Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

stehen. -- Die B ürgscha se ist eine lebhafte Erzählung ohne höhern poetischen
Werth, die schwächste unter all diesen Balladen ist Hero und Leander, wo
man über der mühsam ausgeführten Farbe und über der Eintönigkeit des
Rhythmus die Umrisse der Gegenstände ganz aus den Augen verliert.

Der Ton, den Schiller in der Ballade angeschlagen hatte, pflanzte sich
sofort auf die übrigen Dichter seiner Schule über, umsomehr, da die Stimmung
in der Zeit lag. Bei dem eifrigsten Mitarbeiter dieser Galtung, bei A. W. S est e-
ge l, würde man sich versucht fühlen, gradezu an eine Nachbildung zu glauben,
wenn nicht zwei seiner Balladen, S i by l le (4787) und Ariadne (-1790) die
im Ton sehr stark an Kassandra und Hero und Leander erinnern, vor den¬
selben geschrieben wären. Bei den folgenden: Pygmalion (1796), Arion,
Prometheus, die entführten Götter, LebenSmclodien (1797),
Kampaspe (1798) ist nun freilich die Einwirkung des Schillerschen Stils
nicht zu verkennen: die Verwandtschaft liegt nicht blos in dem Stoff, der d<in
Alterthum entnommen und sentimentalisch oder auch romantisch behandelt ist,
sondern auch in der Tendenz.

Wie die Schillerschen Gedichte, feiern diese Versuche fast ohne Unterschied
die Kunst und ihre Macht über das menschliche Gemüth, wie über die Natur.
Im Arion macht sich der Delphin dem Künstler dienstbar, im Pygmalion beu¬
gen sich die Naturgesetze vor der küusterischen Sehnsucht, in der Kampaspe
trägt der Künstler über den Helden selbst in der Liebe den Sieg davon, in
den Lebeüsmelodien singen die mythologischen Vögel Griechenlands den Sterb¬
lichen ihre Orakel. Die Ausführung bleibt freilich sehr weit zurück. Schlegel
war ein vorzüglicher Sprachkünstler, aber kein geborner Dichter. Seine Ein¬
bildungskraft war arm und er konnte nie aus dem Vollen schöpfen; darum haben
seine Gestalten etwas Gedrechseltes. Daß in jener Zeit ein hochgebildeter
Mann sein eignes Talent so sehr verkennen konnte, und daß nicht blos die
jüngern, sondern auch ältere competente Richter sich darüber täuschten, wird
begreiflich, wenn man die damalige Lage der Literatur in Anschlag bringt.
Daß die Poesie die höchste, ja im Grunde die einzig würdige Thätigkeit des
Mensche" sei, galt im Kreise von Weimar für eine ausgemachte Sache. Die
innere Neigung trieb alle Welt zur Poesie. Nun war aber grade damals die
Dichtkunst in der Lage, sich nnchsam eine Form suchen zu müssen, und selbst
bei Goethe und Schiller sahen die Gedichte zuweilen wie Erperimente aus, die
der Hauptsache, den ästhetischen Gesetzen, zu Gute kommen sollten. Hier thätig
einzugreifen mußte sich Schlegel mis-seinem überwiegend formalen Talent um¬
somehr berufen fühlen, da er den Vortheil der strengern Methode voraus hatte
und das auch sehr wohl fühlte, und da er seinen warmen Antheil und sein
eindringendes Verständniß der neuen Bewegung, wie es in solchen Fällen ge¬
wöhnlich geschieht, für innern Beruf hielt. Bei einem großen Theil der damaligen


63 *

stehen. — Die B ürgscha se ist eine lebhafte Erzählung ohne höhern poetischen
Werth, die schwächste unter all diesen Balladen ist Hero und Leander, wo
man über der mühsam ausgeführten Farbe und über der Eintönigkeit des
Rhythmus die Umrisse der Gegenstände ganz aus den Augen verliert.

Der Ton, den Schiller in der Ballade angeschlagen hatte, pflanzte sich
sofort auf die übrigen Dichter seiner Schule über, umsomehr, da die Stimmung
in der Zeit lag. Bei dem eifrigsten Mitarbeiter dieser Galtung, bei A. W. S est e-
ge l, würde man sich versucht fühlen, gradezu an eine Nachbildung zu glauben,
wenn nicht zwei seiner Balladen, S i by l le (4787) und Ariadne (-1790) die
im Ton sehr stark an Kassandra und Hero und Leander erinnern, vor den¬
selben geschrieben wären. Bei den folgenden: Pygmalion (1796), Arion,
Prometheus, die entführten Götter, LebenSmclodien (1797),
Kampaspe (1798) ist nun freilich die Einwirkung des Schillerschen Stils
nicht zu verkennen: die Verwandtschaft liegt nicht blos in dem Stoff, der d<in
Alterthum entnommen und sentimentalisch oder auch romantisch behandelt ist,
sondern auch in der Tendenz.

