Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Hochschule jene Disciplin nachholen können. Auch ist dem Französischen zu
viel Platz eingeräumt, man braucht die Menge ver Stunden gar nicht, wenn
man es nur vernünftig anfängt, und gewinnt so fürs Latein, dieses bildet
dann nach wie vor die feste grammatische Grundlage für alle Sprachen. Ja
man könnte sich versucht fühlen, selbst dem Griechischen an der Realschule eine
ähnliche Stellung einzuräumen, wie dem Englischen an der Gelehrtenschule,
die formelle Schwierigkeit ist aber unbesieglich. Vielleicht könnte man es
facultativ sein lassen, wie etwa die Chemie an der Gelehrtenschule. Wie schön
würde so die unselige Spaltung der deutschen höhern Bildung, welche sich seit
einigen Jahrzehnten weiter und weiter öffnet, wieder in die Bahn der Ver¬
einigung und Versöhnung eingelenkt!!

Die Mathematik ist bisher auf der Gelehrtenschule sehr stiefmütterlich be¬
handelt worden. Wer darin auch noch so sehr zurückgeblieben war, er wurde
doch versetzt, wenn er im Uebrigen tüchtig war, und das gab natürlich in den
Oberclassen ein Gemisch von Eingeweihten, Halbwissen: und gänzlichen Igno¬
ranten, mit dem auch der beste Lehrer etwas auszurichten verzweifeln mußte.
Oft kam der Uebelstand hinzu, daß der Unterricht nicht in geschickten Händen
lag und es wurde nur ausnahmsweise von Seiten der Oberleitung Werth
darauf gelegt, ja sogar es heimlich gern gesehen, wenn die Schüler dafür wenig
oder gar nicht in Anspruch genommen wurden. Obwol diese Mangelhaftigkeit
noch manche gute Gelehrtenschule, die ich kenne, trifft, so hat sich doch ein
deutliches Streben gezeigt, den mathematisch-physikalischen Unterricht zu heben,
man hat ihm namentlich mehr Stunden in den Oberclassen, gemeiniglich <M
Preußen) vier (während früher immer nur zwei waren) zugelegt, doch auch drei.
Es wäre zu wünschen, daß man ein festes Ziel in der Elementarmathematik
nicht nur erstrebte, sondern auch wirklich erreichte: denn sonst wäre das Zu¬
legen von Stunden nur verloren. Eine so gewaltige Erscheinung wie Lessing
sollte uns lehren, was es heißt, mathematischen Scharfsinn besitzen. Aber er
besaß freilich noch mehr, als das, Geist und Charakter und unbegrenzte Wahr¬
heitsliebe, und nun wurde die mathematische Präciston seines Ausdrucks
und die mathematisch-forcible Entwicklung seines Denkens die glänzende Außen¬
seite des tieferen Innern; erst so wurde er der Vater der deutschen Gelehr¬
samkeit.

Die Realschule nun legt darauf den größten Werth. Mit vollem Recht
wird die Versetzung wesentlich auch nach diesen Kenntnissen bestimmt, denn
nirgends lassen Sprünge sich weniger gutmachen, als hier. Hier muß ganz
regelmäßig, ganz systematisch aufgebaut werden, oder man erreicht gar nichts.
Aber wir halten das Ziel an mancher dieser Schulen für sehr überspannt-
Das Heranziehen der höhern Mathematik in den Schulunterricht ist eine
Thorheit, von der man ebenso zurückkommen wird, wie von der philosophischen


Hochschule jene Disciplin nachholen können. Auch ist dem Französischen zu
viel Platz eingeräumt, man braucht die Menge ver Stunden gar nicht, wenn
man es nur vernünftig anfängt, und gewinnt so fürs Latein, dieses bildet
dann nach wie vor die feste grammatische Grundlage für alle Sprachen. Ja
man könnte sich versucht fühlen, selbst dem Griechischen an der Realschule eine
ähnliche Stellung einzuräumen, wie dem Englischen an der Gelehrtenschule,
die formelle Schwierigkeit ist aber unbesieglich. Vielleicht könnte man es
facultativ sein lassen, wie etwa die Chemie an der Gelehrtenschule. Wie schön
würde so die unselige Spaltung der deutschen höhern Bildung, welche sich seit
einigen Jahrzehnten weiter und weiter öffnet, wieder in die Bahn der Ver¬
einigung und Versöhnung eingelenkt!!

