Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hervorgehen konnte. Diese Methode des Schaffens war damals auch die
Methode der Kritik. Man vergleiche, was Schiller, Humboldt, Schlegel dafür
sagen, und was Novalis dagegen einwendet. Es ist nicht die Wahrheit und
innere Idealität, die angefochten oder vertheidigt wird, sondern die künstlerische
Schönheit, die wohlthuende Harmonie und die wohlthuenden Contraste in
Farbe und Stimmung: mit einem Wort, die Kunst, der das Gesetz des Lebens
dienen soll.

Und hier wird niemals genug zum Lobe des Wilhelm Meister gesagt wer¬
den können. ES gibt in Deutschland kein Werk, das ihm an äußerer Schön¬
heit an die Seite zu stellen wäre. Der spätere deutsche Roman ist keinen
Schritt über ihn hinausgegangen; er hat sich damit begnügt, ihm nachzu-
stammeln. Um die Reinheit und den Adel der Sprache zu würdigen, stelle-
man ein beliebiges Werk jener Jahre daneben; der Abstand ist ungeheuer.
Wer sich aus dem Wilhelm Meister ein Bild von der Bildung der damaligen
Zeit machen wollte, würde dieser viel zu sehr schmeicheln. Die gegebenen
Bildungselemente sind durchaus idealisirt, in eine höhere poetische Region er¬
hoben. Philine sagt einmal von einem Fremden, in welchem alle Welt einen
Bekannten herauszuerkennen glaubt, er sehe eben nicht aus wie Hans oder
Kunz, sondern wie ein Mensch. Dasselbe kann man von den meisten Figuren
des Romans sagen. Wer glaubt nicht einmal einer Philine, einem Serlo,
einer Madame Melina, einer Barbara begegnet zu sein? Und doch, sind es
reine Schöpfungen des Dichters, in welchen die im Leben zerstreuten Elemente
Hurch einen wunderbaren Spiegel, durch eine Kunst, wie sie sonst nur die
Griechen kennen, von, ihren Zufälligkeiten befreit und in ihrer idealen Reinheit
dargestellt sind; sie sind Typen und doch durchaus individuell; freilich nur in¬
dividuell in ihrer Erscheinung, nicht in ihrer Geschichte. Ihr Licht empfangen
sie durch die klare leuchtende Sinnlichkeit, die mit den allerbescheidensten Mit¬
teln der Phantasie ein so bestimmtes Verständniß eröffnet, daß man glaubt,
der Dichter habe eine ausführliche Beschreibung gegeben, während er doch nur
andeutet, aber freilich damit der Einbildungskraft eine so bestimmte Richtung
gibt, daß sie sein Werk selbstständig ergänzt. Jeder einzelne Zug trägt das
Gepräge einer Meisterhand; jeder einzelne Zug erinnert an das zierliche, in
der griechischen Kunst erworbene schöne Maß. Der Roman ist ein Verschö-
nerungsspicgel, in dem jede Gestalt nur ihre reizenden Seiten widerstrahlt.
Der Dichter wagt sich in die allerbedenklichsten Sphären: er gibt uns die
Ausbrüche der wildesten Sinnlichkeit, er führt uns auch in das Entsetzliche
ein, aber niemals werden wir beleidigt, nie unheimlich berührt. Einen Schritt
weiter, und wir wären im Schmuz. Man denke sich z. B. die Nachgeschichte
der Philine, die Vorgeschichte der Marianne! Aber diese Nebengedanken dürfen
wir nicht dem Dichter ;ur Last legen, der unbefangen schuf, ohne zu zerglie-


hervorgehen konnte. Diese Methode des Schaffens war damals auch die
Methode der Kritik. Man vergleiche, was Schiller, Humboldt, Schlegel dafür
sagen, und was Novalis dagegen einwendet. Es ist nicht die Wahrheit und
innere Idealität, die angefochten oder vertheidigt wird, sondern die künstlerische
Schönheit, die wohlthuende Harmonie und die wohlthuenden Contraste in
Farbe und Stimmung: mit einem Wort, die Kunst, der das Gesetz des Lebens
dienen soll.

Und hier wird niemals genug zum Lobe des Wilhelm Meister gesagt wer¬
den können. ES gibt in Deutschland kein Werk, das ihm an äußerer Schön¬
heit an die Seite zu stellen wäre. Der spätere deutsche Roman ist keinen
Schritt über ihn hinausgegangen; er hat sich damit begnügt, ihm nachzu-
stammeln. Um die Reinheit und den Adel der Sprache zu würdigen, stelle-
man ein beliebiges Werk jener Jahre daneben; der Abstand ist ungeheuer.