Wie die Schillerschen Gedichte, feiern diese Versuche fast ohne Unterschied
die Kunst und ihre Macht über das menschliche Gemüth, wie über die Natur.
Im Arion macht sich der Delphin dem Künstler dienstbar, im Pygmalion beu¬
gen sich die Naturgesetze vor der küusterischen Sehnsucht, in der Kampaspe
trägt der Künstler über den Helden selbst in der Liebe den Sieg davon, in
den Lebeüsmelodien singen die mythologischen Vögel Griechenlands den Sterb¬
lichen ihre Orakel. Die Ausführung bleibt freilich sehr weit zurück. Schlegel
war ein vorzüglicher Sprachkünstler, aber kein geborner Dichter. Seine Ein¬
bildungskraft war arm und er konnte nie aus dem Vollen schöpfen; darum haben
seine Gestalten etwas Gedrechseltes. Daß in jener Zeit ein hochgebildeter
Mann sein eignes Talent so sehr verkennen konnte, und daß nicht blos die
jüngern, sondern auch ältere competente Richter sich darüber täuschten, wird
begreiflich, wenn man die damalige Lage der Literatur in Anschlag bringt.
Daß die Poesie die höchste, ja im Grunde die einzig würdige Thätigkeit des
Mensche» sei, galt im Kreise von Weimar für eine ausgemachte Sache. Die
innere Neigung trieb alle Welt zur Poesie. Nun war aber grade damals die
Dichtkunst in der Lage, sich nnchsam eine Form suchen zu müssen, und selbst
bei Goethe und Schiller sahen die Gedichte zuweilen wie Erperimente aus, die
der Hauptsache, den ästhetischen Gesetzen, zu Gute kommen sollten. Hier thätig
einzugreifen mußte sich Schlegel mis-seinem überwiegend formalen Talent um¬
somehr berufen fühlen, da er den Vortheil der strengern Methode voraus hatte
und das auch sehr wohl fühlte, und da er seinen warmen Antheil und sein
eindringendes Verständniß der neuen Bewegung, wie es in solchen Fällen ge¬
wöhnlich geschieht, für innern Beruf hielt. Bei einem großen Theil der damaligen


