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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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durchschauen und nachzuahmen. Sie besteht dann, daß man Ideen, die nur
durch ein bestimmtes Mittelglied einen relativen Zusammenhang haben, in
einen absoluten Zusammenhang setzt und durch die Auslassung jenes Mittel¬
gliedes den Leser darüber täuscht.

Die romantische Schule hat alles aufgeboten, ihren einzigen Dichter dem
deutschen Volk als den Schöpfer einer neuen Kunst zu empfehlen. Er ist
schon damals nur in erclusiven Kreisen gelesen, aber seine Größe wurde in
sämmtlichen Journalen mit so bestimmter Ueberzeugung gefeiert, daß das Publi-
cum endlich daran glaubte, schon um nicht den Verdacht der Geschmacklosigkeit
auf sich zu ziehen. Zuletzt wurde diese Begeisterung selbst Goethe unbequem.
Der alte Herr fand es doch unschicklich, daß man ihm Tieck gradezu als Eben¬
bürtigen an die Seite stellen wollte.

Während nun die Schlegel mit der ganzen Welt in einem fortdauernden er¬
bitterten Kriege lebten, hat Tieck trotz seiner zuweilen recht bittern Ausfälle nie
einen ernstlichen Feind gehabt. Jene hatten in ihren Tendenzen wie in ihren
Sympathien etwas Bösartiges; Tieck dagegen war eine harmlose Natur. Trotz der
Paradorien in seinen Ansichten, die zum Theil der Schule angehörten, zeigte er, wo
er sich zur Unbefangenheit zwingen konnte, einen feinen gebildeten Jnstinct, zu¬
weilen einen glänzenden Scharfsinn. Er war ebensowenig fähig, große Principien
ernst und energisch zu verfolgen, als bestimmte Gestalten mit fester Hand zu zeichnen;
aber er hatte eine sinnige Empfänglichkeit für kleine Schönheiten, für unmerk-
liche Züge, und übte damit bei dem vorherrschend männlichen Charakter unsrer
Literatur eine zweckmäßige Gegenwirkung aus. In den neuen Stoffen, die
er aus den fremden Nationen dem deutschen Volk mittheilte, verfuhr er wenigstens
im Ganzen mit Takt: er gab Calderon, Dante und die Mystiker, deren Specu-
latives Wesen unsrem Nationalinstinct zu fern lag, bald auf und hielt sich an
die uns zunächst stehenden Dichter, Shakespeare und Cervantes. Was aber
vielleicht sein Hauptverdienst ist, er hat theils durch sein persönliches Verhält¬
niß, theis durch den edlen, feinen und gebildeten Stil seiner Schriften, wesent¬
lich zur Förderung jenes guten Verhältnisses zwischen Literatur und Gesellschaft
beigetragen, das unsre classischen Dichter zuerst begründet haben, das aber
jeden Augenblick in Gefahr stand, der neuen Verwilderung zum Opfer zu
fallen. Die eigne Poesie der Schule schließt sich also an diesen Dichter a",
und wir können seine Werke als den Leitfaden für die poetische Entwicklung
der Romantik betrachten.

Durch die Volksmärchen von Peter Leberecht wurde Tieck zuerst
in die romantische Schule eingeführt; sie verdienen auch in der Literaturgeschichte
den vornehmsten Platz. Die Zahl derselben ist sehr groß; seit 1793 erschien
alljährlich eine neue Lieferung, doch genügt es, sich an diejenigen zu halten,
welche der Dichter selbst 1812 im "Phantasus" gesammelt hat.


durchschauen und nachzuahmen. Sie besteht dann, daß man Ideen, die nur
durch ein bestimmtes Mittelglied einen relativen Zusammenhang haben, in
einen absoluten Zusammenhang setzt und durch die Auslassung jenes Mittel¬
gliedes den Leser darüber täuscht.

Die romantische Schule hat alles aufgeboten, ihren einzigen Dichter dem
deutschen Volk als den Schöpfer einer neuen Kunst zu empfehlen. Er ist
schon damals nur in erclusiven Kreisen gelesen, aber seine Größe wurde in
sämmtlichen Journalen mit so bestimmter Ueberzeugung gefeiert, daß das Publi-
cum endlich daran glaubte, schon um nicht den Verdacht der Geschmacklosigkeit
auf sich zu ziehen. Zuletzt wurde diese Begeisterung selbst Goethe unbequem.
Der alte Herr fand es doch unschicklich, daß man ihm Tieck gradezu als Eben¬
bürtigen an die Seite stellen wollte.

