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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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geschwommen. Wir befinden uns im scholastischen Zeitalter des zwölften, Jahr¬
hunderts. Abälard und Heloise, Melusine und ihr Page Alienor erscheinen zu
beiden Seiten der Scene. Hören Sie, was der französische Dichter aus dem
poetischen Romane des französischen Mittelalters macht. Abälard fühlte nicht
während der philosophischen Studien mit der gelehrten Heloise zum ersten Male
die Gewalt der Liebe -- es war nicht die Leidenschaft eines naiven Gemüthes.
Abälard wird als Nouv dargestellt, der in seiner Jugendzeit mit der fabelhaf¬
ten Melusine von Lusignan ein Liebesverhältniß und einen Sohn hatte. Die¬
ser Sohn, der als Page in den Netzen der schlauen Melusine za,ppelt, tritt
der Anklägerin gegen Abälard als Zeuge zur Seite. Melusine gibt nämlich
Heloise beim Rector Fulbert an und Gontran, der Bruder Heloisens, fordert
Alienor, den Pagen, zum Zweikampfe heraus. Alienor fällt. Somit hat
Abälard gewissermaßen ein Verhältniß mit der Schwester seiner Stieftochter.
Fulbert bringt den Proceß vor den heiligen Bernhard und dieser ercommuni-
cirt Abälard am Throne Ludwig VI., welcher die Fahnen der in den Orient
ziehenden Kreuzfahrer weiht. Dieser Abälardact schlägt der Geschichte auss
unverschämteste ins Gesicht -- er ist auch zu lang -- es mußte schon etwas
abgeschnitten werden. Abälard zieht mit seinen Schülern davon. Am An-
fange des Actes wird das berühmte Eselsfest dargestellt, jenes posstrliche Fast¬
nachtsspiel, das zotenreißende Mönche in dieser Zeit des Glaubens in der
Kirche aufführten. Man führte dabei bekanntlich den Esel vors Gesangpult
und sang dabei eine feierliche Messe ab, in welche das versammelte Volk den
Ruf des Esels nachahmend drein schrie. Der Esel wurde dann zum Doctor
gemacht. Paul Meurice läßt die Scene auf der Straße spielen und macht
ein Narrenfest der Studenten daraus. Der Zug ist posstrlich genug -- aber
diese Verunzierung einer der poetischsten Gestalten Frankreichs dürfte ein Poet
von solchen Prätentionen wie Paul Meurice nicht über sich gebracht haben.
Boccage selbst wird von dieser Erbärmlichkeit gelähmt und wer den Mimen
hier zum ersten Male sieht, kann kaum begreifen, wodurch er zu einem so
großen Namen gekommen. Decorationen und Costüme sind auch in diesem
Acte außerordentlich schön.

Die Romantik der Kreuzzüge hat wahrscheinlich die Jungfrau von Orleans
erzeugt. Diese Schäferin, welche einer unwiderstehlichen Stimme ihres Herzens
folgend zum Schwert griff und auszog, den armen unglücklichen König von
Frankreich zu retten und die Engländer aus dem Lande zu jagen, durfte natür¬
lich in diesem historischen Schattenspiele nicht fehlen. Allein, wie sentimental,
wie melodramatisch, wie unbedeutend wird diese schöne Erscheinung in der Auf¬
fassung. Decoration und Costüme sind historisch, aber was darunter steckt, ist
so läppisch, daß man erstaunt, wie ein französischer Dichter es wagen kann,
die Glorie seines Vaterlandes so zu mißhandeln. Die Geschichte der feindlichen


geschwommen. Wir befinden uns im scholastischen Zeitalter des zwölften, Jahr¬
hunderts. Abälard und Heloise, Melusine und ihr Page Alienor erscheinen zu
beiden Seiten der Scene. Hören Sie, was der französische Dichter aus dem
poetischen Romane des französischen Mittelalters macht. Abälard fühlte nicht
während der philosophischen Studien mit der gelehrten Heloise zum ersten Male
die Gewalt der Liebe — es war nicht die Leidenschaft eines naiven Gemüthes.
Abälard wird als Nouv dargestellt, der in seiner Jugendzeit mit der fabelhaf¬
ten Melusine von Lusignan ein Liebesverhältniß und einen Sohn hatte. Die¬
ser Sohn, der als Page in den Netzen der schlauen Melusine za,ppelt, tritt
der Anklägerin gegen Abälard als Zeuge zur Seite. Melusine gibt nämlich
Heloise beim Rector Fulbert an und Gontran, der Bruder Heloisens, fordert
Alienor, den Pagen, zum Zweikampfe heraus. Alienor fällt. Somit hat
Abälard gewissermaßen ein Verhältniß mit der Schwester seiner Stieftochter.
Fulbert bringt den Proceß vor den heiligen Bernhard und dieser ercommuni-
cirt Abälard am Throne Ludwig VI., welcher die Fahnen der in den Orient
ziehenden Kreuzfahrer weiht. Dieser Abälardact schlägt der Geschichte auss
unverschämteste ins Gesicht — er ist auch zu lang — es mußte schon etwas
abgeschnitten werden. Abälard zieht mit seinen Schülern davon. Am An-
fange des Actes wird das berühmte Eselsfest dargestellt, jenes posstrliche Fast¬
nachtsspiel, das zotenreißende Mönche in dieser Zeit des Glaubens in der
Kirche aufführten. Man führte dabei bekanntlich den Esel vors Gesangpult
und sang dabei eine feierliche Messe ab, in welche das versammelte Volk den
Ruf des Esels nachahmend drein schrie. Der Esel wurde dann zum Doctor
gemacht. Paul Meurice läßt die Scene auf der Straße spielen und macht
ein Narrenfest der Studenten daraus. Der Zug ist posstrlich genug — aber
diese Verunzierung einer der poetischsten Gestalten Frankreichs dürfte ein Poet
von solchen Prätentionen wie Paul Meurice nicht über sich gebracht haben.
Boccage selbst wird von dieser Erbärmlichkeit gelähmt und wer den Mimen
hier zum ersten Male sieht, kann kaum begreifen, wodurch er zu einem so
großen Namen gekommen. Decorationen und Costüme sind auch in diesem
Acte außerordentlich schön.