63 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0507" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99893"/>
          <p xml:id="ID_1727" prev="#ID_1726"> stehen. &#x2014; Die B ürgscha se ist eine lebhafte Erzählung ohne höhern poetischen<lb/>
Werth, die schwächste unter all diesen Balladen ist Hero und Leander, wo<lb/>
man über der mühsam ausgeführten Farbe und über der Eintönigkeit des<lb/>
Rhythmus die Umrisse der Gegenstände ganz aus den Augen verliert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1728"> Der Ton, den Schiller in der Ballade angeschlagen hatte, pflanzte sich<lb/>
sofort auf die übrigen Dichter seiner Schule über, umsomehr, da die Stimmung<lb/>
in der Zeit lag. Bei dem eifrigsten Mitarbeiter dieser Galtung, bei A. W. S est e-<lb/>
ge l, würde man sich versucht fühlen, gradezu an eine Nachbildung zu glauben,<lb/>
wenn nicht zwei seiner Balladen, S i by l le (4787) und Ariadne (-1790) die<lb/>
im Ton sehr stark an Kassandra und Hero und Leander erinnern, vor den¬<lb/>
selben geschrieben wären. Bei den folgenden: Pygmalion (1796), Arion,<lb/>
Prometheus, die entführten Götter, LebenSmclodien (1797),<lb/>
Kampaspe (1798) ist nun freilich die Einwirkung des Schillerschen Stils<lb/>
nicht zu verkennen: die Verwandtschaft liegt nicht blos in dem Stoff, der d&lt;in<lb/>
Alterthum entnommen und sentimentalisch oder auch romantisch behandelt ist,<lb/>
sondern auch in der Tendenz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1729" next="#ID_1730"> Wie die Schillerschen Gedichte, feiern diese Versuche fast ohne Unterschied<lb/>
die Kunst und ihre Macht über das menschliche Gemüth, wie über die Natur.<lb/>
Im Arion macht sich der Delphin dem Künstler dienstbar, im Pygmalion beu¬<lb/>
gen sich die Naturgesetze vor der küusterischen Sehnsucht, in der Kampaspe<lb/>
trägt der Künstler über den Helden selbst in der Liebe den Sieg davon, in<lb/>
den Lebeüsmelodien singen die mythologischen Vögel Griechenlands den Sterb¬<lb/>
lichen ihre Orakel. Die Ausführung bleibt freilich sehr weit zurück. Schlegel<lb/>
war ein vorzüglicher Sprachkünstler, aber kein geborner Dichter. Seine Ein¬<lb/>
bildungskraft war arm und er konnte nie aus dem Vollen schöpfen; darum haben<lb/>
seine Gestalten etwas Gedrechseltes. Daß in jener Zeit ein hochgebildeter<lb/>
Mann sein eignes Talent so sehr verkennen konnte, und daß nicht blos die<lb/>
jüngern, sondern auch ältere competente Richter sich darüber täuschten, wird<lb/>
begreiflich, wenn man die damalige Lage der Literatur in Anschlag bringt.<lb/>
Daß die Poesie die höchste, ja im Grunde die einzig würdige Thätigkeit des<lb/>
Mensche» sei, galt im Kreise von Weimar für eine ausgemachte Sache. Die<lb/>
innere Neigung trieb alle Welt zur Poesie. Nun war aber grade damals die<lb/>
Dichtkunst in der Lage, sich nnchsam eine Form suchen zu müssen, und selbst<lb/>
bei Goethe und Schiller sahen die Gedichte zuweilen wie Erperimente aus, die<lb/>
der Hauptsache, den ästhetischen Gesetzen, zu Gute kommen sollten. Hier thätig<lb/>
einzugreifen mußte sich Schlegel mis-seinem überwiegend formalen Talent um¬<lb/>
somehr berufen fühlen, da er den Vortheil der strengern Methode voraus hatte<lb/>
und das auch sehr wohl fühlte, und da er seinen warmen Antheil und sein<lb/>
eindringendes Verständniß der neuen Bewegung, wie es in solchen Fällen ge¬<lb/>
wöhnlich geschieht, für innern Beruf hielt. Bei einem großen Theil der damaligen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 63 *</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0507] stehen. — Die B ürgscha se ist eine lebhafte Erzählung ohne höhern poetischen Werth, die schwächste unter all diesen Balladen ist Hero und Leander, wo man über der mühsam ausgeführten Farbe und über der Eintönigkeit des Rhythmus die Umrisse der Gegenstände ganz aus den Augen verliert. Der Ton, den Schiller in der Ballade angeschlagen hatte, pflanzte sich sofort auf die übrigen Dichter seiner Schule über, umsomehr, da die Stimmung in der Zeit lag. Bei dem eifrigsten Mitarbeiter dieser Galtung, bei A. W. S est e- ge l, würde man sich versucht fühlen, gradezu an eine Nachbildung zu glauben, wenn nicht zwei seiner Balladen, S i by l le (4787) und Ariadne (-1790) die im Ton sehr stark an Kassandra und Hero und Leander erinnern, vor den¬ selben geschrieben wären. Bei den folgenden: Pygmalion (1796), Arion, Prometheus, die entführten Götter, LebenSmclodien (1797), Kampaspe (1798) ist nun freilich die Einwirkung des Schillerschen Stils nicht zu verkennen: die Verwandtschaft liegt nicht blos in dem Stoff, der d<in Alterthum entnommen und sentimentalisch oder auch romantisch behandelt ist, sondern auch in der Tendenz. Wie die Schillerschen Gedichte, feiern diese Versuche fast ohne Unterschied die Kunst und ihre Macht über das menschliche Gemüth, wie über die Natur. Im Arion macht sich der Delphin dem Künstler dienstbar, im Pygmalion beu¬ gen sich die Naturgesetze vor der küusterischen Sehnsucht, in der Kampaspe trägt der Künstler über den Helden selbst in der Liebe den Sieg davon, in den Lebeüsmelodien singen die mythologischen Vögel Griechenlands den Sterb¬ lichen ihre Orakel. Die Ausführung bleibt freilich sehr weit zurück. Schlegel war ein vorzüglicher Sprachkünstler, aber kein geborner Dichter. Seine Ein¬ bildungskraft war arm und er konnte nie aus dem Vollen schöpfen; darum haben seine Gestalten etwas Gedrechseltes. Daß in jener Zeit ein hochgebildeter Mann sein eignes Talent so sehr verkennen konnte, und daß nicht blos die jüngern, sondern auch ältere competente Richter sich darüber täuschten, wird begreiflich, wenn man die damalige Lage der Literatur in Anschlag bringt. Daß die Poesie die höchste, ja im Grunde die einzig würdige Thätigkeit des Mensche» sei, galt im Kreise von Weimar für eine ausgemachte Sache. Die innere Neigung trieb alle Welt zur Poesie. Nun war aber grade damals die Dichtkunst in der Lage, sich nnchsam eine Form suchen zu müssen, und selbst bei Goethe und Schiller sahen die Gedichte zuweilen wie Erperimente aus, die der Hauptsache, den ästhetischen Gesetzen, zu Gute kommen sollten. Hier thätig einzugreifen mußte sich Schlegel mis-seinem überwiegend formalen Talent um¬ somehr berufen fühlen, da er den Vortheil der strengern Methode voraus hatte und das auch sehr wohl fühlte, und da er seinen warmen Antheil und sein eindringendes Verständniß der neuen Bewegung, wie es in solchen Fällen ge¬ wöhnlich geschieht, für innern Beruf hielt. Bei einem großen Theil der damaligen 63 *

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/507
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/507>, abgerufen am 29.06.2024.