Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.Stelle einnehmen, weil es aus eine sehr geistvolle Weise den fremdartigen Stelle einnehmen, weil es aus eine sehr geistvolle Weise den fremdartigen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99892"/> <p xml:id="ID_1726" prev="#ID_1725" next="#ID_1727"> Stelle einnehmen, weil es aus eine sehr geistvolle Weise den fremdartigen<lb/> Stoff dem allgemein menschlichen Gefühl vergegenwärtigt. Bekanntlich kommt<lb/> nicht das ganze Verdienst dieses Gedichts Schiller zu, den Stoff verdankte<lb/> er Goethe, der ihm anch bei der Bearbeitung einige technische Kunstgriffe an<lb/> die Hand gab; das prachtvolle Citat aus Aeschylus ist fast wörtlich der<lb/> Humboldtschen Uebersetzung entlehnt. In der Erzählung selbst tritt manches<lb/> Moment nicht scharf und deutlich genug hervor und einige Härten der Form<lb/> hätte man wol wegwünschen mögen. Trotzdem ist es ein schönes Gedicht von<lb/> schlagender und überzeugender Wirkung und wenn auch der Poesie eine be¬<lb/> denkliche Macht beigelegt wird, in!?em zuerst die Götter sich des Dichters an¬<lb/> nehmen, weil er ein Dichter ist, und dann die Poesie unmittelbar bei der Ent¬<lb/> deckung des Mörders ein Wunder thut, so ist dieser poetische Idealismus doch<lb/> so menschlich ausgedruckt, daß wir an das Reich der Schalten nicht erinnert<lb/> werden. Freilich ist auch dieses Gedicht mehr geistreich gedacht, als unmittel¬<lb/> bar poetisch empfangen, und man wirb der Lenore trotz wüsten Inhalts und<lb/> der Rohheit in der Form den Vorzug geben. — In hartem Gegensatz gegen<lb/> die Kraniche steht der Ring des Polykrates. In den Kranichen wird<lb/> uns die griechische Anschauung von dem Eingreifen der seelenlosen Natur in<lb/> den Lauf des Schicksals, in den Rathschluß der Götter nicht einfach erzählt,<lb/> sondern unsrem Gefühl verständlich gemacht; im Polykrates dagegen ist die<lb/> uns vollkommen fremdartige und zurückstoßende Idee von dem Neide der Götter<lb/> gewissermaßen aufgedrungen, ohne daß unsre Einbildungskraft oder unser Ge¬<lb/> wissen darauf vorbereitet wurde. Den Gedanken selbst hat Schiller in Wallen¬<lb/> stein mit unvergleichlicher Hoheit ausgeführt, bei Goethe ist es gradezu der<lb/> Lieblingsgedanke; denn das dämonische Wesen, das er als Werkmeister der<lb/> Erde verehrt, hat von jener griechischen Eifersucht auf übermenschliches Glück<lb/> mehr in sich, als von der Idee der christlichen Barmherzigkeit. Im Polykrates<lb/> wird unsre Empfindung gar nicht angeregt, die Geschichte erscheint wie eine<lb/> versificirte Anekdote, deren Sinn wir nicht verstehen. — Einen schönen lyri¬<lb/> schen Tonfall hat das Sieg es fest und der düstere Klang, der sich durch daS<lb/> Gelag der Griechen hindurchzieht, ist von einer wunderbaren poetischen Fär¬<lb/> bung, wenn auch den Empfindungen und Trinksprüchen alle Gruppirung fehlt.<lb/> Dasselbe gilt von „Kassandra", einerglühenden prophetischen Vision, in welcher<lb/> das nachlwandlensthe einsame Wesen des Begeisterten, der von seiner Zeit<lb/> nicht verstanden wird, mit großer Wahrheit der Phantasie dargestellt wird.<lb/> Es ist schade, daß sich Schiller in all diesen Versuchen als gelehrter Dichter<lb/> fühlte und durch Anspielungen ersetzte, was doch in der Dichtung vollständig<lb/> gegeben werden muß, auch wo man es mit einem geläufigem und bekanntern<lb/> Stoff zu thun hat, als hier. Der Schluß ist unbefriedigend, weil die in dem¬<lb/> selben angeführten Ereignisse zu dem vorher Erzählten in keinem Verhältniß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0506]