Während nun die Schlegel mit der ganzen Welt in einem fortdauernden er¬
bitterten Kriege lebten, hat Tieck trotz seiner zuweilen recht bittern Ausfälle nie
einen ernstlichen Feind gehabt. Jene hatten in ihren Tendenzen wie in ihren
Sympathien etwas Bösartiges; Tieck dagegen war eine harmlose Natur. Trotz der
Paradorien in seinen Ansichten, die zum Theil der Schule angehörten, zeigte er, wo
er sich zur Unbefangenheit zwingen konnte, einen feinen gebildeten Jnstinct, zu¬
weilen einen glänzenden Scharfsinn. Er war ebensowenig fähig, große Principien
ernst und energisch zu verfolgen, als bestimmte Gestalten mit fester Hand zu zeichnen;
aber er hatte eine sinnige Empfänglichkeit für kleine Schönheiten, für unmerk-
liche Züge, und übte damit bei dem vorherrschend männlichen Charakter unsrer
Literatur eine zweckmäßige Gegenwirkung aus. In den neuen Stoffen, die
er aus den fremden Nationen dem deutschen Volk mittheilte, verfuhr er wenigstens
im Ganzen mit Takt: er gab Calderon, Dante und die Mystiker, deren Specu-
latives Wesen unsrem Nationalinstinct zu fern lag, bald auf und hielt sich an
die uns zunächst stehenden Dichter, Shakespeare und Cervantes. Was aber
vielleicht sein Hauptverdienst ist, er hat theils durch sein persönliches Verhält¬
niß, theis durch den edlen, feinen und gebildeten Stil seiner Schriften, wesent¬
lich zur Förderung jenes guten Verhältnisses zwischen Literatur und Gesellschaft
beigetragen, das unsre classischen Dichter zuerst begründet haben, das aber
jeden Augenblick in Gefahr stand, der neuen Verwilderung zum Opfer zu
fallen. Die eigne Poesie der Schule schließt sich also an diesen Dichter a»,
und wir können seine Werke als den Leitfaden für die poetische Entwicklung
der Romantik betrachten.

Durch die Volksmärchen von Peter Leberecht wurde Tieck zuerst
in die romantische Schule eingeführt; sie verdienen auch in der Literaturgeschichte
den vornehmsten Platz. Die Zahl derselben ist sehr groß; seit 1793 erschien
alljährlich eine neue Lieferung, doch genügt es, sich an diejenigen zu halten,
welche der Dichter selbst 1812 im „Phantasus" gesammelt hat.


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[0335] durchschauen und nachzuahmen. Sie besteht dann, daß man Ideen, die nur durch ein bestimmtes Mittelglied einen relativen Zusammenhang haben, in einen absoluten Zusammenhang setzt und durch die Auslassung jenes Mittel¬ gliedes den Leser darüber täuscht. Die romantische Schule hat alles aufgeboten, ihren einzigen Dichter dem deutschen Volk als den Schöpfer einer neuen Kunst zu empfehlen. Er ist schon damals nur in erclusiven Kreisen gelesen, aber seine Größe wurde in sämmtlichen Journalen mit so bestimmter Ueberzeugung gefeiert, daß das Publi- cum endlich daran glaubte, schon um nicht den Verdacht der Geschmacklosigkeit auf sich zu ziehen. Zuletzt wurde diese Begeisterung selbst Goethe unbequem. Der alte Herr fand es doch unschicklich, daß man ihm Tieck gradezu als Eben¬ bürtigen an die Seite stellen wollte. Während nun die Schlegel mit der ganzen Welt in einem fortdauernden er¬ bitterten Kriege lebten, hat Tieck trotz seiner zuweilen recht bittern Ausfälle nie einen ernstlichen Feind gehabt. Jene hatten in ihren Tendenzen wie in ihren Sympathien etwas Bösartiges; Tieck dagegen war eine harmlose Natur. Trotz der Paradorien in seinen Ansichten, die zum Theil der Schule angehörten, zeigte er, wo er sich zur Unbefangenheit zwingen konnte, einen feinen gebildeten Jnstinct, zu¬ weilen einen glänzenden Scharfsinn. Er war ebensowenig fähig, große Principien ernst und energisch zu verfolgen, als bestimmte Gestalten mit fester Hand zu zeichnen; aber er hatte eine sinnige Empfänglichkeit für kleine Schönheiten, für unmerk- liche Züge, und übte damit bei dem vorherrschend männlichen Charakter unsrer Literatur eine zweckmäßige Gegenwirkung aus. In den neuen Stoffen, die er aus den fremden Nationen dem deutschen Volk mittheilte, verfuhr er wenigstens im Ganzen mit Takt: er gab Calderon, Dante und die Mystiker, deren Specu- latives Wesen unsrem Nationalinstinct zu fern lag, bald auf und hielt sich an die uns zunächst stehenden Dichter, Shakespeare und Cervantes. Was aber vielleicht sein Hauptverdienst ist, er hat theils durch sein persönliches Verhält¬ niß, theis durch den edlen, feinen und gebildeten Stil seiner Schriften, wesent¬ lich zur Förderung jenes guten Verhältnisses zwischen Literatur und Gesellschaft beigetragen, das unsre classischen Dichter zuerst begründet haben, das aber jeden Augenblick in Gefahr stand, der neuen Verwilderung zum Opfer zu fallen. Die eigne Poesie der Schule schließt sich also an diesen Dichter a», und wir können seine Werke als den Leitfaden für die poetische Entwicklung der Romantik betrachten. Durch die Volksmärchen von Peter Leberecht wurde Tieck zuerst in die romantische Schule eingeführt; sie verdienen auch in der Literaturgeschichte den vornehmsten Platz. Die Zahl derselben ist sehr groß; seit 1793 erschien alljährlich eine neue Lieferung, doch genügt es, sich an diejenigen zu halten, welche der Dichter selbst 1812 im „Phantasus" gesammelt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/335>, abgerufen am 22.07.2024.