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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Doch es könnte dies Uebermaß abgeschnitten werden, und immer noch
müßte, vorausgesetzt, daß man der Gelehrtenbildung gleichkommen will, der in
dem Sprachunterricht sich ergebende Ausfall durch den mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen Ueberschuß gedeckt werden. Zwar ist jetzt noch meistens ein
qualitativer Vortheil da, indem die Elementarmathematik auf Realschulen besser
gelehrt wird; dies liegt aber nicht im Begriff, sondern nur in der mangelhaften
Ausführung. Denn es ist vollkommen möglich, daß streng und tüchtig auch
auf der Gelehrtenschule die Mathematik getrieben werde. Also müßte der
eigentliche Vortheil doch auch von quantitativer Seite kommen; nicht weil
Mathematik und Naturwissenschaften besser, sondern weil sie weiter dort
getrieben werden, mußten die Realschüler soviel reiferen Geistes werden; und
wäre das der Fall, so müßte man cvnsequenterweise den Sprachunterricht unter¬
ordnen und offen sein Gleichgewichtsprincip aufgeben.

Ich aber bitte um den Nachweis, daß die höhern Branchen der Mathe¬
matik und der Naturwissenschaften diesen formalen Werth haben. Ich kenne
sie nicht, glaube aber zu bemerken, daß der allgemeine Einfluß der Mathematik
lediglich ein corrigirender, ordnender sei, und daß, so herrlich es ist, wenn er
die Entwicklung des jugendlichen Geistes begleitet und alle unklare Phantasterei
Lügen straft, es dabei auf ein Mehr oder Minder des Wissens gar nicht an¬
komme.

Wie wäre es sonst auch möglich, daß der Mathematiker ex pra>ke8se> wie
kaum irgendein anderer bei aller speciellen Tüchtigkeit bald ein herzensguter,
aber unpraktischer Sonderling, bald auch der geistloseste, hölzernste Mensch von
der Welt sein, ja, daß er auch in sittlicher Beziehung mangelhaft und
selbst ohne richtiges Urtheil über andere Dinge sein kann. Diese bekannte
Thatsache erklärt sich nur daraus, daß durch die Mathematik der Verstand auf
Kosten des Herzens ganz einseitig und abstract ausgebildet wird, daß es eben
eine ganz für sich abgeschlossene Welt ist, von der aus nur eine sehr, sehr
indirecte Bahn zu den übrigen Kräften des Geistes führt. Wie wollte man
also damit vorzugsweise die ganze Fülle der jugendlichen Seele entwickeln?
Die reichsten Geister setzen bekanntlich dem mathematischen Element oft die
größte Abneigung entgegen: es muß in gewissem Maße ihnen eingeflößt wer¬
den, aber wer wollte damit wie mit einer ätzenden Flüssigkeit die edleren Keime
ersticken? -- Also müßte es denn die Masse naturwissenschaftlicher Kenntnisse
sein, welche die Geister reich, stark und edel mache? -- Von der Chemie wird
dies wol niemand behaupten wollen, aber von der Physik? Gewiß wird eine
Großartigkeit der Anschauung durch Eindringen in diese erhabenen Forschungen
gebildet werden: aber wo ist das eigentlich sittliche Moment? Doch nicht darin,
daß man den Menschengeist, der soviel erforscht und erkannt, bewundern und
ihm nacheifern soll? Der Schüler ist aber kein Philosoph, er ist ein Knabe:


Doch es könnte dies Uebermaß abgeschnitten werden, und immer noch
müßte, vorausgesetzt, daß man der Gelehrtenbildung gleichkommen will, der in
dem Sprachunterricht sich ergebende Ausfall durch den mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen Ueberschuß gedeckt werden. Zwar ist jetzt noch meistens ein
qualitativer Vortheil da, indem die Elementarmathematik auf Realschulen besser
gelehrt wird; dies liegt aber nicht im Begriff, sondern nur in der mangelhaften
Ausführung. Denn es ist vollkommen möglich, daß streng und tüchtig auch
auf der Gelehrtenschule die Mathematik getrieben werde. Also müßte der
eigentliche Vortheil doch auch von quantitativer Seite kommen; nicht weil
Mathematik und Naturwissenschaften besser, sondern weil sie weiter dort
getrieben werden, mußten die Realschüler soviel reiferen Geistes werden; und
wäre das der Fall, so müßte man cvnsequenterweise den Sprachunterricht unter¬
ordnen und offen sein Gleichgewichtsprincip aufgeben.

Ich aber bitte um den Nachweis, daß die höhern Branchen der Mathe¬
matik und der Naturwissenschaften diesen formalen Werth haben. Ich kenne
sie nicht, glaube aber zu bemerken, daß der allgemeine Einfluß der Mathematik
lediglich ein corrigirender, ordnender sei, und daß, so herrlich es ist, wenn er
die Entwicklung des jugendlichen Geistes begleitet und alle unklare Phantasterei
Lügen straft, es dabei auf ein Mehr oder Minder des Wissens gar nicht an¬
komme.

