Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

durchgemacht, schreiben aus andern Lebenskreisen ihre Erinnerungen nieder,
und nicht auf gleiche Weise sind beide von der Cultur ihrer Zeit ergriffen
worden. Wenn der thätige und charakterfeste Plater aus seinem eifrigen Stadt-
leben auf seine armselige Jugend zurücksah, so war ihm meist darum zu thun,
zu schildern, wie schwer ihm einst das Leben geworden; die Grundstimmung
seiner Seele war Zufriedenheit mit der Gegenwart und das Selbstgefühl
eines Mannes, der vieles überwunden hat. Der arme Mann von Tocken-
burg dagegen hat keine Lebensgeschichte, welche ihm das Selbstgefühl fester
Kraft gewähren konnte, er ist kein ungebrochener Mann, und die Bildung und
Objectivität, die er sich seinem Leben gegenüber erworben hat, ist nur ge¬
wonnen in den poetischen Schmerzen, Träumereien und Reflexionen eine
zarten Natur, welche in eine ideale Welt flüchtet, während sie den Forderungen
der Wirklichkeit nicht vollständig genügen kann. Dem Tockenburger ist deshalb
seine Vergangenheit nicht der mühevolle Weg zu einem würdigen Ziele, sondern
ihre Reproduction ist ihm ein Genuß, weil er sich selbst in ihr glücklicher und
noch nicht gebrochen empfindet. Aber selbst vieser Unterschied im Wesen der beiden
Männer ist nicht nur für die beiden, sondern auch für die Zeit, in der sie
lebten, charakteristisch. . Die treuherzige Darstellung Platers ist kurz, einfach,
ganz episch, wie dem Sohne einer Zeit natürlich war, in welcher pas Men¬
schenherz auch in dem armen, einfältigen Landmann erglüht war von dem
Kampf um die höchsten Interessen der Menschheit. Eine solche Zeit hat für
Naturbetrachtung und Naturgenuß, für das träumerische Genießen des Augen¬
blicks keine Muße und geringe Empfänglichkeit. Der Geist, welcher im
Glauben Wahrheit sucht und auch im Staatsleben prüft, welches Recht die
Autorität habe, wird nicht weniger tief Und kräftig empfinden, aber er wird
keinen besonderen Trieb und auch nicht die Gewandheit haben, seine Ge¬
fühle ausführlich auseinanderzulegen. Der arme Mann von Tockenburg
dagegen hat kein großes Nationalinteresse, das ihn leidenschaftlich beweg-.
Die Kraft des deutschen Volkes war durch die furchtbaren Kriege des
17. Jahrhunderts gebrochen, zü der Zeit, in welcher er lebte, keimten nur
die ersten Anfänge der modernen Literatur in den Schulgerechtem Liedern und
Gedichten der deutschen Gelehrten. Der Staat war in den Händen ver
Fürsten und der Juristen, in der Schweiz tyrannisirte eine schwächliche Oli¬
garchie; die Volkspoesie hatte ihre alten Maße, Formen, ja auch ihre
Stoffe verloren, dem armen Kinde des Volkes war das Treiben der Welt ganz
fremd und unverständlich geworden, es hatte -nichts als die Natur, die den
Einzelnen umgab, die Arbeit, und wenn das Glück gut war, die Familie. In
dieser Zeit entwickelte sich in der Hütte, des Armen wie in dem deutschen
Bürgerhause die Gemüthsstimmung, welche wir als die unsre verstehen, dieselbe,


durchgemacht, schreiben aus andern Lebenskreisen ihre Erinnerungen nieder,
und nicht auf gleiche Weise sind beide von der Cultur ihrer Zeit ergriffen
worden. Wenn der thätige und charakterfeste Plater aus seinem eifrigen Stadt-
leben auf seine armselige Jugend zurücksah, so war ihm meist darum zu thun,
zu schildern, wie schwer ihm einst das Leben geworden; die Grundstimmung
seiner Seele war Zufriedenheit mit der Gegenwart und das Selbstgefühl
eines Mannes, der vieles überwunden hat. Der arme Mann von Tocken-
burg dagegen hat keine Lebensgeschichte, welche ihm das Selbstgefühl fester
Kraft gewähren konnte, er ist kein ungebrochener Mann, und die Bildung und
Objectivität, die er sich seinem Leben gegenüber erworben hat, ist nur ge¬
wonnen in den poetischen Schmerzen, Träumereien und Reflexionen eine
zarten Natur, welche in eine ideale Welt flüchtet, während sie den Forderungen
der Wirklichkeit nicht vollständig genügen kann. Dem Tockenburger ist deshalb
seine Vergangenheit nicht der mühevolle Weg zu einem würdigen Ziele, sondern
ihre Reproduction ist ihm ein Genuß, weil er sich selbst in ihr glücklicher und
noch nicht gebrochen empfindet. Aber selbst vieser Unterschied im Wesen der beiden
Männer ist nicht nur für die beiden, sondern auch für die Zeit, in der sie
lebten, charakteristisch. . Die treuherzige Darstellung Platers ist kurz, einfach,
ganz episch, wie dem Sohne einer Zeit natürlich war, in welcher pas Men¬
schenherz auch in dem armen, einfältigen Landmann erglüht war von dem
Kampf um die höchsten Interessen der Menschheit. Eine solche Zeit hat für
Naturbetrachtung und Naturgenuß, für das träumerische Genießen des Augen¬
blicks keine Muße und geringe Empfänglichkeit. Der Geist, welcher im
Glauben Wahrheit sucht und auch im Staatsleben prüft, welches Recht die
Autorität habe, wird nicht weniger tief Und kräftig empfinden, aber er wird
keinen besonderen Trieb und auch nicht die Gewandheit haben, seine Ge¬
fühle ausführlich auseinanderzulegen. Der arme Mann von Tockenburg
dagegen hat kein großes Nationalinteresse, das ihn leidenschaftlich beweg-.
