Geschlecht behaglicher und greifbarer, der Zusam¬
menhang immer unbefangener. Will aber der Kunstdichter einen natürlichen
-- d. h. ihm angekünstelten -- Ton anschlagen, so fühlt jedes Kind die
Unwahrheit heraus; und will er vom Standpunkte seiner Bildung den naiven
Stoff -- der auf das Nichtwissen der Widersprüche berechnet ist -- ins all¬
gemein Menschliche übersetzen, und doch das Wunderbare beibehalten, so wird
dieses zum Unnatürlichen, aus dem Zufall wird Fatalismus, aus den Phantasie¬
bildern entstehen Gestalten des Grauens, die Einfalt geht in Aberglauben, die
Unbefangenheit in Ziererei über. Man sucht das Wunderbare an die bekann¬
ten Gesetze der Physik, das Abenteuerliche an die tiefen Gesetze der Seele an-


In unsern Tagen ist die Ehrfurcht vor dem instinctartigen Schaffen des Volks
und vor den Ueberlieferungen desselben in Sagen und Märchen so groß, daß
man sich leicht einbildet, der erste, der diese Neigung angeregt hat, müsse auch
von demselben Gefühl durchdrungen gewesen sein; umsomehr, da Tieck es sich
von Zeit zu Zeit angelegen sein ließ, die berliner Aufklärer durch seine Be¬
wunderung dieser alten einfältigen Geschichten zu ärgern. Allein diese Be¬
wunderung war nichts weniger als naiv. Er betrachtete die Märchen und
Sagen als den rohen Stoff, aus dem die freie dichterische Phantasie erst etwas
zu machen habe. A. W. Schlegel hat in seiner Recension der „Altdeutschen
Wälder" 1813 rücksichtslos die ganze Verachtung ausgesprochen, welche der
Verkündiger der absoluten Kunst vor diesen Gestalten des Instincts empfinden
mußte; und wenn Tieck als geborner Naturalist in seiner Geringschätzung auch
nicht soweit ging, so zeigt doch seine Bearbeitung selbst, wiewenig er sich
aus der Ueberlieferung machte. Er steht seinen Stoffen im Grunde ebenso
ironisch gegenüber, als seine Vorgänger Musäus und Wieland: aber freilich
unterscheidet er sich sehr vortheilhaft von ihnen durch die bewundernswürdige
Feinheit und Sauberkeit seiner Arbeit und durch die unnachahmliche Anmuth
und Noblesse seines Stils.

Der Reiz jedes Märchens, des deutschen, des persischen, des slawischen,
liegt in der kindlich einfachen, unbefangenen Auffassung der Menschen und
Situationen, die dem Zusammenhange der Sittlichkeit so fern steht, daß wir sie
mit innerer Freiheit genießen. Im Märchen gibt es kein Naturgesetz, keine
verständig überlegte, sittliche Ordnung: jede Beziehung auf das eine oder die
andere, also jedes ängstliche Motiviren stört unsre Unbefangenheit. Die
Charaktere müssen von der einfachsten Anlage sein, jede Verwicklung, jeder Zug,
reißt uns aus der lustigen Idealwelt heraus.

An einem echten Volksmärchen können wir in jedem Lebensalter einen
heitern Antheil nehmen, denn die ursprüngliche Natur findet in jeder Seele
eine entsprechende Stimme. Aber solche Märchen macht man nicht, sie müssen
werden. Im Volk gehen sie von Mund zu Munde, die alten Götter und
Dämonen werden mit jedem Geschlecht behaglicher und greifbarer, der Zusam¬
menhang immer unbefangener. Will aber der Kunstdichter einen natürlichen
— d. h. ihm angekünstelten — Ton anschlagen, so fühlt jedes Kind die
Unwahrheit heraus; und will er vom Standpunkte seiner Bildung den naiven
Stoff — der auf das Nichtwissen der Widersprüche berechnet ist — ins all¬
gemein Menschliche übersetzen, und doch das Wunderbare beibehalten, so wird
dieses zum Unnatürlichen, aus dem Zufall wird Fatalismus, aus den Phantasie¬
bildern entstehen Gestalten des Grauens, die Einfalt geht in Aberglauben, die
Unbefangenheit in Ziererei über. Man sucht das Wunderbare an die bekann¬
ten Gesetze der Physik, das Abenteuerliche an die tiefen Gesetze der Seele an-


