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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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in einem innern Zusammenhang standen oder nicht. Bei der letzten Redaction
klebte er die Papiere, die irgend passen wollten, beliebig zusammen, und so
entstand die letzte Hälfte des Werks, die keinen Abschluß fand und ihn auch
nicht finden konnte.

So gehen diese beiden Werke nebeneinander her und begleiten den Dichter
durch sein ganzes Leben. Was zur idealen Welt gehörte, fand im Faust, was
sich auf die reale bezog, im Meister seine Stelle. Bekanntlich sollten ursprüng¬
lich auch die Wahlverwandschaften in die Wanderjahre aufgenommen werden i
ein glückliches Schicksal, welches den Dichter dies Mal wider Gewohnheit zur
raschen Vollendung trieb, bewahrte sie vor dieser Verkümmerung.

Die nähern Freunde Goethe's, Schiller, Humboldt, Körner, Friedrich
Schlegel :c., sodann in der Ferne Rahel und ihre Gleichgestimmten, fanden,
daß jede Spur des Aneinanderschweißens völlig verwischt sei, und daß der
Roman in seiner innern Harmonie und Vollendung dastehe wie ein Kunst¬
werk aus Erz gegossen. Der aufmerksame Leser wird nun wol diesem Urtheil
nur bedingt beipflichten. Schon in dem einfachen Zusammenhang der Ge¬
schichte finden sich zahlreiche Widersprüche. Schiller hat seinen Freund auf
einige derselben aufmerksam gemacht, die in der That glücklich entfernt sind;
allein es ist noch so mancher stehen geblieben. Daß trotzdem soviel anschei¬
nende und wirkliche Einheit in dem Werke herrscht, liegt in der Eigenthüm¬
lichkeit der Composttion.

Um diese klar zu machen, erlaube man uns die Herbeiziehung eiyes an¬
dern Kunstgebieth.. In der Malerei kommt es einem Theil' der Künstler
darauf an, den Gegenstand, den sie darstellen wollen, so zu beleuchten, daß
er auf eine ideale Weise dem Zuschauer deutlich wird. Was sie von Kunst
in dem Gemälde anwenden, dient nur dazu, dem Gegenstande gerecht zu wer¬
den. Es gibt aber eine andere Gattung der Malerei, der es auf den wun¬
derbaren, anmuthigen Wechsel von Farbe und Stimmung ankommt, und die
diesem sinnlichen Eindruck zu Liebe ihre Gegenstände erfindet, verarbeitet, allen¬
falls auch zerstört. Es sind nicht schlechte Künstler, die nach dieser Richtung,
gearbeitet haben: wir rechnen den bei weitem größern Theil der Niederländer
und Spanier dazu.

Der Wilhelm Meister gehört seiner Composition nach dieser sinnlichen
Schule an. Er ist nicht organisch aus dem Charakter, der Situation oder
dem sittlichen Problem aufgewachsen, sondern nach dem Bedürfniß der Farbe
und Stimmung zusammengesetzt. Daraus erklären sich manche schwächen in
Beziehung auf den psychologischen und sittlichen Gehalt, aber auch manche
Vorzüge; daraus erklärt sich, daß trotz der zersplitterten Arbeit von zwanzig
Jahren, in denen die Gemüthsbildung des Dichters die mannigfaltigsten Me¬
tamorphosen durchmachte, dennoch eine Ar^t von idealer künstlerischer Einheit


in einem innern Zusammenhang standen oder nicht. Bei der letzten Redaction
klebte er die Papiere, die irgend passen wollten, beliebig zusammen, und so
entstand die letzte Hälfte des Werks, die keinen Abschluß fand und ihn auch
nicht finden konnte.

So gehen diese beiden Werke nebeneinander her und begleiten den Dichter
durch sein ganzes Leben. Was zur idealen Welt gehörte, fand im Faust, was
sich auf die reale bezog, im Meister seine Stelle. Bekanntlich sollten ursprüng¬
lich auch die Wahlverwandschaften in die Wanderjahre aufgenommen werden i
ein glückliches Schicksal, welches den Dichter dies Mal wider Gewohnheit zur
raschen Vollendung trieb, bewahrte sie vor dieser Verkümmerung.

Die nähern Freunde Goethe's, Schiller, Humboldt, Körner, Friedrich
Schlegel :c., sodann in der Ferne Rahel und ihre Gleichgestimmten, fanden,
daß jede Spur des Aneinanderschweißens völlig verwischt sei, und daß der
Roman in seiner innern Harmonie und Vollendung dastehe wie ein Kunst¬
werk aus Erz gegossen. Der aufmerksame Leser wird nun wol diesem Urtheil
nur bedingt beipflichten. Schon in dem einfachen Zusammenhang der Ge¬
schichte finden sich zahlreiche Widersprüche. Schiller hat seinen Freund auf
einige derselben aufmerksam gemacht, die in der That glücklich entfernt sind;
allein es ist noch so mancher stehen geblieben. Daß trotzdem soviel anschei¬
nende und wirkliche Einheit in dem Werke herrscht, liegt in der Eigenthüm¬
lichkeit der Composttion.

Um diese klar zu machen, erlaube man uns die Herbeiziehung eiyes an¬
dern Kunstgebieth.. In der Malerei kommt es einem Theil' der Künstler
darauf an, den Gegenstand, den sie darstellen wollen, so zu beleuchten, daß
er auf eine ideale Weise dem Zuschauer deutlich wird. Was sie von Kunst
in dem Gemälde anwenden, dient nur dazu, dem Gegenstande gerecht zu wer¬
den. Es gibt aber eine andere Gattung der Malerei, der es auf den wun¬
derbaren, anmuthigen Wechsel von Farbe und Stimmung ankommt, und die
diesem sinnlichen Eindruck zu Liebe ihre Gegenstände erfindet, verarbeitet, allen¬
falls auch zerstört. Es sind nicht schlechte Künstler, die nach dieser Richtung,
gearbeitet haben: wir rechnen den bei weitem größern Theil der Niederländer
und Spanier dazu.

Der Wilhelm Meister gehört seiner Composition nach dieser sinnlichen
Schule an. Er ist nicht organisch aus dem Charakter, der Situation oder
dem sittlichen Problem aufgewachsen, sondern nach dem Bedürfniß der Farbe
und Stimmung zusammengesetzt. Daraus erklären sich manche schwächen in
Beziehung auf den psychologischen und sittlichen Gehalt, aber auch manche
Vorzüge; daraus erklärt sich, daß trotz der zersplitterten Arbeit von zwanzig
Jahren, in denen die Gemüthsbildung des Dichters die mannigfaltigsten Me¬
tamorphosen durchmachte, dennoch eine Ar^t von idealer künstlerischer Einheit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/452>, abgerufen am 24.08.2024.