Die Kraft des deutschen Volkes war durch die furchtbaren Kriege des
17. Jahrhunderts gebrochen, zü der Zeit, in welcher er lebte, keimten nur
die ersten Anfänge der modernen Literatur in den Schulgerechtem Liedern und
Gedichten der deutschen Gelehrten. Der Staat war in den Händen ver
Fürsten und der Juristen, in der Schweiz tyrannisirte eine schwächliche Oli¬
garchie; die Volkspoesie hatte ihre alten Maße, Formen, ja auch ihre
Stoffe verloren, dem armen Kinde des Volkes war das Treiben der Welt ganz
fremd und unverständlich geworden, es hatte -nichts als die Natur, die den
Einzelnen umgab, die Arbeit, und wenn das Glück gut war, die Familie. In
dieser Zeit entwickelte sich in der Hütte, des Armen wie in dem deutschen
Bürgerhause die Gemüthsstimmung, welche wir als die unsre verstehen, dieselbe,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99812"/>
            <p xml:id="ID_1459" prev="#ID_1458" next="#ID_1460"> durchgemacht, schreiben aus andern Lebenskreisen ihre Erinnerungen nieder,<lb/>
und nicht auf gleiche Weise sind beide von der Cultur ihrer Zeit ergriffen<lb/>
worden. Wenn der thätige und charakterfeste Plater aus seinem eifrigen Stadt-<lb/>
leben auf seine armselige Jugend zurücksah, so war ihm meist darum zu thun,<lb/>
zu schildern, wie schwer ihm einst das Leben geworden; die Grundstimmung<lb/>
seiner Seele war Zufriedenheit mit der Gegenwart und das Selbstgefühl<lb/>
eines Mannes, der vieles überwunden hat. Der arme Mann von Tocken-<lb/>
burg dagegen hat keine Lebensgeschichte, welche ihm das Selbstgefühl fester<lb/>
Kraft gewähren konnte, er ist kein ungebrochener Mann, und die Bildung und<lb/>
Objectivität, die er sich seinem Leben gegenüber erworben hat, ist nur ge¬<lb/>
wonnen in den poetischen Schmerzen, Träumereien und Reflexionen eine<lb/>
zarten Natur, welche in eine ideale Welt flüchtet, während sie den Forderungen<lb/>
der Wirklichkeit nicht vollständig genügen kann. Dem Tockenburger ist deshalb<lb/>
seine Vergangenheit nicht der mühevolle Weg zu einem würdigen Ziele, sondern<lb/>
ihre Reproduction ist ihm ein Genuß, weil er sich selbst in ihr glücklicher und<lb/>
noch nicht gebrochen empfindet. Aber selbst vieser Unterschied im Wesen der beiden<lb/>
Männer ist nicht nur für die beiden, sondern auch für die Zeit, in der sie<lb/>
lebten, charakteristisch. . Die treuherzige Darstellung Platers ist kurz, einfach,<lb/>
ganz episch, wie dem Sohne einer Zeit natürlich war, in welcher pas Men¬<lb/>
schenherz auch in dem armen, einfältigen Landmann erglüht war von dem<lb/>
Kampf um die höchsten Interessen der Menschheit. Eine solche Zeit hat für<lb/>
Naturbetrachtung und Naturgenuß, für das träumerische Genießen des Augen¬<lb/>
blicks keine Muße und geringe Empfänglichkeit. Der Geist, welcher im<lb/>
Glauben Wahrheit sucht und auch im Staatsleben prüft, welches Recht die<lb/>
Autorität habe, wird nicht weniger tief Und kräftig empfinden, aber er wird<lb/>
keinen besonderen Trieb und auch nicht die Gewandheit haben, seine Ge¬<lb/>
fühle ausführlich auseinanderzulegen. Der arme Mann von Tockenburg<lb/>
dagegen hat kein großes Nationalinteresse, das ihn leidenschaftlich beweg-.<lb/>
Die Kraft des deutschen Volkes war durch die furchtbaren Kriege des<lb/>
17. Jahrhunderts gebrochen, zü der Zeit, in welcher er lebte, keimten nur<lb/>
die ersten Anfänge der modernen Literatur in den Schulgerechtem Liedern und<lb/>
Gedichten der deutschen Gelehrten. Der Staat war in den Händen ver<lb/>
Fürsten und der Juristen, in der Schweiz tyrannisirte eine schwächliche Oli¬<lb/>
