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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Propädeutik auf Gelehrtenschulen. Man hat dafür angeführt, daß man nur
durch die Anfangsgründe der höheren Mathematik Sicherheit in dem Gebrauche
der niederen Mathematik, in ihrer Anwendung auf Optik, Akustik in. erlangen
könne. Ich muß mich hier allerdings bescheiden, da ich die höheren Zweige
der Mathematik nicht kenne, bezweifle aber, daß dies sich anders, als mit
jeder Wissenschaft verhalte. Es scheint mir ungefähr wie wenn man sagt,
ein Schüler könne nur durch Linguistik und Sprachphilosophie eine einzelne
Sprache begreifen, also müssen die Anfangsgründe des Sanskrit getrieben
werden. Ferner hat man gesagt, es sei nur dann möglich, durch die Unter¬
brechung des ersten praktischen JahrescursuS aus technischen Hochschulen nicht
gestört zu werden, wenn man durch jene Anfangsgründe der Differential- und
Integralrechnung !c. einen Durchgangspunkt für die höhere Theorie gewonnen
habe, während man doch denken sollte es sei grade umgekehrt und könne wol
die feste Basis der elementaren Mathematik diese Unterbrechung vertragen, wo¬
gegen jene höheren Anfänge ganz und gar verloren sein werden, und der
Student genöthigt sein wird, nach einem Jahr alles wieder von vorn anzu¬
fangen. Endlich widerspricht die geringe Erfahrung, die wir gemacht haben,
ven, daß der Abiturient es trotz unmäßiger Anstrengungen in diesem Fache
zu rechter Sicherheit in den höchsten Zweigen bringe, mit Ausnahme eines
entschieden bedeutenden, mathematischen Talentes, welches indeß vielleicht durch
Selbststudien ebensoweit gekommen wäre. Ich kann nicht umhin, das für eine
gefährliche Ueberspannung der Kräfte zu halten. In der Physik und Chemie
geht man auch möglichst weit. Man pfropft und pfropft, ohne zu bedenken,
daß es auch eine Zeit gab, wo Institutionen, Exegese, und Osteologie aus
Schulen gelehrt wurden, ohne den allergeringsten Nutzen.

Man könnte ja auch den Sprachunterricht herunterdrücken; da aber tritt
die Phrase vom Gleichgewicht beider Zweige entgegen, also muß auch dieser
höher gespannt werden. Gut denn, die Schüler horchen den Vorträgen in
englischer und französischer Geschichte und Literaturgeschichte, sie halten Reden
und schreiben Aufsätze in beiden fremden Sprachen, sie dichten meinetwegen
gar darin. Nun stehen wir am Rande des Unsinns, und haben Abiturienten,
die vor lauter Gelehrsamkeit keinen selbstständigen Faden mehr am Leibe haben,
die oberflächlich über das Höchste plappern können, während ihnen die erste,
einheitliche Base unter den Füßen weggeglitten ist. Ich habe diese Wirthschaft
ein Jahr angesehen und mitgemacht, nun aber erklärt, daß ich das Ziel des
Sprachunterrichts herabgesetzt, oder denselben auf Kosten des naturwissenschaft¬
lichen Unterrichts vermehrt zu haben wünschte, da ich nur auf Kosten des
Körpers und Geistes meiner Schüler so fortfahren könnte, und an der
Bildung frischer und freier Menschen, keiner abgerichteten Puppen mitzuwirken
wünschte.


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Propädeutik auf Gelehrtenschulen. Man hat dafür angeführt, daß man nur
durch die Anfangsgründe der höheren Mathematik Sicherheit in dem Gebrauche
der niederen Mathematik, in ihrer Anwendung auf Optik, Akustik in. erlangen
könne. Ich muß mich hier allerdings bescheiden, da ich die höheren Zweige
der Mathematik nicht kenne, bezweifle aber, daß dies sich anders, als mit
jeder Wissenschaft verhalte. Es scheint mir ungefähr wie wenn man sagt,
ein Schüler könne nur durch Linguistik und Sprachphilosophie eine einzelne
Sprache begreifen, also müssen die Anfangsgründe des Sanskrit getrieben
werden. Ferner hat man gesagt, es sei nur dann möglich, durch die Unter¬
brechung des ersten praktischen JahrescursuS aus technischen Hochschulen nicht
gestört zu werden, wenn man durch jene Anfangsgründe der Differential- und
Integralrechnung !c. einen Durchgangspunkt für die höhere Theorie gewonnen
habe, während man doch denken sollte es sei grade umgekehrt und könne wol
die feste Basis der elementaren Mathematik diese Unterbrechung vertragen, wo¬
gegen jene höheren Anfänge ganz und gar verloren sein werden, und der
Student genöthigt sein wird, nach einem Jahr alles wieder von vorn anzu¬
fangen. Endlich widerspricht die geringe Erfahrung, die wir gemacht haben,
ven, daß der Abiturient es trotz unmäßiger Anstrengungen in diesem Fache
zu rechter Sicherheit in den höchsten Zweigen bringe, mit Ausnahme eines
entschieden bedeutenden, mathematischen Talentes, welches indeß vielleicht durch
Selbststudien ebensoweit gekommen wäre. Ich kann nicht umhin, das für eine
gefährliche Ueberspannung der Kräfte zu halten. In der Physik und Chemie
geht man auch möglichst weit. Man pfropft und pfropft, ohne zu bedenken,
daß es auch eine Zeit gab, wo Institutionen, Exegese, und Osteologie aus
Schulen gelehrt wurden, ohne den allergeringsten Nutzen.

