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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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wegungen dieser stillen Seele mit einer vollendeten dichterischen Objectivität
dar; wenn man dieselben aber, wie es doch bei menschlichen Schicksalen noth¬
wendig ist, mit sittlicher Betheiligung betrachtet, so wird die Art und Weise,
wie hier ein weibliches Gemüth den Herrn sucht, wie es das unbekannte Glück
des Glaubens künstlich in sich erzeugt, i>as peinliche Gefühl der Unwahrheit
hervorrufen. Goethe hatte bei diesen Naturschilderungen nichts von jenen
krampfhaften Verzerrungen zu berichten, in welche die Schwärmerei so leicht
verfällt, wenn sie allen gegebenen Halt aufgibt, weil hier die Bequemlichkeit
des äußern vornehmen Lebens jede Noth und Sorge fern hielt; allein verlegen
wir dieselbe Stimmung in ein beschränktes, von äußrer Noth gepeinigtes Leben,
so verliert sich der poetische Schimmer, und die Lüge tritt in ihrer nackten Ab¬
scheulichkeit hervor. Zeugnisse von diesem krankhaften Traumleben sind die
zahlreichen Selbstbiographien jener Zeit, an welche sich dann die Roman-
literarur anschloß.

Als Goethe den Wilhelm Meister begann, hatte er diese Stimmung in
sich selbst bereits überwunden; er halte aus dem Studium Spinozas gelernt,
daß das menschliche Gemüth den Frieden mit sich selbst nicht durch den Kampf
gegen das Leben erwirbt, sondern durch jene fromme Resignation, zu welcher
eine unbefangene Betrachtung der menschlichen Schicksale überall hinleitet.
Das Alterthum gab ihm die idealen Bilder zu dieser Stimmung, und die vor¬
nehme Welt, in deren Mitte er jetzt lebte, erfüllte sie mit lebendigen An¬
schauungen. Wenn man nun erwägt, daß Gefühl, Gemüth und Phantasie,
kurz das innere Leben, damals die einzigen productiven Kräfte der Gesellschaft
waren, daß ihnen durch die schwankenden sittlichen Bestimmungen der wirklichen
Welt weder eine Schranke noch ein greifbarer Inhalt gewährt wurde, so wird
man die neue Wendung der Lebensphilosophie wol begreifen. Das höchste
Lebensprincip, in welchem die Kantische Philosophie wie die Dichterschule
Goethe's und Schiller's ihre Befriedigung fand, war die harmonische' Aus¬
bildung einer schönen Seele, die Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst.
Die Eingliederung des Einzelnen in ein organisches Ganze, die Uebereinstim¬
mung mit den Sitten und Gesetzen seiner Nächsten wurden nicht als Zweck,
sondern als Mittel betrachte!, und wenn das Mittel dem Zweck widersprach, so
ward es auch wol als unnütz und schädlich bei Seite geworfen.

Zur Uebereinstimmung mit sich selbst war Freiheit von den dunkeln Trieben
der Natur, Freiheit von den willkürlichen Voraussetzungen der Gesellschaft
nothwendig. Da Beides nur der Gebildete erreicht, so war das Streben nach
Bildung das höchste Lebensmotiv deS Menschen, der mit sich selbst überein¬
stimmen wollte. Der enge Kreis der Gebildeten sah, wie der Adel des Mittel¬
alters, in den Gebildeten aller Nationen seine Glaubensbrüder, während dieser
unsichtbare Orden mit den ungebildeten Schichten des eignen Volks in keinem


wegungen dieser stillen Seele mit einer vollendeten dichterischen Objectivität
dar; wenn man dieselben aber, wie es doch bei menschlichen Schicksalen noth¬
wendig ist, mit sittlicher Betheiligung betrachtet, so wird die Art und Weise,
wie hier ein weibliches Gemüth den Herrn sucht, wie es das unbekannte Glück
des Glaubens künstlich in sich erzeugt, i>as peinliche Gefühl der Unwahrheit
hervorrufen. Goethe hatte bei diesen Naturschilderungen nichts von jenen
krampfhaften Verzerrungen zu berichten, in welche die Schwärmerei so leicht
verfällt, wenn sie allen gegebenen Halt aufgibt, weil hier die Bequemlichkeit
des äußern vornehmen Lebens jede Noth und Sorge fern hielt; allein verlegen
wir dieselbe Stimmung in ein beschränktes, von äußrer Noth gepeinigtes Leben,
so verliert sich der poetische Schimmer, und die Lüge tritt in ihrer nackten Ab¬
scheulichkeit hervor. Zeugnisse von diesem krankhaften Traumleben sind die
zahlreichen Selbstbiographien jener Zeit, an welche sich dann die Roman-
literarur anschloß.