garchie; die Volkspoesie hatte ihre alten Maße, Formen, ja auch ihre<lb/>
Stoffe verloren, dem armen Kinde des Volkes war das Treiben der Welt ganz<lb/>
fremd und unverständlich geworden, es hatte -nichts als die Natur, die den<lb/>
Einzelnen umgab, die Arbeit, und wenn das Glück gut war, die Familie. In<lb/>
dieser Zeit entwickelte sich in der Hütte, des Armen wie in dem deutschen<lb/>
Bürgerhause die Gemüthsstimmung, welche wir als die unsre verstehen, dieselbe,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426] durchgemacht, schreiben aus andern Lebenskreisen ihre Erinnerungen nieder, und nicht auf gleiche Weise sind beide von der Cultur ihrer Zeit ergriffen worden. Wenn der thätige und charakterfeste Plater aus seinem eifrigen Stadt- leben auf seine armselige Jugend zurücksah, so war ihm meist darum zu thun, zu schildern, wie schwer ihm einst das Leben geworden; die Grundstimmung seiner Seele war Zufriedenheit mit der Gegenwart und das Selbstgefühl eines Mannes, der vieles überwunden hat. Der arme Mann von Tocken- burg dagegen hat keine Lebensgeschichte, welche ihm das Selbstgefühl fester Kraft gewähren konnte, er ist kein ungebrochener Mann, und die Bildung und Objectivität, die er sich seinem Leben gegenüber erworben hat, ist nur ge¬ wonnen in den poetischen Schmerzen, Träumereien und Reflexionen eine zarten Natur, welche in eine ideale Welt flüchtet, während sie den Forderungen der Wirklichkeit nicht vollständig genügen kann. Dem Tockenburger ist deshalb seine Vergangenheit nicht der mühevolle Weg zu einem würdigen Ziele, sondern ihre Reproduction ist ihm ein Genuß, weil er sich selbst in ihr glücklicher und noch nicht gebrochen empfindet. Aber selbst vieser Unterschied im Wesen der beiden Männer ist nicht nur für die beiden, sondern auch für die Zeit, in der sie lebten, charakteristisch. . Die treuherzige Darstellung Platers ist kurz, einfach, ganz episch, wie dem Sohne einer Zeit natürlich war, in welcher pas Men¬ schenherz auch in dem armen, einfältigen Landmann erglüht war von dem Kampf um die höchsten Interessen der Menschheit. Eine solche Zeit hat für Naturbetrachtung und Naturgenuß, für das träumerische Genießen des Augen¬ blicks keine Muße und geringe Empfänglichkeit. Der Geist, welcher im Glauben Wahrheit sucht und auch im Staatsleben prüft, welches Recht die Autorität habe, wird nicht weniger tief Und kräftig empfinden, aber er wird keinen besonderen Trieb und auch nicht die Gewandheit haben, seine Ge¬ fühle ausführlich auseinanderzulegen. Der arme Mann von Tockenburg dagegen hat kein großes Nationalinteresse, das ihn leidenschaftlich beweg-. Die Kraft des deutschen Volkes war durch die furchtbaren Kriege des 17. Jahrhunderts gebrochen, zü der Zeit, in welcher er lebte, keimten nur die ersten Anfänge der modernen Literatur in den Schulgerechtem Liedern und Gedichten der deutschen Gelehrten. Der Staat war in den Händen ver Fürsten und der Juristen, in der Schweiz tyrannisirte eine schwächliche Oli¬ garchie; die Volkspoesie hatte ihre alten Maße, Formen, ja auch ihre Stoffe verloren, dem armen Kinde des Volkes war das Treiben der Welt ganz fremd und unverständlich geworden, es hatte -nichts als die Natur, die den Einzelnen umgab, die Arbeit, und wenn das Glück gut war, die Familie. In dieser Zeit entwickelte sich in der Hütte, des Armen wie in dem deutschen Bürgerhause die Gemüthsstimmung, welche wir als die unsre verstehen, dieselbe,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/426
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/426>, abgerufen am 03.07.2024.