Die Mathematik ist bisher auf der Gelehrtenschule sehr stiefmütterlich be¬
handelt worden. Wer darin auch noch so sehr zurückgeblieben war, er wurde
doch versetzt, wenn er im Uebrigen tüchtig war, und das gab natürlich in den
Oberclassen ein Gemisch von Eingeweihten, Halbwissen: und gänzlichen Igno¬
ranten, mit dem auch der beste Lehrer etwas auszurichten verzweifeln mußte.
Oft kam der Uebelstand hinzu, daß der Unterricht nicht in geschickten Händen
lag und es wurde nur ausnahmsweise von Seiten der Oberleitung Werth
darauf gelegt, ja sogar es heimlich gern gesehen, wenn die Schüler dafür wenig
oder gar nicht in Anspruch genommen wurden. Obwol diese Mangelhaftigkeit
noch manche gute Gelehrtenschule, die ich kenne, trifft, so hat sich doch ein
deutliches Streben gezeigt, den mathematisch-physikalischen Unterricht zu heben,
man hat ihm namentlich mehr Stunden in den Oberclassen, gemeiniglich <M
Preußen) vier (während früher immer nur zwei waren) zugelegt, doch auch drei.
Es wäre zu wünschen, daß man ein festes Ziel in der Elementarmathematik
nicht nur erstrebte, sondern auch wirklich erreichte: denn sonst wäre das Zu¬
legen von Stunden nur verloren. Eine so gewaltige Erscheinung wie Lessing
sollte uns lehren, was es heißt, mathematischen Scharfsinn besitzen. Aber er
besaß freilich noch mehr, als das, Geist und Charakter und unbegrenzte Wahr¬
heitsliebe, und nun wurde die mathematische Präciston seines Ausdrucks
und die mathematisch-forcible Entwicklung seines Denkens die glänzende Außen¬
seite des tieferen Innern; erst so wurde er der Vater der deutschen Gelehr¬
samkeit.

