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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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organischen Zusammenhang stand, sie vielmehr nur beachtete, um sich aus der
Reflexion über sie ein neues Bildungsmoment anzueignen.

In den praktischen Lebensbeziehungen wird die Freiheit und Ueberein¬
stimmung mit sich selbst nur bedingt erreicht, sie hört aus, sobald man sein
Leben an einen äußern Zweck verpfändet. Da nun die gegenstandlose Freiheit
in sich selbst verkümmert, so kam es darauf an. eine Sphäre des Zwecks zu
finden , in welcher der Geist bei sich selbst bleibt und doch producirt. Diese
Sphäre fand die Kritik der Urtheilskraft in der Kunst, in dem Spiel des Ideals,
das sich nach geistigen Gesetzen ohne alle Rücksicht auf äußere Bedingungen
selbst bestimmt und sich daher als eine vollendete Harmonie darstellt. Mit
Jubel begrüßte der Dichtcrkreis von Weimar und Jena diese neue Entdeckung,
und es wurde nun der Glaube aller Gebildeten, daß die einzig würdige Thä¬
tigkeit des Menschen, der mit sich selbst übereinstimmen wolle, die Kunst sei,
und daß nur der Künstler die wahre Bestimmung des Menschen erfülle. Das
ist das Evangelium, welches der Wilhelm Meister zu verkündigen unternimmt.
In dieser Beziehung war er nicht etwa die Vollendung einer vorher schon ein¬
geschlagenen Richtung, sondern in Form und Inhalt eine ganz neue Schöpfung,
die gegen alles Frühere den entschiedensten Contrast bildete, und Friedrich
Schlegel hatte nicht Unrecht, ihn im Athenäum als ebenbürtige Erscheinung
neben die französische Revolution und die Wissenschaftslehre zu stellen.

In seiner Entstehung, in seiner Haltung, wie in seiner Wirkung muß
man diesen Roman mit dem Faust in Parallele stellen. Goethe begann ihn
ums Zahl 1777, als seine eignen Verhältnisse in Weimar sich einigermaßen
geklärt hatten. Die Erinnerungen an die unbefangene Zeit seiner Jugend¬
träume und Thorheiten, die nun wie ein Märchen hinter ihm lagen, krystal-
lisirten sich zu den Bildern des Puppenspiels, von denen der Uebergang zum
wirklichen Theater leicht war. Was sich dann in seinen weitern Erfahrungen
Bemerkenswerthes ereignete, wurde mehr oder minder lässig in diesen Rahmen
verwebt: die typischen Figuren der Gesellschaft, seine Ideale, seine Reflexionen
über die Kunst und das Leben u. s. w. So wuchs das Werk mosaikartig an;
die italienische Reise kam ihm nicht zu gut, und es blieb auch nach Vollendung
derselben liegen, bis äußerliche Veranlassungen den Dichter anregten, es wieder
aufzunehmen. Vor dem Abschluß trat der enge Bund mit Schiller ein, dessen
Einfluß sich für die letzte Vollendung sehr segensreich erwies. So wurden die
Lehrjahre zu Ende 1796 fertig; die Arbeit hatte volle zwanzig Jahre gedauert.
Aber damit war es nicht genug. Der Dichter fühlte noch immer die Unfer-
tigkeit der Bildung, zu der er seinen Helden geführt hatte. An die "Lehrjahre"
schlössen sich die "Wanderjahre" an, die in ihrer Zusammenstellung einen ganz
symbolischen Charakter haben. Es kam Goethe nicht mehr darauf an, ob die
äußeren Bestandtheile, die ungefähr in die Richtung seines Werks einschlugen,


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organischen Zusammenhang stand, sie vielmehr nur beachtete, um sich aus der
Reflexion über sie ein neues Bildungsmoment anzueignen.

In den praktischen Lebensbeziehungen wird die Freiheit und Ueberein¬
stimmung mit sich selbst nur bedingt erreicht, sie hört aus, sobald man sein
Leben an einen äußern Zweck verpfändet. Da nun die gegenstandlose Freiheit
in sich selbst verkümmert, so kam es darauf an. eine Sphäre des Zwecks zu
finden , in welcher der Geist bei sich selbst bleibt und doch producirt. Diese
Sphäre fand die Kritik der Urtheilskraft in der Kunst, in dem Spiel des Ideals,
das sich nach geistigen Gesetzen ohne alle Rücksicht auf äußere Bedingungen
selbst bestimmt und sich daher als eine vollendete Harmonie darstellt. Mit
Jubel begrüßte der Dichtcrkreis von Weimar und Jena diese neue Entdeckung,
und es wurde nun der Glaube aller Gebildeten, daß die einzig würdige Thä¬
tigkeit des Menschen, der mit sich selbst übereinstimmen wolle, die Kunst sei,
und daß nur der Künstler die wahre Bestimmung des Menschen erfülle. Das
ist das Evangelium, welches der Wilhelm Meister zu verkündigen unternimmt.
In dieser Beziehung war er nicht etwa die Vollendung einer vorher schon ein¬
geschlagenen Richtung, sondern in Form und Inhalt eine ganz neue Schöpfung,
die gegen alles Frühere den entschiedensten Contrast bildete, und Friedrich
Schlegel hatte nicht Unrecht, ihn im Athenäum als ebenbürtige Erscheinung
neben die französische Revolution und die Wissenschaftslehre zu stellen.

