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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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wartet und alles längst still geworden war, wagte er sich aus seinem Versteck
heraus, um sich nach dem Weg nach dem Hessischen zu erkundigen, wohin
er sich zuerst zu wenden gedachte. Aber auch das Dorf war wie ausgestorben,
und erst an der Thür eines besser aussehenden Hauses stand eine ältliche Frau.
Von dem Fremden angeredet, holte diese ihren Mann, den Prediger des Orts,
und dieser Ort war Mechterstedt, dasselbe Dorf, welches Puttkammer als das
erste Ziel ihrer beabsichtigten Flucht empfohlen. Dem würdigen Mann gegen¬
über konnte er sich ohne allen Rückhalt aussprechen, und er fand bei ihm die
freundlichste Aufnahme und bereitwilligste Auskunft. Lebensmittel konnte er
außer einigen Schnitten Brot leider nicht geben, denn Küche und Keller waren
vollständig ausgeräumt, er brachte ihn aber richtig auf den Weg, auf dem er
noch vor Abend das Hessische erreichen konnte, und drängte, als er erfuhr,
wie traurig es mit der Kasse des Flüchtlings aussah, ihm treuherzig das ein¬
zige Geld, was er bei sich hatte, ein Viergroschenstück, wenigstens als Anden¬
ken auf. Dann übernahm eine Bauerfrau die Führung bis an eine Weg¬
scheide, von wo aus Brotterode, der Nächstliegende hessische Ort, nicht mehr
zu verfehlen sein sollte. Aber trotzdem verirrte sich der Flüchtling in Gebirg
und Wald, und mußte den ganzen Abend, eine abgehauene junge Birke als
Stütze gebrauchend, den schon früher von Flintenkugeln durchlöcherten Mantel
von Strauch und Dornen zerrissen in Fetzen um sich herumhängend, eine echte
Scherasmingestalt, wegesuchend herumlaufen, um zuletzt doch im Walde zu schla¬
fen. Am andern Morgen erfuhr er von einem Holzknecht, daß er weit vom Wege
ab sogar noch über Eisenach, wo in dieser Nacht der Gefangenentransport
gerastet hatte, hinausgekommen sei, und daß er, um Brotterode zu erreichen,
die Straße nach Fulda überschreiten müsse, wo er Gefahr lief dem Transport
zu begegnen. Wirklich sah er ihn von weitem auf der Straße kommen, als er
sich dieser näherte, und mußte in sicherer Entfernung warten bis er vorüber
war; dann aber gelangte er ohne weitere Fährlichkeit nach Brotterode, wo er
bei dem Amtmann gastfreundliche Aufnahme sand. Gern hätte ihn dieser bei
steh behalten, wenn es wegen der Nähe der Grenze, und der Ungewißheit,
ob die Franzosen die hessische Neutralität lange respectiren würden, für den
Flüchtling nicht zu unsicher gewesen wäre. Deshalb rieth er ihm, sobald als
möglich den schmakaldischen Theil von Hessen zu verlassen, und sich in das
eigentliche Kurfürstenthum zu begeben. Dies mußte jedoch, da es noch ein¬
mal durch das Eisenachsche ging, auf Nebenwegen durch das Gebirg geschehen,
weshalb der Amtmann Ledebur einen Führer mitgab. Dieser brachte ihn glück¬
lich an den Bestimmungsort, das erste hessische Dorf jenseits der eisenacbschen
Grenze, aber hier fand es sich, daß der brotteroder Amtmann, der den Flücht¬
ling sonst mit allem was ihm fehlte großmüthig ausgestattet, übersehen hatte,
dem Führer den Botenlohn vorauszuzahlen. Das kostete Ledebur mehr als


wartet und alles längst still geworden war, wagte er sich aus seinem Versteck
heraus, um sich nach dem Weg nach dem Hessischen zu erkundigen, wohin
er sich zuerst zu wenden gedachte. Aber auch das Dorf war wie ausgestorben,
und erst an der Thür eines besser aussehenden Hauses stand eine ältliche Frau.
Von dem Fremden angeredet, holte diese ihren Mann, den Prediger des Orts,
und dieser Ort war Mechterstedt, dasselbe Dorf, welches Puttkammer als das
erste Ziel ihrer beabsichtigten Flucht empfohlen. Dem würdigen Mann gegen¬
über konnte er sich ohne allen Rückhalt aussprechen, und er fand bei ihm die
freundlichste Aufnahme und bereitwilligste Auskunft. Lebensmittel konnte er
außer einigen Schnitten Brot leider nicht geben, denn Küche und Keller waren
vollständig ausgeräumt, er brachte ihn aber richtig auf den Weg, auf dem er
noch vor Abend das Hessische erreichen konnte, und drängte, als er erfuhr,
wie traurig es mit der Kasse des Flüchtlings aussah, ihm treuherzig das ein¬
zige Geld, was er bei sich hatte, ein Viergroschenstück, wenigstens als Anden¬
ken auf. Dann übernahm eine Bauerfrau die Führung bis an eine Weg¬
scheide, von wo aus Brotterode, der Nächstliegende hessische Ort, nicht mehr
zu verfehlen sein sollte. Aber trotzdem verirrte sich der Flüchtling in Gebirg
und Wald, und mußte den ganzen Abend, eine abgehauene junge Birke als
Stütze gebrauchend, den schon früher von Flintenkugeln durchlöcherten Mantel
von Strauch und Dornen zerrissen in Fetzen um sich herumhängend, eine echte
Scherasmingestalt, wegesuchend herumlaufen, um zuletzt doch im Walde zu schla¬
fen. Am andern Morgen erfuhr er von einem Holzknecht, daß er weit vom Wege
ab sogar noch über Eisenach, wo in dieser Nacht der Gefangenentransport
gerastet hatte, hinausgekommen sei, und daß er, um Brotterode zu erreichen,
die Straße nach Fulda überschreiten müsse, wo er Gefahr lief dem Transport
zu begegnen. Wirklich sah er ihn von weitem auf der Straße kommen, als er
sich dieser näherte, und mußte in sicherer Entfernung warten bis er vorüber
war; dann aber gelangte er ohne weitere Fährlichkeit nach Brotterode, wo er
bei dem Amtmann gastfreundliche Aufnahme sand. Gern hätte ihn dieser bei
steh behalten, wenn es wegen der Nähe der Grenze, und der Ungewißheit,
ob die Franzosen die hessische Neutralität lange respectiren würden, für den
Flüchtling nicht zu unsicher gewesen wäre. Deshalb rieth er ihm, sobald als
möglich den schmakaldischen Theil von Hessen zu verlassen, und sich in das
eigentliche Kurfürstenthum zu begeben. Dies mußte jedoch, da es noch ein¬
mal durch das Eisenachsche ging, auf Nebenwegen durch das Gebirg geschehen,
weshalb der Amtmann Ledebur einen Führer mitgab. Dieser brachte ihn glück¬
lich an den Bestimmungsort, das erste hessische Dorf jenseits der eisenacbschen
Grenze, aber hier fand es sich, daß der brotteroder Amtmann, der den Flücht¬
ling sonst mit allem was ihm fehlte großmüthig ausgestattet, übersehen hatte,
dem Führer den Botenlohn vorauszuzahlen. Das kostete Ledebur mehr als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/189>, abgerufen am 22.07.2024.