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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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einen Reichthum von Anschauungen und Denkformen aus den fremden Idio¬
men gewonnen, aber der Ringkampf war leichter, der Sieg wohlfeiler. Er hat
eine gewandte Zunge, eine geschliffene Form erreicht, wohl ihm, wenn er
daneben Begeisterung und Liebe für seine insularischen Brüder, für ihre männ¬
liche Kraft, Besonnenheit, Wahrheitsliebe, Religiosität und geistige Tiefe er¬
obert hat, die praktische Richtung derselben wird ihn schon ohnehin ansprechen,
denn er ist ein coulanter Mann, ein Kosmopolit, aber wird er auch Zeit
haben, seine Seele in einen Milton oder Shakespeare zu versenken? oder
werden seine Lehrer sie ihm erst dann lassen, wenn er Maschinen bauen,
Schmetterlinge sangen und Vögel ausstopfen soll? Wohl ihm, wenn sie weise
genug waren, ihm diese Zeit zu lassen, ihn selbst darein tiefer einzuführen.
Er hat dann doch ein Feld, wo es nicht aus geläufiges Parliren und auf er¬
lerntes Wissen und dessen geschickte Anwendung ankommt. , Er hat dann doch
einen Gegenstand seiner ehrfurchtsvollen Scheu, wo er sein cui bono? nicht
anbringen kann und die Keime des Hohen und Edeln senken sich auch in
seine Seele. Nur möge er nicht sich denationalistren -- eine Gefahr, die bei
dem Gelehrtenschüler nicht verHanden ist, der ja nach alter deutscher Art den
Thurm seiner Bildung aufbaut. Eins aber hat der Realschüler voraus: er
lernt arbeiten, was der Gelehrtenschüler durchaus nicht immer lernt. Aber
warum wollt Ihr nicht auch den Gelehrtenschüler an den Vortheilen der Real¬
schule Antheil haben lassen, und umgekehrt? Ist wirklich keine Zeit da, daß
jener Französisch lerne und dieser Latein? Laßt nur dort einen Mann sein,
der kein bloßer. Parleur sondern sittlich und geistig rüchtig ist, so wird es
ihm ohne alle Schwierigkeit in zwei Stunden wöchentlich (aber von unten auf,
schon der Aussprache wegen) gelingen, so gut im geistigen Erercitium sich be¬
wegenden Knaben recht hübsch französisch zu lehren, selbst Sprechen und Schrei¬
ben. Und warum soll dem gelehrten Schüler das reiche Bildungselement der eng¬
lischen Ausdrucksweise und Literatur verschlossen bleiben, warum soll er nicht
aus der stolzen Idealität classischer Einseitigkeit durch Hinweisung auf die
Praktische Weisheit der Engländer gerissen werden? -- Ich unternehme es, in
zwei Stunden wöchentlich in den drei Oberclassen die Schüler zum Verstehn
der schwersten englischen Schriftsteller und selbst zu einiger Gewandtheit im
Schreiben und Sprechen zu bringen. Und hat der Realschüler nicht auch ein
Anrecht darauf, daß er durch den schweren Kampf mit einer alten Sprache
seine Kraft stähle? Oder ist wirklich keine Zeit dazu? -- Die Frage hängt
freilich mit dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht zusammen, aber
wir fragen gleich hier: Sollte mehr daran liegen, ob ein Knabe eine mathe¬
matische Disciplin mehr wisse, oder ob er von der Geschlossenheit und Tüch¬
tigkeit, der Präcision und menschenbildenden Weisheit der Alten auch durch¬
drungen wird? Wir meinen, er wird schärfern und klarern Geistes auf der


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einen Reichthum von Anschauungen und Denkformen aus den fremden Idio¬
men gewonnen, aber der Ringkampf war leichter, der Sieg wohlfeiler. Er hat
eine gewandte Zunge, eine geschliffene Form erreicht, wohl ihm, wenn er
daneben Begeisterung und Liebe für seine insularischen Brüder, für ihre männ¬
liche Kraft, Besonnenheit, Wahrheitsliebe, Religiosität und geistige Tiefe er¬
obert hat, die praktische Richtung derselben wird ihn schon ohnehin ansprechen,
denn er ist ein coulanter Mann, ein Kosmopolit, aber wird er auch Zeit
haben, seine Seele in einen Milton oder Shakespeare zu versenken? oder
werden seine Lehrer sie ihm erst dann lassen, wenn er Maschinen bauen,
Schmetterlinge sangen und Vögel ausstopfen soll? Wohl ihm, wenn sie weise
genug waren, ihm diese Zeit zu lassen, ihn selbst darein tiefer einzuführen.
Er hat dann doch ein Feld, wo es nicht aus geläufiges Parliren und auf er¬
lerntes Wissen und dessen geschickte Anwendung ankommt. , Er hat dann doch
einen Gegenstand seiner ehrfurchtsvollen Scheu, wo er sein cui bono? nicht
anbringen kann und die Keime des Hohen und Edeln senken sich auch in
seine Seele. Nur möge er nicht sich denationalistren — eine Gefahr, die bei
dem Gelehrtenschüler nicht verHanden ist, der ja nach alter deutscher Art den
Thurm seiner Bildung aufbaut. Eins aber hat der Realschüler voraus: er
lernt arbeiten, was der Gelehrtenschüler durchaus nicht immer lernt. Aber
warum wollt Ihr nicht auch den Gelehrtenschüler an den Vortheilen der Real¬
schule Antheil haben lassen, und umgekehrt? Ist wirklich keine Zeit da, daß
jener Französisch lerne und dieser Latein? Laßt nur dort einen Mann sein,
der kein bloßer. Parleur sondern sittlich und geistig rüchtig ist, so wird es
ihm ohne alle Schwierigkeit in zwei Stunden wöchentlich (aber von unten auf,
schon der Aussprache wegen) gelingen, so gut im geistigen Erercitium sich be¬
wegenden Knaben recht hübsch französisch zu lehren, selbst Sprechen und Schrei¬
ben. Und warum soll dem gelehrten Schüler das reiche Bildungselement der eng¬
lischen Ausdrucksweise und Literatur verschlossen bleiben, warum soll er nicht
aus der stolzen Idealität classischer Einseitigkeit durch Hinweisung auf die
Praktische Weisheit der Engländer gerissen werden? — Ich unternehme es, in
zwei Stunden wöchentlich in den drei Oberclassen die Schüler zum Verstehn
der schwersten englischen Schriftsteller und selbst zu einiger Gewandtheit im
Schreiben und Sprechen zu bringen. Und hat der Realschüler nicht auch ein
Anrecht darauf, daß er durch den schweren Kampf mit einer alten Sprache
seine Kraft stähle? Oder ist wirklich keine Zeit dazu? — Die Frage hängt
freilich mit dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht zusammen, aber
wir fragen gleich hier: Sollte mehr daran liegen, ob ein Knabe eine mathe¬
matische Disciplin mehr wisse, oder ob er von der Geschlossenheit und Tüch¬
tigkeit, der Präcision und menschenbildenden Weisheit der Alten auch durch¬
drungen wird? Wir meinen, er wird schärfern und klarern Geistes auf der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/153>, abgerufen am 22.07.2024.