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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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der Armen und Einsamen, von welchem hier ein Bild gegeben werden soll.
Und zum interessanten Vergleich soll hier auf eine Schilderung seines Hirten¬
lebens, welche Plater gibt, eine andre folgen, die mehr als zwei Jahrhunderte
jünger ist und von einem Manne herrührt, der ebenfalls der allgemeinen Theil¬
nahme nicht unwürdig ist.

Unter dem Titel: der arme Mann im To ckenburg wurde im Jahre 1789
und 92 zu Zürich von Füßli die Selbstbiographie eines armen Webers, Ulrich
Bräcker, herausgegeben, besser und vollständiger, in eleganter Ausstattung
bei Georg Wigand in Leipzig: der arme Mann im Tockenburg, nach den
Originalhandschristen von Eduard Bülow. 1832. Diese ausführliche Lebens¬
beschreibung enthält in ihrem ersten Theil eine Fülle von charakteristischen und
liebenswürdigen Zügen: Die Schilderung einer armen Familie im entlegenen
Thal, den bittern Kampf mit der Noth des Lebens, das Treiben der Hirten,
die erste Liebe des jungen Mannes, seine hinterlistige Entführung durch preu¬
ßische Werber, den gezwungenen Kriegsdienst bis zur Schlacht bei Lowositz,
die Flucht nach der Heimath und seit der Zeit einen mühsamen Kampf um dir
Eristenz, die Beschreibung seines Haushaltes, zuletzt die Resignation einer
weichen, enthusiastischen Natur, welche nicht ohne eigne Schuld durch Neigung zur
Träumerei und durch leidenschaftliche Wallungen bei dem Mangel an ruhiger
stetiger Kraft in der soliden Einrichtung des eignen Lebens gestört wurde.
Ueberall verräth der arme Mann von Tockenburg in seiner ausführlicher" Darstel¬
lung ein poetisches Gemüth von oft rührender Kindlichkeit, einen leidenschaft¬
lichen Trieb zu lesen, nachzudenken und sich zu bilden, eine feine und reizbare
Organisation, welche oft durch Phantasien und Stimmungen beherrscht wird.

Beide Männer, Thomas Plater und Ulrich Bräcker, waren als kleine
Knaben Ziegenhirten, in einsamen Thälern der Alpen; beide geben eine treu
herzige Beschreibung dieser Thätigkeit, und beide Beschreibungen sollen hier
zusammengestellt werden, die erstere natürlich in die Sprache unsrer Zeit über^-
setzt, auch die andere von dem schwerverständlichen des Dialekts befreit.

Diese Zusammenstellung zweier Schilderungen derselben Sache aus ver-
schiedner Zeit geschieht nicht ohne Absicht. Das Leben der Hirtenknaben, ihre
Leiden und kleinen Freuden sind seit Jahrtausenden in der Hauptsache dieselben
gewesen. So hat auch die Erzählung beider vieles Gleiche. Aber auch Unterschiede
in der Auffassung wird der Leser finden. Und grade an diesen Variationen in
Darstellung der bescheidensten menschlichen Thätigkeit, welche fast so stabil und
unveränderlich ist, wie das Leben der Natur selbst, läßt sich erkennen, welche
stille und doch ungeheure Revolution das deutsche Gemüth in den 230 Jahre",
von Anfang des -16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts, durchgemacht hat.
Zwar kommt ein guter Theil dieser Verschiedenheit aus die Persönlichkeit der
Darstellenden, Plater und Bräcker haben einen verschiedenen Bildungsgang


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der Armen und Einsamen, von welchem hier ein Bild gegeben werden soll.
Und zum interessanten Vergleich soll hier auf eine Schilderung seines Hirten¬
lebens, welche Plater gibt, eine andre folgen, die mehr als zwei Jahrhunderte
jünger ist und von einem Manne herrührt, der ebenfalls der allgemeinen Theil¬
nahme nicht unwürdig ist.

Unter dem Titel: der arme Mann im To ckenburg wurde im Jahre 1789
und 92 zu Zürich von Füßli die Selbstbiographie eines armen Webers, Ulrich
Bräcker, herausgegeben, besser und vollständiger, in eleganter Ausstattung
bei Georg Wigand in Leipzig: der arme Mann im Tockenburg, nach den
Originalhandschristen von Eduard Bülow. 1832. Diese ausführliche Lebens¬
beschreibung enthält in ihrem ersten Theil eine Fülle von charakteristischen und
liebenswürdigen Zügen: Die Schilderung einer armen Familie im entlegenen
Thal, den bittern Kampf mit der Noth des Lebens, das Treiben der Hirten,
die erste Liebe des jungen Mannes, seine hinterlistige Entführung durch preu¬
ßische Werber, den gezwungenen Kriegsdienst bis zur Schlacht bei Lowositz,
die Flucht nach der Heimath und seit der Zeit einen mühsamen Kampf um dir
Eristenz, die Beschreibung seines Haushaltes, zuletzt die Resignation einer
weichen, enthusiastischen Natur, welche nicht ohne eigne Schuld durch Neigung zur
Träumerei und durch leidenschaftliche Wallungen bei dem Mangel an ruhiger
stetiger Kraft in der soliden Einrichtung des eignen Lebens gestört wurde.
Ueberall verräth der arme Mann von Tockenburg in seiner ausführlicher« Darstel¬
lung ein poetisches Gemüth von oft rührender Kindlichkeit, einen leidenschaft¬
lichen Trieb zu lesen, nachzudenken und sich zu bilden, eine feine und reizbare
Organisation, welche oft durch Phantasien und Stimmungen beherrscht wird.