Wer sich aus dem Wilhelm Meister ein Bild von der Bildung der damaligen
Zeit machen wollte, würde dieser viel zu sehr schmeicheln. Die gegebenen
Bildungselemente sind durchaus idealisirt, in eine höhere poetische Region er¬
hoben. Philine sagt einmal von einem Fremden, in welchem alle Welt einen
Bekannten herauszuerkennen glaubt, er sehe eben nicht aus wie Hans oder
Kunz, sondern wie ein Mensch. Dasselbe kann man von den meisten Figuren
des Romans sagen. Wer glaubt nicht einmal einer Philine, einem Serlo,
einer Madame Melina, einer Barbara begegnet zu sein? Und doch, sind es
reine Schöpfungen des Dichters, in welchen die im Leben zerstreuten Elemente
Hurch einen wunderbaren Spiegel, durch eine Kunst, wie sie sonst nur die
Griechen kennen, von, ihren Zufälligkeiten befreit und in ihrer idealen Reinheit
dargestellt sind; sie sind Typen und doch durchaus individuell; freilich nur in¬
dividuell in ihrer Erscheinung, nicht in ihrer Geschichte. Ihr Licht empfangen
sie durch die klare leuchtende Sinnlichkeit, die mit den allerbescheidensten Mit¬
teln der Phantasie ein so bestimmtes Verständniß eröffnet, daß man glaubt,
der Dichter habe eine ausführliche Beschreibung gegeben, während er doch nur
andeutet, aber freilich damit der Einbildungskraft eine so bestimmte Richtung
gibt, daß sie sein Werk selbstständig ergänzt. Jeder einzelne Zug trägt das
Gepräge einer Meisterhand; jeder einzelne Zug erinnert an das zierliche, in
der griechischen Kunst erworbene schöne Maß. Der Roman ist ein Verschö-
nerungsspicgel, in dem jede Gestalt nur ihre reizenden Seiten widerstrahlt.
Der Dichter wagt sich in die allerbedenklichsten Sphären: er gibt uns die
Ausbrüche der wildesten Sinnlichkeit, er führt uns auch in das Entsetzliche
ein, aber niemals werden wir beleidigt, nie unheimlich berührt. Einen Schritt
weiter, und wir wären im Schmuz. Man denke sich z. B. die Nachgeschichte
der Philine, die Vorgeschichte der Marianne! Aber diese Nebengedanken dürfen
wir nicht dem Dichter ;ur Last legen, der unbefangen schuf, ohne zu zerglie-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99839"/>
          <p xml:id="ID_1536" prev="#ID_1535"> hervorgehen konnte. Diese Methode des Schaffens war damals auch die<lb/>
Methode der Kritik. Man vergleiche, was Schiller, Humboldt, Schlegel dafür<lb/>
sagen, und was Novalis dagegen einwendet. Es ist nicht die Wahrheit und<lb/>
innere Idealität, die angefochten oder vertheidigt wird, sondern die künstlerische<lb/>
Schönheit, die wohlthuende Harmonie und die wohlthuenden Contraste in<lb/>
Farbe und Stimmung: mit einem Wort, die Kunst, der das Gesetz des Lebens<lb/>
dienen soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1537" next="#ID_1538"> Und hier wird niemals genug zum Lobe des Wilhelm Meister gesagt wer¬<lb/>
den können. ES gibt in Deutschland kein Werk, das ihm an äußerer Schön¬<lb/>
heit an die Seite zu stellen wäre. Der spätere deutsche Roman ist keinen<lb/>
Schritt über ihn hinausgegangen; er hat sich damit begnügt, ihm nachzu-<lb/>
stammeln. Um die Reinheit und den Adel der Sprache zu würdigen, stelle-<lb/>
man ein beliebiges Werk jener Jahre daneben; der Abstand ist ungeheuer.<lb/>
Wer sich aus dem Wilhelm Meister ein Bild von der Bildung der damaligen<lb/>
Zeit machen wollte, würde dieser viel zu sehr schmeicheln. Die gegebenen<lb/>
Bildungselemente sind durchaus idealisirt, in eine höhere poetische Region er¬<lb/>
hoben. Philine sagt einmal von einem Fremden, in welchem alle Welt einen<lb/>
Bekannten herauszuerkennen glaubt, er sehe eben nicht aus wie Hans oder<lb/>
Kunz, sondern wie ein Mensch. Dasselbe kann man von den meisten Figuren<lb/>
des Romans sagen. Wer glaubt nicht einmal einer Philine, einem Serlo,<lb/>
einer Madame Melina, einer Barbara begegnet zu sein? Und doch, sind es<lb/>
reine Schöpfungen des Dichters, in welchen die im Leben zerstreuten Elemente<lb/>
Hurch einen wunderbaren Spiegel, durch eine Kunst, wie sie sonst nur die<lb/>
Griechen kennen, von, ihren Zufälligkeiten befreit und in ihrer idealen Reinheit<lb/>
dargestellt sind; sie sind Typen und doch durchaus individuell; freilich nur in¬<lb/>
dividuell in ihrer Erscheinung, nicht in ihrer Geschichte. Ihr Licht empfangen<lb/>
