Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.bis zum Abend. Die Stadt war. so in Parteien zersplittert, daß ein Ruhesitz Die Einsamkeit, zu welcher ein solches Temperament den Inhaber verur¬ bis zum Abend. Die Stadt war. so in Parteien zersplittert, daß ein Ruhesitz Die Einsamkeit, zu welcher ein solches Temperament den Inhaber verur¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100232"/> <p xml:id="ID_909" prev="#ID_908"> bis zum Abend. Die Stadt war. so in Parteien zersplittert, daß ein Ruhesitz<lb/> in einem Grafschaftögericht zur Einziehung von Bagatellschulden so angenehm<lb/> gewesen wäre, wie im schönen Dahomey.</p><lb/> <p xml:id="ID_910" next="#ID_911"> Die Einsamkeit, zu welcher ein solches Temperament den Inhaber verur¬<lb/> theilt, würde diesen allein schon ganz unfähig für seine Stellung machen.<lb/> Was konnte ein ältlicher Herr, der den ganzen Tag über einsam in seinem<lb/> Ankleidezimmer grollte, über die wirkliche Lage eines ausgedehnten Reichs er¬<lb/> fahren, das sich über drei Welttheile erstreckt und aus Völkerschaften zusammen¬<lb/> gesetzt ist, die Sprache, Sitten, Religion und Abstammung einander entfremden<lb/> und die Gefühle und Interessen noch mehr voneinander scheiden, als geogra¬<lb/> phische Grenzen ? Es lag nicht in der Natur der Dinge, daß ein Mann von<lb/> diesem Charakter, dem alle äußern Eindrücke durch ein verfälschendes Medium<lb/> zukamen, zur rechten Zeit erfuhr, was er zu thun hatte. Goldene Gelegenheiten<lb/> gingen auf diese Weise unbeachtet und ungesehen vorüber und die , großen<lb/> politischen Fragen blieben vernachlässigt, während der Gesandte einen Minister<lb/> ausschimpfte oder einem seiner Ohnmacht sich bewußten Fürsten eine Strafrede<lb/> hielt. „ So ist es denn gekommen," fährt unser Gewährsmann fort, indem<lb/> er es plötzlich verschmäht, den von ihm Geschilderten noch länger mit der<lb/> leicht zu durchschauenden Maske der Pseudonymität zu verhüllen, „daß<lb/> man Lord Stratfvrd erlaubt hat, zum Kriege zu drängen, ohne die Türkei<lb/> durch eine einzige weise oder kluge Handlung darauf vorzubereiten. Er hatte<lb/> ihr nichts Besseres anzubieten, als eine neue Anleihe, fremde Truppen<lb/> und sogar londoner Polizeimannschaften. Keine einzige Reform wurde vor¬<lb/> genommen, kein einziger Zweig der türkischen Verwaltung wirksamer eingerichtet.<lb/> Ihr Rathgeber hat zugesehen, wie sie sich hilflos in einem Netze finanzieller<lb/> Verlegenheiten verstrickte; selbst die Frage der heiligen Stätten ist noch nicht<lb/> abgemacht. Die Rajas sind zur Empörung gereizt worden; den Abenteurern,<lb/> die nach der Türkei strömten, hat man Anstellungen verweigert; Staatsbankrott<lb/> und Hungersnoth sind im Anzüge und doch hat man den Plan zu einer<lb/> Nationalbank in Konstantinopel sterben lassen, ehe er noch recht auf die Welt<lb/> gekommen war und an Maßregeln, um die dem Landbau durch den Krieg<lb/> geraubten Menschenkräfte durch Maschinen oder anderweitig zu ersetzen, hat man<lb/> nicht einmal gedacht, während man die Kornausfuhr gestattet hat, bis daS jetzig<lb/> eingetretene Verbot eine bloße Verspottung verhungernder Millionen geworden<lb/> ist. Wenn aber vor der Besetzung der Donaufürstenthümer die Türkei welt¬<lb/> kundig so gut vorbereitet gewesen wäre, als sie gleichgiltig schien und verthei¬<lb/> digungslos war, so ist kaum zu bezweifeln,, daß Rußland mit dem wirklichen<lb/> Kriege eine passendere Gelegenheit abgewartet hätte. Bis dahin, hatte es sich<lb/> nur in eilte diplomatische Intrigue eingelassen. Aber ein so kluger Mann wie<lb/> der Zar konnte schwerlich voraussetzen, daß, nachdem wir die Türkei in eine</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0312]
bis zum Abend. Die Stadt war. so in Parteien zersplittert, daß ein Ruhesitz
in einem Grafschaftögericht zur Einziehung von Bagatellschulden so angenehm
gewesen wäre, wie im schönen Dahomey.