Als Goethe den Wilhelm Meister begann, hatte er diese Stimmung in
sich selbst bereits überwunden; er halte aus dem Studium Spinozas gelernt,
daß das menschliche Gemüth den Frieden mit sich selbst nicht durch den Kampf
gegen das Leben erwirbt, sondern durch jene fromme Resignation, zu welcher
eine unbefangene Betrachtung der menschlichen Schicksale überall hinleitet.
Das Alterthum gab ihm die idealen Bilder zu dieser Stimmung, und die vor¬
nehme Welt, in deren Mitte er jetzt lebte, erfüllte sie mit lebendigen An¬
schauungen. Wenn man nun erwägt, daß Gefühl, Gemüth und Phantasie,
kurz das innere Leben, damals die einzigen productiven Kräfte der Gesellschaft
waren, daß ihnen durch die schwankenden sittlichen Bestimmungen der wirklichen
Welt weder eine Schranke noch ein greifbarer Inhalt gewährt wurde, so wird
man die neue Wendung der Lebensphilosophie wol begreifen. Das höchste
Lebensprincip, in welchem die Kantische Philosophie wie die Dichterschule
Goethe's und Schiller's ihre Befriedigung fand, war die harmonische' Aus¬
bildung einer schönen Seele, die Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst.
Die Eingliederung des Einzelnen in ein organisches Ganze, die Uebereinstim¬
mung mit den Sitten und Gesetzen seiner Nächsten wurden nicht als Zweck,
sondern als Mittel betrachte!, und wenn das Mittel dem Zweck widersprach, so
ward es auch wol als unnütz und schädlich bei Seite geworfen.

Zur Uebereinstimmung mit sich selbst war Freiheit von den dunkeln Trieben
der Natur, Freiheit von den willkürlichen Voraussetzungen der Gesellschaft
nothwendig. Da Beides nur der Gebildete erreicht, so war das Streben nach
Bildung das höchste Lebensmotiv deS Menschen, der mit sich selbst überein¬
stimmen wollte. Der enge Kreis der Gebildeten sah, wie der Adel des Mittel¬
alters, in den Gebildeten aller Nationen seine Glaubensbrüder, während dieser
unsichtbare Orden mit den ungebildeten Schichten des eignen Volks in keinem


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[0450] wegungen dieser stillen Seele mit einer vollendeten dichterischen Objectivität dar; wenn man dieselben aber, wie es doch bei menschlichen Schicksalen noth¬ wendig ist, mit sittlicher Betheiligung betrachtet, so wird die Art und Weise, wie hier ein weibliches Gemüth den Herrn sucht, wie es das unbekannte Glück des Glaubens künstlich in sich erzeugt, i>as peinliche Gefühl der Unwahrheit hervorrufen. Goethe hatte bei diesen Naturschilderungen nichts von jenen krampfhaften Verzerrungen zu berichten, in welche die Schwärmerei so leicht verfällt, wenn sie allen gegebenen Halt aufgibt, weil hier die Bequemlichkeit des äußern vornehmen Lebens jede Noth und Sorge fern hielt; allein verlegen wir dieselbe Stimmung in ein beschränktes, von äußrer Noth gepeinigtes Leben, so verliert sich der poetische Schimmer, und die Lüge tritt in ihrer nackten Ab¬ scheulichkeit hervor. Zeugnisse von diesem krankhaften Traumleben sind die zahlreichen Selbstbiographien jener Zeit, an welche sich dann die Roman- literarur anschloß. Als Goethe den Wilhelm Meister begann, hatte er diese Stimmung in sich selbst bereits überwunden; er halte aus dem Studium Spinozas gelernt, daß das menschliche Gemüth den Frieden mit sich selbst nicht durch den Kampf gegen das Leben erwirbt, sondern durch jene fromme Resignation, zu welcher eine unbefangene Betrachtung der menschlichen Schicksale überall hinleitet. Das Alterthum gab ihm die idealen Bilder zu dieser Stimmung, und die vor¬ nehme Welt, in deren Mitte er jetzt lebte, erfüllte sie mit lebendigen An¬ schauungen. Wenn man nun erwägt, daß Gefühl, Gemüth und Phantasie, kurz das innere Leben, damals die einzigen productiven Kräfte der Gesellschaft waren, daß ihnen durch die schwankenden sittlichen Bestimmungen der wirklichen Welt weder eine Schranke noch ein greifbarer Inhalt gewährt wurde, so wird man die neue Wendung der Lebensphilosophie wol begreifen. Das höchste Lebensprincip, in welchem die Kantische Philosophie wie die Dichterschule Goethe's und Schiller's ihre Befriedigung fand, war die harmonische' Aus¬ bildung einer schönen Seele, die Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst. Die Eingliederung des Einzelnen in ein organisches Ganze, die Uebereinstim¬ mung mit den Sitten und Gesetzen seiner Nächsten wurden nicht als Zweck, sondern als Mittel betrachte!, und wenn das Mittel dem Zweck widersprach, so ward es auch wol als unnütz und schädlich bei Seite geworfen. Zur Uebereinstimmung mit sich selbst war Freiheit von den dunkeln Trieben der Natur, Freiheit von den willkürlichen Voraussetzungen der Gesellschaft nothwendig. Da Beides nur der Gebildete erreicht, so war das Streben nach Bildung das höchste Lebensmotiv deS Menschen, der mit sich selbst überein¬ stimmen wollte. Der enge Kreis der Gebildeten sah, wie der Adel des Mittel¬ alters, in den Gebildeten aller Nationen seine Glaubensbrüder, während dieser unsichtbare Orden mit den ungebildeten Schichten des eignen Volks in keinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/450>, abgerufen am 22.07.2024.