Man könnte ja auch den Sprachunterricht herunterdrücken; da aber tritt
die Phrase vom Gleichgewicht beider Zweige entgegen, also muß auch dieser
höher gespannt werden. Gut denn, die Schüler horchen den Vorträgen in
englischer und französischer Geschichte und Literaturgeschichte, sie halten Reden
und schreiben Aufsätze in beiden fremden Sprachen, sie dichten meinetwegen
gar darin. Nun stehen wir am Rande des Unsinns, und haben Abiturienten,
die vor lauter Gelehrsamkeit keinen selbstständigen Faden mehr am Leibe haben,
die oberflächlich über das Höchste plappern können, während ihnen die erste,
einheitliche Base unter den Füßen weggeglitten ist. Ich habe diese Wirthschaft
ein Jahr angesehen und mitgemacht, nun aber erklärt, daß ich das Ziel des
Sprachunterrichts herabgesetzt, oder denselben auf Kosten des naturwissenschaft¬
lichen Unterrichts vermehrt zu haben wünschte, da ich nur auf Kosten des
Körpers und Geistes meiner Schüler so fortfahren könnte, und an der
Bildung frischer und freier Menschen, keiner abgerichteten Puppen mitzuwirken
wünschte.


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[0155] Propädeutik auf Gelehrtenschulen. Man hat dafür angeführt, daß man nur durch die Anfangsgründe der höheren Mathematik Sicherheit in dem Gebrauche der niederen Mathematik, in ihrer Anwendung auf Optik, Akustik in. erlangen könne. Ich muß mich hier allerdings bescheiden, da ich die höheren Zweige der Mathematik nicht kenne, bezweifle aber, daß dies sich anders, als mit jeder Wissenschaft verhalte. Es scheint mir ungefähr wie wenn man sagt, ein Schüler könne nur durch Linguistik und Sprachphilosophie eine einzelne Sprache begreifen, also müssen die Anfangsgründe des Sanskrit getrieben werden. Ferner hat man gesagt, es sei nur dann möglich, durch die Unter¬ brechung des ersten praktischen JahrescursuS aus technischen Hochschulen nicht gestört zu werden, wenn man durch jene Anfangsgründe der Differential- und Integralrechnung !c. einen Durchgangspunkt für die höhere Theorie gewonnen habe, während man doch denken sollte es sei grade umgekehrt und könne wol die feste Basis der elementaren Mathematik diese Unterbrechung vertragen, wo¬ gegen jene höheren Anfänge ganz und gar verloren sein werden, und der Student genöthigt sein wird, nach einem Jahr alles wieder von vorn anzu¬ fangen. Endlich widerspricht die geringe Erfahrung, die wir gemacht haben, ven, daß der Abiturient es trotz unmäßiger Anstrengungen in diesem Fache zu rechter Sicherheit in den höchsten Zweigen bringe, mit Ausnahme eines entschieden bedeutenden, mathematischen Talentes, welches indeß vielleicht durch Selbststudien ebensoweit gekommen wäre. Ich kann nicht umhin, das für eine gefährliche Ueberspannung der Kräfte zu halten. In der Physik und Chemie geht man auch möglichst weit. Man pfropft und pfropft, ohne zu bedenken, daß es auch eine Zeit gab, wo Institutionen, Exegese, und Osteologie aus Schulen gelehrt wurden, ohne den allergeringsten Nutzen. Man könnte ja auch den Sprachunterricht herunterdrücken; da aber tritt die Phrase vom Gleichgewicht beider Zweige entgegen, also muß auch dieser höher gespannt werden. Gut denn, die Schüler horchen den Vorträgen in englischer und französischer Geschichte und Literaturgeschichte, sie halten Reden und schreiben Aufsätze in beiden fremden Sprachen, sie dichten meinetwegen gar darin. Nun stehen wir am Rande des Unsinns, und haben Abiturienten, die vor lauter Gelehrsamkeit keinen selbstständigen Faden mehr am Leibe haben, die oberflächlich über das Höchste plappern können, während ihnen die erste, einheitliche Base unter den Füßen weggeglitten ist. Ich habe diese Wirthschaft ein Jahr angesehen und mitgemacht, nun aber erklärt, daß ich das Ziel des Sprachunterrichts herabgesetzt, oder denselben auf Kosten des naturwissenschaft¬ lichen Unterrichts vermehrt zu haben wünschte, da ich nur auf Kosten des Körpers und Geistes meiner Schüler so fortfahren könnte, und an der Bildung frischer und freier Menschen, keiner abgerichteten Puppen mitzuwirken wünschte. 19*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/155>, abgerufen am 22.07.2024.