Die Einsamkeit, zu welcher ein solches Temperament den Inhaber verur¬
theilt, würde diesen allein schon ganz unfähig für seine Stellung machen.
Was konnte ein ältlicher Herr, der den ganzen Tag über einsam in seinem
Ankleidezimmer grollte, über die wirkliche Lage eines ausgedehnten Reichs er¬
fahren, das sich über drei Welttheile erstreckt und aus Völkerschaften zusammen¬
gesetzt ist, die Sprache, Sitten, Religion und Abstammung einander entfremden
und die Gefühle und Interessen noch mehr voneinander scheiden, als geogra¬
phische Grenzen ? Es lag nicht in der Natur der Dinge, daß ein Mann von
diesem Charakter, dem alle äußern Eindrücke durch ein verfälschendes Medium
zukamen, zur rechten Zeit erfuhr, was er zu thun hatte. Goldene Gelegenheiten
gingen auf diese Weise unbeachtet und ungesehen vorüber und die , großen
politischen Fragen blieben vernachlässigt, während der Gesandte einen Minister
ausschimpfte oder einem seiner Ohnmacht sich bewußten Fürsten eine Strafrede
hielt. „ So ist es denn gekommen," fährt unser Gewährsmann fort, indem
er es plötzlich verschmäht, den von ihm Geschilderten noch länger mit der
leicht zu durchschauenden Maske der Pseudonymität zu verhüllen, „daß
man Lord Stratfvrd erlaubt hat, zum Kriege zu drängen, ohne die Türkei
durch eine einzige weise oder kluge Handlung darauf vorzubereiten. Er hatte
ihr nichts Besseres anzubieten, als eine neue Anleihe, fremde Truppen
und sogar londoner Polizeimannschaften. Keine einzige Reform wurde vor¬
genommen, kein einziger Zweig der türkischen Verwaltung wirksamer eingerichtet.
Ihr Rathgeber hat zugesehen, wie sie sich hilflos in einem Netze finanzieller
Verlegenheiten verstrickte; selbst die Frage der heiligen Stätten ist noch nicht
abgemacht. Die Rajas sind zur Empörung gereizt worden; den Abenteurern,
die nach der Türkei strömten, hat man Anstellungen verweigert; Staatsbankrott
und Hungersnoth sind im Anzüge und doch hat man den Plan zu einer
Nationalbank in Konstantinopel sterben lassen, ehe er noch recht auf die Welt
gekommen war und an Maßregeln, um die dem Landbau durch den Krieg
geraubten Menschenkräfte durch Maschinen oder anderweitig zu ersetzen, hat man
nicht einmal gedacht, während man die Kornausfuhr gestattet hat, bis daS jetzig
eingetretene Verbot eine bloße Verspottung verhungernder Millionen geworden
ist. Wenn aber vor der Besetzung der Donaufürstenthümer die Türkei welt¬
kundig so gut vorbereitet gewesen wäre, als sie gleichgiltig schien und verthei¬
digungslos war, so ist kaum zu bezweifeln,, daß Rußland mit dem wirklichen
Kriege eine passendere Gelegenheit abgewartet hätte. Bis dahin, hatte es sich
nur in eilte diplomatische Intrigue eingelassen. Aber ein so kluger Mann wie
der Zar konnte schwerlich voraussetzen, daß, nachdem wir die Türkei in eine
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