Stelle einnehmen, weil es aus eine sehr geistvolle Weise den fremdartigen
Stoff dem allgemein menschlichen Gefühl vergegenwärtigt. Bekanntlich kommt
nicht das ganze Verdienst dieses Gedichts Schiller zu, den Stoff verdankte
er Goethe, der ihm anch bei der Bearbeitung einige technische Kunstgriffe an
die Hand gab; das prachtvolle Citat aus Aeschylus ist fast wörtlich der
Humboldtschen Uebersetzung entlehnt. In der Erzählung selbst tritt manches
Moment nicht scharf und deutlich genug hervor und einige Härten der Form
hätte man wol wegwünschen mögen. Trotzdem ist es ein schönes Gedicht von
schlagender und überzeugender Wirkung und wenn auch der Poesie eine be¬
denkliche Macht beigelegt wird, in!?em zuerst die Götter sich des Dichters an¬
nehmen, weil er ein Dichter ist, und dann die Poesie unmittelbar bei der Ent¬
deckung des Mörders ein Wunder thut, so ist dieser poetische Idealismus doch
so menschlich ausgedruckt, daß wir an das Reich der Schalten nicht erinnert
werden. Freilich ist auch dieses Gedicht mehr geistreich gedacht, als unmittel¬
bar poetisch empfangen, und man wirb der Lenore trotz wüsten Inhalts und
der Rohheit in der Form den Vorzug geben. — In hartem Gegensatz gegen
die Kraniche steht der Ring des Polykrates. In den Kranichen wird
uns die griechische Anschauung von dem Eingreifen der seelenlosen Natur in
den Lauf des Schicksals, in den Rathschluß der Götter nicht einfach erzählt,
sondern unsrem Gefühl verständlich gemacht; im Polykrates dagegen ist die
uns vollkommen fremdartige und zurückstoßende Idee von dem Neide der Götter
gewissermaßen aufgedrungen, ohne daß unsre Einbildungskraft oder unser Ge¬
wissen darauf vorbereitet wurde. Den Gedanken selbst hat Schiller in Wallen¬
stein mit unvergleichlicher Hoheit ausgeführt, bei Goethe ist es gradezu der
Lieblingsgedanke; denn das dämonische Wesen, das er als Werkmeister der
Erde verehrt, hat von jener griechischen Eifersucht auf übermenschliches Glück
mehr in sich, als von der Idee der christlichen Barmherzigkeit. Im Polykrates
wird unsre Empfindung gar nicht angeregt, die Geschichte erscheint wie eine
versificirte Anekdote, deren Sinn wir nicht verstehen. — Einen schönen lyri¬
schen Tonfall hat das Sieg es fest und der düstere Klang, der sich durch daS
Gelag der Griechen hindurchzieht, ist von einer wunderbaren poetischen Fär¬
bung, wenn auch den Empfindungen und Trinksprüchen alle Gruppirung fehlt.
Dasselbe gilt von „Kassandra", einerglühenden prophetischen Vision, in welcher
das nachlwandlensthe einsame Wesen des Begeisterten, der von seiner Zeit
nicht verstanden wird, mit großer Wahrheit der Phantasie dargestellt wird.
Es ist schade, daß sich Schiller in all diesen Versuchen als gelehrter Dichter
fühlte und durch Anspielungen ersetzte, was doch in der Dichtung vollständig
gegeben werden muß, auch wo man es mit einem geläufigem und bekanntern
Stoff zu thun hat, als hier. Der Schluß ist unbefriedigend, weil die in dem¬
selben angeführten Ereignisse zu dem vorher Erzählten in keinem Verhältniß
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