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[0336] In unsern Tagen ist die Ehrfurcht vor dem instinctartigen Schaffen des Volks und vor den Ueberlieferungen desselben in Sagen und Märchen so groß, daß man sich leicht einbildet, der erste, der diese Neigung angeregt hat, müsse auch von demselben Gefühl durchdrungen gewesen sein; umsomehr, da Tieck es sich von Zeit zu Zeit angelegen sein ließ, die berliner Aufklärer durch seine Be¬ wunderung dieser alten einfältigen Geschichten zu ärgern. Allein diese Be¬ wunderung war nichts weniger als naiv. Er betrachtete die Märchen und Sagen als den rohen Stoff, aus dem die freie dichterische Phantasie erst etwas zu machen habe. A. W. Schlegel hat in seiner Recension der „Altdeutschen Wälder" 1813 rücksichtslos die ganze Verachtung ausgesprochen, welche der Verkündiger der absoluten Kunst vor diesen Gestalten des Instincts empfinden mußte; und wenn Tieck als geborner Naturalist in seiner Geringschätzung auch nicht soweit ging, so zeigt doch seine Bearbeitung selbst, wiewenig er sich aus der Ueberlieferung machte. Er steht seinen Stoffen im Grunde ebenso ironisch gegenüber, als seine Vorgänger Musäus und Wieland: aber freilich unterscheidet er sich sehr vortheilhaft von ihnen durch die bewundernswürdige Feinheit und Sauberkeit seiner Arbeit und durch die unnachahmliche Anmuth und Noblesse seines Stils. Der Reiz jedes Märchens, des deutschen, des persischen, des slawischen, liegt in der kindlich einfachen, unbefangenen Auffassung der Menschen und Situationen, die dem Zusammenhange der Sittlichkeit so fern steht, daß wir sie mit innerer Freiheit genießen. Im Märchen gibt es kein Naturgesetz, keine verständig überlegte, sittliche Ordnung: jede Beziehung auf das eine oder die andere, also jedes ängstliche Motiviren stört unsre Unbefangenheit. Die Charaktere müssen von der einfachsten Anlage sein, jede Verwicklung, jeder Zug, reißt uns aus der lustigen Idealwelt heraus. An einem echten Volksmärchen können wir in jedem Lebensalter einen heitern Antheil nehmen, denn die ursprüngliche Natur findet in jeder Seele eine entsprechende Stimme. Aber solche Märchen macht man nicht, sie müssen werden. Im Volk gehen sie von Mund zu Munde, die alten Götter und Dämonen werden mit jedem Geschlecht behaglicher und greifbarer, der Zusam¬ menhang immer unbefangener. Will aber der Kunstdichter einen natürlichen — d. h. ihm angekünstelten — Ton anschlagen, so fühlt jedes Kind die Unwahrheit heraus; und will er vom Standpunkte seiner Bildung den naiven Stoff — der auf das Nichtwissen der Widersprüche berechnet ist — ins all¬ gemein Menschliche übersetzen, und doch das Wunderbare beibehalten, so wird dieses zum Unnatürlichen, aus dem Zufall wird Fatalismus, aus den Phantasie¬ bildern entstehen Gestalten des Grauens, die Einfalt geht in Aberglauben, die Unbefangenheit in Ziererei über. Man sucht das Wunderbare an die bekann¬ ten Gesetze der Physik, das Abenteuerliche an die tiefen Gesetze der Seele an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/336>, abgerufen am 22.12.2024.