sie durch die klare leuchtende Sinnlichkeit, die mit den allerbescheidensten Mit¬<lb/>
teln der Phantasie ein so bestimmtes Verständniß eröffnet, daß man glaubt,<lb/>
der Dichter habe eine ausführliche Beschreibung gegeben, während er doch nur<lb/>
andeutet, aber freilich damit der Einbildungskraft eine so bestimmte Richtung<lb/>
gibt, daß sie sein Werk selbstständig ergänzt. Jeder einzelne Zug trägt das<lb/>
Gepräge einer Meisterhand; jeder einzelne Zug erinnert an das zierliche, in<lb/>
der griechischen Kunst erworbene schöne Maß. Der Roman ist ein Verschö-<lb/>
nerungsspicgel, in dem jede Gestalt nur ihre reizenden Seiten widerstrahlt.<lb/>
Der Dichter wagt sich in die allerbedenklichsten Sphären: er gibt uns die<lb/>
Ausbrüche der wildesten Sinnlichkeit, er führt uns auch in das Entsetzliche<lb/>
ein, aber niemals werden wir beleidigt, nie unheimlich berührt. Einen Schritt<lb/>
weiter, und wir wären im Schmuz. Man denke sich z. B. die Nachgeschichte<lb/>
der Philine, die Vorgeschichte der Marianne! Aber diese Nebengedanken dürfen<lb/>
wir nicht dem Dichter ;ur Last legen, der unbefangen schuf, ohne zu zerglie-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0453] hervorgehen konnte. Diese Methode des Schaffens war damals auch die Methode der Kritik. Man vergleiche, was Schiller, Humboldt, Schlegel dafür sagen, und was Novalis dagegen einwendet. Es ist nicht die Wahrheit und innere Idealität, die angefochten oder vertheidigt wird, sondern die künstlerische Schönheit, die wohlthuende Harmonie und die wohlthuenden Contraste in Farbe und Stimmung: mit einem Wort, die Kunst, der das Gesetz des Lebens dienen soll. Und hier wird niemals genug zum Lobe des Wilhelm Meister gesagt wer¬ den können. ES gibt in Deutschland kein Werk, das ihm an äußerer Schön¬ heit an die Seite zu stellen wäre. Der spätere deutsche Roman ist keinen Schritt über ihn hinausgegangen; er hat sich damit begnügt, ihm nachzu- stammeln. Um die Reinheit und den Adel der Sprache zu würdigen, stelle- man ein beliebiges Werk jener Jahre daneben; der Abstand ist ungeheuer. Wer sich aus dem Wilhelm Meister ein Bild von der Bildung der damaligen Zeit machen wollte, würde dieser viel zu sehr schmeicheln. Die gegebenen Bildungselemente sind durchaus idealisirt, in eine höhere poetische Region er¬ hoben. Philine sagt einmal von einem Fremden, in welchem alle Welt einen Bekannten herauszuerkennen glaubt, er sehe eben nicht aus wie Hans oder Kunz, sondern wie ein Mensch. Dasselbe kann man von den meisten Figuren des Romans sagen. Wer glaubt nicht einmal einer Philine, einem Serlo, einer Madame Melina, einer Barbara begegnet zu sein? Und doch, sind es reine Schöpfungen des Dichters, in welchen die im Leben zerstreuten Elemente Hurch einen wunderbaren Spiegel, durch eine Kunst, wie sie sonst nur die Griechen kennen, von, ihren Zufälligkeiten befreit und in ihrer idealen Reinheit dargestellt sind; sie sind Typen und doch durchaus individuell; freilich nur in¬ dividuell in ihrer Erscheinung, nicht in ihrer Geschichte. Ihr Licht empfangen sie durch die klare leuchtende Sinnlichkeit, die mit den allerbescheidensten Mit¬ teln der Phantasie ein so bestimmtes Verständniß eröffnet, daß man glaubt, der Dichter habe eine ausführliche Beschreibung gegeben, während er doch nur andeutet, aber freilich damit der Einbildungskraft eine so bestimmte Richtung gibt, daß sie sein Werk selbstständig ergänzt. Jeder einzelne Zug trägt das Gepräge einer Meisterhand; jeder einzelne Zug erinnert an das zierliche, in der griechischen Kunst erworbene schöne Maß. Der Roman ist ein Verschö- nerungsspicgel, in dem jede Gestalt nur ihre reizenden Seiten widerstrahlt. Der Dichter wagt sich in die allerbedenklichsten Sphären: er gibt uns die Ausbrüche der wildesten Sinnlichkeit, er führt uns auch in das Entsetzliche ein, aber niemals werden wir beleidigt, nie unheimlich berührt. Einen Schritt weiter, und wir wären im Schmuz. Man denke sich z. B. die Nachgeschichte der Philine, die Vorgeschichte der Marianne! Aber diese Nebengedanken dürfen wir nicht dem Dichter ;ur Last legen, der unbefangen schuf, ohne zu zerglie-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/453
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/453>, abgerufen am 25.08.2024.