In seiner Entstehung, in seiner Haltung, wie in seiner Wirkung muß
man diesen Roman mit dem Faust in Parallele stellen. Goethe begann ihn
ums Zahl 1777, als seine eignen Verhältnisse in Weimar sich einigermaßen
geklärt hatten. Die Erinnerungen an die unbefangene Zeit seiner Jugend¬
träume und Thorheiten, die nun wie ein Märchen hinter ihm lagen, krystal-
lisirten sich zu den Bildern des Puppenspiels, von denen der Uebergang zum
wirklichen Theater leicht war. Was sich dann in seinen weitern Erfahrungen
Bemerkenswerthes ereignete, wurde mehr oder minder lässig in diesen Rahmen
verwebt: die typischen Figuren der Gesellschaft, seine Ideale, seine Reflexionen
über die Kunst und das Leben u. s. w. So wuchs das Werk mosaikartig an;
die italienische Reise kam ihm nicht zu gut, und es blieb auch nach Vollendung
derselben liegen, bis äußerliche Veranlassungen den Dichter anregten, es wieder
aufzunehmen. Vor dem Abschluß trat der enge Bund mit Schiller ein, dessen
Einfluß sich für die letzte Vollendung sehr segensreich erwies. So wurden die
Lehrjahre zu Ende 1796 fertig; die Arbeit hatte volle zwanzig Jahre gedauert.
Aber damit war es nicht genug. Der Dichter fühlte noch immer die Unfer-
tigkeit der Bildung, zu der er seinen Helden geführt hatte. An die „Lehrjahre"
schlössen sich die „Wanderjahre" an, die in ihrer Zusammenstellung einen ganz
symbolischen Charakter haben. Es kam Goethe nicht mehr darauf an, ob die
äußeren Bestandtheile, die ungefähr in die Richtung seines Werks einschlugen,


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[0451] organischen Zusammenhang stand, sie vielmehr nur beachtete, um sich aus der Reflexion über sie ein neues Bildungsmoment anzueignen. In den praktischen Lebensbeziehungen wird die Freiheit und Ueberein¬ stimmung mit sich selbst nur bedingt erreicht, sie hört aus, sobald man sein Leben an einen äußern Zweck verpfändet. Da nun die gegenstandlose Freiheit in sich selbst verkümmert, so kam es darauf an. eine Sphäre des Zwecks zu finden , in welcher der Geist bei sich selbst bleibt und doch producirt. Diese Sphäre fand die Kritik der Urtheilskraft in der Kunst, in dem Spiel des Ideals, das sich nach geistigen Gesetzen ohne alle Rücksicht auf äußere Bedingungen selbst bestimmt und sich daher als eine vollendete Harmonie darstellt. Mit Jubel begrüßte der Dichtcrkreis von Weimar und Jena diese neue Entdeckung, und es wurde nun der Glaube aller Gebildeten, daß die einzig würdige Thä¬ tigkeit des Menschen, der mit sich selbst übereinstimmen wolle, die Kunst sei, und daß nur der Künstler die wahre Bestimmung des Menschen erfülle. Das ist das Evangelium, welches der Wilhelm Meister zu verkündigen unternimmt. In dieser Beziehung war er nicht etwa die Vollendung einer vorher schon ein¬ geschlagenen Richtung, sondern in Form und Inhalt eine ganz neue Schöpfung, die gegen alles Frühere den entschiedensten Contrast bildete, und Friedrich Schlegel hatte nicht Unrecht, ihn im Athenäum als ebenbürtige Erscheinung neben die französische Revolution und die Wissenschaftslehre zu stellen. In seiner Entstehung, in seiner Haltung, wie in seiner Wirkung muß man diesen Roman mit dem Faust in Parallele stellen. Goethe begann ihn ums Zahl 1777, als seine eignen Verhältnisse in Weimar sich einigermaßen geklärt hatten. Die Erinnerungen an die unbefangene Zeit seiner Jugend¬ träume und Thorheiten, die nun wie ein Märchen hinter ihm lagen, krystal- lisirten sich zu den Bildern des Puppenspiels, von denen der Uebergang zum wirklichen Theater leicht war. Was sich dann in seinen weitern Erfahrungen Bemerkenswerthes ereignete, wurde mehr oder minder lässig in diesen Rahmen verwebt: die typischen Figuren der Gesellschaft, seine Ideale, seine Reflexionen über die Kunst und das Leben u. s. w. So wuchs das Werk mosaikartig an; die italienische Reise kam ihm nicht zu gut, und es blieb auch nach Vollendung derselben liegen, bis äußerliche Veranlassungen den Dichter anregten, es wieder aufzunehmen. Vor dem Abschluß trat der enge Bund mit Schiller ein, dessen Einfluß sich für die letzte Vollendung sehr segensreich erwies. So wurden die Lehrjahre zu Ende 1796 fertig; die Arbeit hatte volle zwanzig Jahre gedauert. Aber damit war es nicht genug. Der Dichter fühlte noch immer die Unfer- tigkeit der Bildung, zu der er seinen Helden geführt hatte. An die „Lehrjahre" schlössen sich die „Wanderjahre" an, die in ihrer Zusammenstellung einen ganz symbolischen Charakter haben. Es kam Goethe nicht mehr darauf an, ob die äußeren Bestandtheile, die ungefähr in die Richtung seines Werks einschlugen, 36 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/451>, abgerufen am 22.07.2024.