Wie wäre es sonst auch möglich, daß der Mathematiker ex pra>ke8se> wie
kaum irgendein anderer bei aller speciellen Tüchtigkeit bald ein herzensguter,
aber unpraktischer Sonderling, bald auch der geistloseste, hölzernste Mensch von
der Welt sein, ja, daß er auch in sittlicher Beziehung mangelhaft und
selbst ohne richtiges Urtheil über andere Dinge sein kann. Diese bekannte
Thatsache erklärt sich nur daraus, daß durch die Mathematik der Verstand auf
Kosten des Herzens ganz einseitig und abstract ausgebildet wird, daß es eben
eine ganz für sich abgeschlossene Welt ist, von der aus nur eine sehr, sehr
indirecte Bahn zu den übrigen Kräften des Geistes führt. Wie wollte man
also damit vorzugsweise die ganze Fülle der jugendlichen Seele entwickeln?
Die reichsten Geister setzen bekanntlich dem mathematischen Element oft die
größte Abneigung entgegen: es muß in gewissem Maße ihnen eingeflößt wer¬
den, aber wer wollte damit wie mit einer ätzenden Flüssigkeit die edleren Keime
ersticken? — Also müßte es denn die Masse naturwissenschaftlicher Kenntnisse
sein, welche die Geister reich, stark und edel mache? — Von der Chemie wird
dies wol niemand behaupten wollen, aber von der Physik? Gewiß wird eine
Großartigkeit der Anschauung durch Eindringen in diese erhabenen Forschungen
gebildet werden: aber wo ist das eigentlich sittliche Moment? Doch nicht darin,
daß man den Menschengeist, der soviel erforscht und erkannt, bewundern und
ihm nacheifern soll? Der Schüler ist aber kein Philosoph, er ist ein Knabe:


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[0156] Doch es könnte dies Uebermaß abgeschnitten werden, und immer noch müßte, vorausgesetzt, daß man der Gelehrtenbildung gleichkommen will, der in dem Sprachunterricht sich ergebende Ausfall durch den mathematisch-natur¬ wissenschaftlichen Ueberschuß gedeckt werden. Zwar ist jetzt noch meistens ein qualitativer Vortheil da, indem die Elementarmathematik auf Realschulen besser gelehrt wird; dies liegt aber nicht im Begriff, sondern nur in der mangelhaften Ausführung. Denn es ist vollkommen möglich, daß streng und tüchtig auch auf der Gelehrtenschule die Mathematik getrieben werde. Also müßte der eigentliche Vortheil doch auch von quantitativer Seite kommen; nicht weil Mathematik und Naturwissenschaften besser, sondern weil sie weiter dort getrieben werden, mußten die Realschüler soviel reiferen Geistes werden; und wäre das der Fall, so müßte man cvnsequenterweise den Sprachunterricht unter¬ ordnen und offen sein Gleichgewichtsprincip aufgeben. Ich aber bitte um den Nachweis, daß die höhern Branchen der Mathe¬ matik und der Naturwissenschaften diesen formalen Werth haben. Ich kenne sie nicht, glaube aber zu bemerken, daß der allgemeine Einfluß der Mathematik lediglich ein corrigirender, ordnender sei, und daß, so herrlich es ist, wenn er die Entwicklung des jugendlichen Geistes begleitet und alle unklare Phantasterei Lügen straft, es dabei auf ein Mehr oder Minder des Wissens gar nicht an¬ komme. Wie wäre es sonst auch möglich, daß der Mathematiker ex pra>ke8se> wie kaum irgendein anderer bei aller speciellen Tüchtigkeit bald ein herzensguter, aber unpraktischer Sonderling, bald auch der geistloseste, hölzernste Mensch von der Welt sein, ja, daß er auch in sittlicher Beziehung mangelhaft und selbst ohne richtiges Urtheil über andere Dinge sein kann. Diese bekannte Thatsache erklärt sich nur daraus, daß durch die Mathematik der Verstand auf Kosten des Herzens ganz einseitig und abstract ausgebildet wird, daß es eben eine ganz für sich abgeschlossene Welt ist, von der aus nur eine sehr, sehr indirecte Bahn zu den übrigen Kräften des Geistes führt. Wie wollte man also damit vorzugsweise die ganze Fülle der jugendlichen Seele entwickeln? Die reichsten Geister setzen bekanntlich dem mathematischen Element oft die größte Abneigung entgegen: es muß in gewissem Maße ihnen eingeflößt wer¬ den, aber wer wollte damit wie mit einer ätzenden Flüssigkeit die edleren Keime ersticken? — Also müßte es denn die Masse naturwissenschaftlicher Kenntnisse sein, welche die Geister reich, stark und edel mache? — Von der Chemie wird dies wol niemand behaupten wollen, aber von der Physik? Gewiß wird eine Großartigkeit der Anschauung durch Eindringen in diese erhabenen Forschungen gebildet werden: aber wo ist das eigentlich sittliche Moment? Doch nicht darin, daß man den Menschengeist, der soviel erforscht und erkannt, bewundern und ihm nacheifern soll? Der Schüler ist aber kein Philosoph, er ist ein Knabe:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/156>, abgerufen am 22.07.2024.