Die Romantik der Kreuzzüge hat wahrscheinlich die Jungfrau von Orleans
erzeugt. Diese Schäferin, welche einer unwiderstehlichen Stimme ihres Herzens
folgend zum Schwert griff und auszog, den armen unglücklichen König von
Frankreich zu retten und die Engländer aus dem Lande zu jagen, durfte natür¬
lich in diesem historischen Schattenspiele nicht fehlen. Allein, wie sentimental,
wie melodramatisch, wie unbedeutend wird diese schöne Erscheinung in der Auf¬
fassung. Decoration und Costüme sind historisch, aber was darunter steckt, ist
so läppisch, daß man erstaunt, wie ein französischer Dichter es wagen kann,
die Glorie seines Vaterlandes so zu mißhandeln. Die Geschichte der feindlichen


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[0317] geschwommen. Wir befinden uns im scholastischen Zeitalter des zwölften, Jahr¬ hunderts. Abälard und Heloise, Melusine und ihr Page Alienor erscheinen zu beiden Seiten der Scene. Hören Sie, was der französische Dichter aus dem poetischen Romane des französischen Mittelalters macht. Abälard fühlte nicht während der philosophischen Studien mit der gelehrten Heloise zum ersten Male die Gewalt der Liebe — es war nicht die Leidenschaft eines naiven Gemüthes. Abälard wird als Nouv dargestellt, der in seiner Jugendzeit mit der fabelhaf¬ ten Melusine von Lusignan ein Liebesverhältniß und einen Sohn hatte. Die¬ ser Sohn, der als Page in den Netzen der schlauen Melusine za,ppelt, tritt der Anklägerin gegen Abälard als Zeuge zur Seite. Melusine gibt nämlich Heloise beim Rector Fulbert an und Gontran, der Bruder Heloisens, fordert Alienor, den Pagen, zum Zweikampfe heraus. Alienor fällt. Somit hat Abälard gewissermaßen ein Verhältniß mit der Schwester seiner Stieftochter. Fulbert bringt den Proceß vor den heiligen Bernhard und dieser ercommuni- cirt Abälard am Throne Ludwig VI., welcher die Fahnen der in den Orient ziehenden Kreuzfahrer weiht. Dieser Abälardact schlägt der Geschichte auss unverschämteste ins Gesicht — er ist auch zu lang — es mußte schon etwas abgeschnitten werden. Abälard zieht mit seinen Schülern davon. Am An- fange des Actes wird das berühmte Eselsfest dargestellt, jenes posstrliche Fast¬ nachtsspiel, das zotenreißende Mönche in dieser Zeit des Glaubens in der Kirche aufführten. Man führte dabei bekanntlich den Esel vors Gesangpult und sang dabei eine feierliche Messe ab, in welche das versammelte Volk den Ruf des Esels nachahmend drein schrie. Der Esel wurde dann zum Doctor gemacht. Paul Meurice läßt die Scene auf der Straße spielen und macht ein Narrenfest der Studenten daraus. Der Zug ist posstrlich genug — aber diese Verunzierung einer der poetischsten Gestalten Frankreichs dürfte ein Poet von solchen Prätentionen wie Paul Meurice nicht über sich gebracht haben. Boccage selbst wird von dieser Erbärmlichkeit gelähmt und wer den Mimen hier zum ersten Male sieht, kann kaum begreifen, wodurch er zu einem so großen Namen gekommen. Decorationen und Costüme sind auch in diesem Acte außerordentlich schön. Die Romantik der Kreuzzüge hat wahrscheinlich die Jungfrau von Orleans erzeugt. Diese Schäferin, welche einer unwiderstehlichen Stimme ihres Herzens folgend zum Schwert griff und auszog, den armen unglücklichen König von Frankreich zu retten und die Engländer aus dem Lande zu jagen, durfte natür¬ lich in diesem historischen Schattenspiele nicht fehlen. Allein, wie sentimental, wie melodramatisch, wie unbedeutend wird diese schöne Erscheinung in der Auf¬ fassung. Decoration und Costüme sind historisch, aber was darunter steckt, ist so läppisch, daß man erstaunt, wie ein französischer Dichter es wagen kann, die Glorie seines Vaterlandes so zu mißhandeln. Die Geschichte der feindlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/317>, abgerufen am 22.07.2024.