Beide Männer, Thomas Plater und Ulrich Bräcker, waren als kleine
Knaben Ziegenhirten, in einsamen Thälern der Alpen; beide geben eine treu
herzige Beschreibung dieser Thätigkeit, und beide Beschreibungen sollen hier
zusammengestellt werden, die erstere natürlich in die Sprache unsrer Zeit über^-
setzt, auch die andere von dem schwerverständlichen des Dialekts befreit.

Diese Zusammenstellung zweier Schilderungen derselben Sache aus ver-
schiedner Zeit geschieht nicht ohne Absicht. Das Leben der Hirtenknaben, ihre
Leiden und kleinen Freuden sind seit Jahrtausenden in der Hauptsache dieselben
gewesen. So hat auch die Erzählung beider vieles Gleiche. Aber auch Unterschiede
in der Auffassung wird der Leser finden. Und grade an diesen Variationen in
Darstellung der bescheidensten menschlichen Thätigkeit, welche fast so stabil und
unveränderlich ist, wie das Leben der Natur selbst, läßt sich erkennen, welche
stille und doch ungeheure Revolution das deutsche Gemüth in den 230 Jahre»,
von Anfang des -16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts, durchgemacht hat.
Zwar kommt ein guter Theil dieser Verschiedenheit aus die Persönlichkeit der
Darstellenden, Plater und Bräcker haben einen verschiedenen Bildungsgang


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[0425] der Armen und Einsamen, von welchem hier ein Bild gegeben werden soll. Und zum interessanten Vergleich soll hier auf eine Schilderung seines Hirten¬ lebens, welche Plater gibt, eine andre folgen, die mehr als zwei Jahrhunderte jünger ist und von einem Manne herrührt, der ebenfalls der allgemeinen Theil¬ nahme nicht unwürdig ist. Unter dem Titel: der arme Mann im To ckenburg wurde im Jahre 1789 und 92 zu Zürich von Füßli die Selbstbiographie eines armen Webers, Ulrich Bräcker, herausgegeben, besser und vollständiger, in eleganter Ausstattung bei Georg Wigand in Leipzig: der arme Mann im Tockenburg, nach den Originalhandschristen von Eduard Bülow. 1832. Diese ausführliche Lebens¬ beschreibung enthält in ihrem ersten Theil eine Fülle von charakteristischen und liebenswürdigen Zügen: Die Schilderung einer armen Familie im entlegenen Thal, den bittern Kampf mit der Noth des Lebens, das Treiben der Hirten, die erste Liebe des jungen Mannes, seine hinterlistige Entführung durch preu¬ ßische Werber, den gezwungenen Kriegsdienst bis zur Schlacht bei Lowositz, die Flucht nach der Heimath und seit der Zeit einen mühsamen Kampf um dir Eristenz, die Beschreibung seines Haushaltes, zuletzt die Resignation einer weichen, enthusiastischen Natur, welche nicht ohne eigne Schuld durch Neigung zur Träumerei und durch leidenschaftliche Wallungen bei dem Mangel an ruhiger stetiger Kraft in der soliden Einrichtung des eignen Lebens gestört wurde. Ueberall verräth der arme Mann von Tockenburg in seiner ausführlicher« Darstel¬ lung ein poetisches Gemüth von oft rührender Kindlichkeit, einen leidenschaft¬ lichen Trieb zu lesen, nachzudenken und sich zu bilden, eine feine und reizbare Organisation, welche oft durch Phantasien und Stimmungen beherrscht wird. Beide Männer, Thomas Plater und Ulrich Bräcker, waren als kleine Knaben Ziegenhirten, in einsamen Thälern der Alpen; beide geben eine treu herzige Beschreibung dieser Thätigkeit, und beide Beschreibungen sollen hier zusammengestellt werden, die erstere natürlich in die Sprache unsrer Zeit über^- setzt, auch die andere von dem schwerverständlichen des Dialekts befreit. Diese Zusammenstellung zweier Schilderungen derselben Sache aus ver- schiedner Zeit geschieht nicht ohne Absicht. Das Leben der Hirtenknaben, ihre Leiden und kleinen Freuden sind seit Jahrtausenden in der Hauptsache dieselben gewesen. So hat auch die Erzählung beider vieles Gleiche. Aber auch Unterschiede in der Auffassung wird der Leser finden. Und grade an diesen Variationen in Darstellung der bescheidensten menschlichen Thätigkeit, welche fast so stabil und unveränderlich ist, wie das Leben der Natur selbst, läßt sich erkennen, welche stille und doch ungeheure Revolution das deutsche Gemüth in den 230 Jahre», von Anfang des -16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts, durchgemacht hat. Zwar kommt ein guter Theil dieser Verschiedenheit aus die Persönlichkeit der Darstellenden, Plater und Bräcker haben einen verschiedenen Bildungsgang Grenzboten. II. >>8Lik. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/425>, abgerufen am 03.07.2024.