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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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organisirt war, nicht aus selbstsüchtigen Gründen, sondern weil alle überzeugt
waren, daß ein Entweichungsversuch Ledeburs nur zu seinem Verderben aus-
schlagen könnte. Dies erklärte ihm Lieutenant Malchitzki, der als Wirth-
schaftschcf für die kleine Genossenschaft agirte, welcher sich Ledebur angeschlossen,
ganz offen. Auch auf dem Weitermarsch trat dies Bestreben mehrfach an den
Tag. Beim ersten Halt brachte Malchitzki ihm eine Gesundheit auf unzer¬
trennliches Zusammenbleiben zu, und Lieutenant Lettow trat auf ihn zu und
forderte ihn mit großer Herzlichkeit im Namen der übrigen aus, zu bleiben.
Er stellte ihm vor, wie unmöglich es sei durchzukommen, wie die Armee viel¬
leicht schon 30--60 Meilen entfernt, das Land von Feinden überschwemmt
und mit Spionen angefüllt, er selbst ohne Kleidung, ohne Paß, ohne Geld
oder Nahrung und bereits erschöpft durch die ausgestandenen Strapazen sei.
Da kein Wohlgesinnter ohne Gefahr des eignen Lebens ihm helfen könne,
sei Entdeckung auf der Flucht und schmählicher Tod sein sicheres Loos. Aber
selbst diese mit Thränen vorgebrachten Vorstellungen konnte Ledebur nicht in
seinem .Entschlüsse wankend machen. In dieser Stimmung war er, als der
Zug in die Nähe eines von der Chaussee etwas abseits gelegenen Dorfes kam,
dessen mit Hecken umzäunte Obstgärten bis unmittelbar an die Straße reich¬
ten. Diese war wegen des in der Nacht gefallenen Regens so kothig, daß
nur an den beiden Rändern ein schmaler Streif gangbar war, auf dem sich
nun der Zug, Gefangene und Escorte bunt durcheinander, dicht aufeinander¬
gedrängt im Gänsemarsch weiter bewegte. So schlüpfrig war der Weg, daß
jeder mit sich selbst vollauf zu thun hatte, um nicht zu fallen, und auf die andern
nicht achten konnte. So kamen sie auf eine Trift, die zwischen zwei Zäunen
von dem Dorfe aus grade auf die Chaussee zuführte und zwar so, daß die
rechte Zaunseite mit dieser einen spitzen Winkel bildete, gegen den das Dorf
rückwärts lag' man mußte bei der Trift fast erst vorübergehen, ehe man die¬
selbe entlang sehen konnte. Rasch entschlossen, durch einen kurzen Späheblick
sicher, daß ein Kamerad sein unmittelbarer Nachfolger war, sprang Ledebur
um die Ecke, kroch schnell auf Händen und Füßen dicht an den Zaun gedrückt
weiter, bis er an eine lockere Stelle kam, durch die er sich durcharbeitend in einen
Obstgarten gelangte, der, nach der Chaussee zu mit einer Hecke geschlossen, ihm
verhältnißmäßige Sicherheit gewährte. Auf der andern Seite des Zaunes weiter
kriechend', gelangte er an den ersten Hof des Dorfes, wo er in einem noch
unbenützten Schweinestall vorläufig Schutz suchte. Er hatte hier Zeit, seine
Lage zu überdenken. Sie war nichts weniger als glänzend. An Geld hatte
er noch keinen vollen Thaler, Lebensmittel und Papiere besaß er gar nicht
und an Kleidung nur das wenige, was er auf dem Leibe trug. Freunde
hatte er nicht in der Nähe und er mußte sich ganz aus die ungewisse Gut¬
müthigkeit fremder Menschen verlassen. Nachdem er wol eine Stunde ge-


organisirt war, nicht aus selbstsüchtigen Gründen, sondern weil alle überzeugt
waren, daß ein Entweichungsversuch Ledeburs nur zu seinem Verderben aus-
schlagen könnte. Dies erklärte ihm Lieutenant Malchitzki, der als Wirth-
schaftschcf für die kleine Genossenschaft agirte, welcher sich Ledebur angeschlossen,
ganz offen. Auch auf dem Weitermarsch trat dies Bestreben mehrfach an den
Tag. Beim ersten Halt brachte Malchitzki ihm eine Gesundheit auf unzer¬
trennliches Zusammenbleiben zu, und Lieutenant Lettow trat auf ihn zu und
forderte ihn mit großer Herzlichkeit im Namen der übrigen aus, zu bleiben.
Er stellte ihm vor, wie unmöglich es sei durchzukommen, wie die Armee viel¬
leicht schon 30—60 Meilen entfernt, das Land von Feinden überschwemmt
und mit Spionen angefüllt, er selbst ohne Kleidung, ohne Paß, ohne Geld
oder Nahrung und bereits erschöpft durch die ausgestandenen Strapazen sei.
Da kein Wohlgesinnter ohne Gefahr des eignen Lebens ihm helfen könne,
sei Entdeckung auf der Flucht und schmählicher Tod sein sicheres Loos. Aber
selbst diese mit Thränen vorgebrachten Vorstellungen konnte Ledebur nicht in
seinem .Entschlüsse wankend machen. In dieser Stimmung war er, als der
Zug in die Nähe eines von der Chaussee etwas abseits gelegenen Dorfes kam,
dessen mit Hecken umzäunte Obstgärten bis unmittelbar an die Straße reich¬
ten. Diese war wegen des in der Nacht gefallenen Regens so kothig, daß
nur an den beiden Rändern ein schmaler Streif gangbar war, auf dem sich
nun der Zug, Gefangene und Escorte bunt durcheinander, dicht aufeinander¬
gedrängt im Gänsemarsch weiter bewegte. So schlüpfrig war der Weg, daß
jeder mit sich selbst vollauf zu thun hatte, um nicht zu fallen, und auf die andern
nicht achten konnte. So kamen sie auf eine Trift, die zwischen zwei Zäunen
von dem Dorfe aus grade auf die Chaussee zuführte und zwar so, daß die
rechte Zaunseite mit dieser einen spitzen Winkel bildete, gegen den das Dorf
rückwärts lag' man mußte bei der Trift fast erst vorübergehen, ehe man die¬
selbe entlang sehen konnte. Rasch entschlossen, durch einen kurzen Späheblick
sicher, daß ein Kamerad sein unmittelbarer Nachfolger war, sprang Ledebur
um die Ecke, kroch schnell auf Händen und Füßen dicht an den Zaun gedrückt
weiter, bis er an eine lockere Stelle kam, durch die er sich durcharbeitend in einen
Obstgarten gelangte, der, nach der Chaussee zu mit einer Hecke geschlossen, ihm
verhältnißmäßige Sicherheit gewährte. Auf der andern Seite des Zaunes weiter
kriechend', gelangte er an den ersten Hof des Dorfes, wo er in einem noch
unbenützten Schweinestall vorläufig Schutz suchte. Er hatte hier Zeit, seine
Lage zu überdenken. Sie war nichts weniger als glänzend. An Geld hatte
er noch keinen vollen Thaler, Lebensmittel und Papiere besaß er gar nicht
und an Kleidung nur das wenige, was er auf dem Leibe trug. Freunde
hatte er nicht in der Nähe und er mußte sich ganz aus die ungewisse Gut¬
müthigkeit fremder Menschen verlassen. Nachdem er wol eine Stunde ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/188>, abgerufen am 30.06.2024.