Die Realschule nun legt darauf den größten Werth. Mit vollem Recht
wird die Versetzung wesentlich auch nach diesen Kenntnissen bestimmt, denn
nirgends lassen Sprünge sich weniger gutmachen, als hier. Hier muß ganz
regelmäßig, ganz systematisch aufgebaut werden, oder man erreicht gar nichts.
Aber wir halten das Ziel an mancher dieser Schulen für sehr überspannt-
Das Heranziehen der höhern Mathematik in den Schulunterricht ist eine
Thorheit, von der man ebenso zurückkommen wird, wie von der philosophischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0154" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100074"/>
          <p xml:id="ID_460" prev="#ID_459"> Hochschule jene Disciplin nachholen können. Auch ist dem Französischen zu<lb/>
viel Platz eingeräumt, man braucht die Menge ver Stunden gar nicht, wenn<lb/>
man es nur vernünftig anfängt, und gewinnt so fürs Latein, dieses bildet<lb/>
dann nach wie vor die feste grammatische Grundlage für alle Sprachen. Ja<lb/>
man könnte sich versucht fühlen, selbst dem Griechischen an der Realschule eine<lb/>
ähnliche Stellung einzuräumen, wie dem Englischen an der Gelehrtenschule,<lb/>
die formelle Schwierigkeit ist aber unbesieglich. Vielleicht könnte man es<lb/>
facultativ sein lassen, wie etwa die Chemie an der Gelehrtenschule. Wie schön<lb/>
würde so die unselige Spaltung der deutschen höhern Bildung, welche sich seit<lb/>
einigen Jahrzehnten weiter und weiter öffnet, wieder in die Bahn der Ver¬<lb/>
einigung und Versöhnung eingelenkt!!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_461"> Die Mathematik ist bisher auf der Gelehrtenschule sehr stiefmütterlich be¬<lb/>
handelt worden. Wer darin auch noch so sehr zurückgeblieben war, er wurde<lb/>
doch versetzt, wenn er im Uebrigen tüchtig war, und das gab natürlich in den<lb/>
Oberclassen ein Gemisch von Eingeweihten, Halbwissen: und gänzlichen Igno¬<lb/>
ranten, mit dem auch der beste Lehrer etwas auszurichten verzweifeln mußte.<lb/>
Oft kam der Uebelstand hinzu, daß der Unterricht nicht in geschickten Händen<lb/>
lag und es wurde nur ausnahmsweise von Seiten der Oberleitung Werth<lb/>
darauf gelegt, ja sogar es heimlich gern gesehen, wenn die Schüler dafür wenig<lb/>
oder gar nicht in Anspruch genommen wurden. Obwol diese Mangelhaftigkeit<lb/>
noch manche gute Gelehrtenschule, die ich kenne, trifft, so hat sich doch ein<lb/>
deutliches Streben gezeigt, den mathematisch-physikalischen Unterricht zu heben,<lb/>
man hat ihm namentlich mehr Stunden in den Oberclassen, gemeiniglich &lt;M<lb/>
Preußen) vier (während früher immer nur zwei waren) zugelegt, doch auch drei.<lb/>
Es wäre zu wünschen, daß man ein festes Ziel in der Elementarmathematik<lb/>
nicht nur erstrebte, sondern auch wirklich erreichte: denn sonst wäre das Zu¬<lb/>
legen von Stunden nur verloren. Eine so gewaltige Erscheinung wie Lessing<lb/>
sollte uns lehren, was es heißt, mathematischen Scharfsinn besitzen. Aber er<lb/>
besaß freilich noch mehr, als das, Geist und Charakter und unbegrenzte Wahr¬<lb/>
heitsliebe, und nun wurde die mathematische Präciston seines Ausdrucks<lb/>
und die mathematisch-forcible Entwicklung seines Denkens die glänzende Außen¬<lb/>
seite des tieferen Innern; erst so wurde er der Vater der deutschen Gelehr¬<lb/>
samkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_462" next="#ID_463"> Die Realschule nun legt darauf den größten Werth. Mit vollem Recht<lb/>
wird die Versetzung wesentlich auch nach diesen Kenntnissen bestimmt, denn<lb/>
nirgends lassen Sprünge sich weniger gutmachen, als hier. Hier muß ganz<lb/>
regelmäßig, ganz systematisch aufgebaut werden, oder man erreicht gar nichts.<lb/>
Aber wir halten das Ziel an mancher dieser Schulen für sehr überspannt-<lb/>
Das Heranziehen der höhern Mathematik in den Schulunterricht ist eine<lb/>
Thorheit, von der man ebenso zurückkommen wird, wie von der philosophischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0154] Hochschule jene Disciplin nachholen können. Auch ist dem Französischen zu viel Platz eingeräumt, man braucht die Menge ver Stunden gar nicht, wenn man es nur vernünftig anfängt, und gewinnt so fürs Latein, dieses bildet dann nach wie vor die feste grammatische Grundlage für alle Sprachen. Ja man könnte sich versucht fühlen, selbst dem Griechischen an der Realschule eine ähnliche Stellung einzuräumen, wie dem Englischen an der Gelehrtenschule, die formelle Schwierigkeit ist aber unbesieglich. Vielleicht könnte man es facultativ sein lassen, wie etwa die Chemie an der Gelehrtenschule. Wie schön würde so die unselige Spaltung der deutschen höhern Bildung, welche sich seit einigen Jahrzehnten weiter und weiter öffnet, wieder in die Bahn der Ver¬ einigung und Versöhnung eingelenkt!! Die Mathematik ist bisher auf der Gelehrtenschule sehr stiefmütterlich be¬ handelt worden. Wer darin auch noch so sehr zurückgeblieben war, er wurde doch versetzt, wenn er im Uebrigen tüchtig war, und das gab natürlich in den Oberclassen ein Gemisch von Eingeweihten, Halbwissen: und gänzlichen Igno¬ ranten, mit dem auch der beste Lehrer etwas auszurichten verzweifeln mußte. Oft kam der Uebelstand hinzu, daß der Unterricht nicht in geschickten Händen lag und es wurde nur ausnahmsweise von Seiten der Oberleitung Werth darauf gelegt, ja sogar es heimlich gern gesehen, wenn die Schüler dafür wenig oder gar nicht in Anspruch genommen wurden. Obwol diese Mangelhaftigkeit noch manche gute Gelehrtenschule, die ich kenne, trifft, so hat sich doch ein deutliches Streben gezeigt, den mathematisch-physikalischen Unterricht zu heben, man hat ihm namentlich mehr Stunden in den Oberclassen, gemeiniglich <M Preußen) vier (während früher immer nur zwei waren) zugelegt, doch auch drei. Es wäre zu wünschen, daß man ein festes Ziel in der Elementarmathematik nicht nur erstrebte, sondern auch wirklich erreichte: denn sonst wäre das Zu¬ legen von Stunden nur verloren. Eine so gewaltige Erscheinung wie Lessing sollte uns lehren, was es heißt, mathematischen Scharfsinn besitzen. Aber er besaß freilich noch mehr, als das, Geist und Charakter und unbegrenzte Wahr¬ heitsliebe, und nun wurde die mathematische Präciston seines Ausdrucks und die mathematisch-forcible Entwicklung seines Denkens die glänzende Außen¬ seite des tieferen Innern; erst so wurde er der Vater der deutschen Gelehr¬ samkeit. Die Realschule nun legt darauf den größten Werth. Mit vollem Recht wird die Versetzung wesentlich auch nach diesen Kenntnissen bestimmt, denn nirgends lassen Sprünge sich weniger gutmachen, als hier. Hier muß ganz regelmäßig, ganz systematisch aufgebaut werden, oder man erreicht gar nichts. Aber wir halten das Ziel an mancher dieser Schulen für sehr überspannt- Das Heranziehen der höhern Mathematik in den Schulunterricht ist eine Thorheit, von der man ebenso zurückkommen wird, wie von der philosophischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/154
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/154>, abgerufen am 22.07.2024.