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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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die bis jetzt unser Treiben beherrscht hat, und die wir mit einem nicht ganz
ent'prechenden Ausdruck als die lyrische bezeichnen können. Die Fäden, durch
welche der einzelne Mensch an seine nächste Umgebung, die Landschaft, seine
Thätigkeit, die Verwandten und Freunde gebunden war, wurden mit Be¬
hagen erkannt, und die Freude darüber erhielt auch in der Sprache einen
detaillirten und breiteren Ausdruck. Lust und Schmerz des Einzelnen in dem
beschränkten Kreise des Privatlebens wurden sinnig und mit einem reflectiren-
d.en Wesen empfunden; man dachte darüber nach und vertiefte sich träume¬
risch darein. In dieser Zeit entwickelte sich nicht nur bei den Gebildeten, auch
im Volke eine Freude am Naturgenuß, die selbst in den Kreisen des Volkes,
welche wir naiv nennen, nicht ohne Sentimentalität blieb -- eine größere
Weichheit und Reizbarkeit des Gemüthes ward allgemein. Freundschaft und
Liebe wurden in ihrem Ausdrucke bewegter, leidenschaftlicher, auch sie wur¬
den sentimental. Der Glaube, der zu Platers Zeit den' Geist zumeist auf¬
geregt hatte, soweit seine Dogmen dem zersetzenden Verstände Stoff boten,
wurde zur Träumerei, zum Entzücken, zu einer Mystik des Gefühls. Die junge
einfältige Menschenseele rang nicht mehr vorzugsweise nach einem Verständniß
der Traditionen, sondern nach der Aufnahme Gottes im liebenden Herzen.
Während man sonst vor der Ketzerei gezittert und den Aberglaube" verfolgt hatte,
bebte jetzt das einsame gläubige Menschenherz vor der Sünde. Statt seine Feinde
zu hassen und mit seinen Freunden für die Wahrheit zu leben und zu sterben,
rang der Einzelne jetzt im Stillen mit der Versuchung und grübelte über
den Gegensatz zwischen christlichem Idealismus und den natürlichen Forderungen
menschlicher Sinnlichkeit. An die Stelle der übermüthigen Thatkraft, des
Heldenmuths und deö mannhaften Trotzes war ein verschüchtertes, liebe
bedürftiges, sinniges und nach innen gewandtes Leben getreten, zarter und fein¬
fühlender, aber auch weicher und unbehilflicher, als zwei Jahrhunderte zuvor.
Kurz, unsre Art zu empfinden und zu denken, dieselbe Stimmung der Volks¬
seele, welche vorzugsweise geeignet war., alles Große und Fremde mit inniger
Hingebung in sich aufzunehmen, welche kurz darauf in einer reichen Blüte
deutscher Lyrik durch hundert Jahre lang einen unendlichen Reichthum an
Stimmungen und Gefühlen ausströmte; welche in ihrem Bestreben, das eigne
Herz zu verstehen und die eignen Gedanken zu deuten, die einander anklagten
und entschuldigten, sich eine neue Philosophie schuf und in der Wissenschaft mit
unersättlicher Begierde die hohe Einheit suchte, welche in dem eignen Leben
fehlte, die Einheit zwischen dem eignen Herzen, der Natur und dem Göttlichen.
Es ist dies unsre Volksseele, welche durch Noth und Sklaverei darauf geführt,
den Zusammenhang des Einzelnen mit seinem Volke zu verstehen, in ihren
ruckweisen Versuchen, das Staatsleben umzuformen, überall schwärmerischen
Enthusiasmus bewiesen hat, innige Hingebung an die Ideale des Herzens,


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die bis jetzt unser Treiben beherrscht hat, und die wir mit einem nicht ganz
ent'prechenden Ausdruck als die lyrische bezeichnen können. Die Fäden, durch
welche der einzelne Mensch an seine nächste Umgebung, die Landschaft, seine
Thätigkeit, die Verwandten und Freunde gebunden war, wurden mit Be¬
hagen erkannt, und die Freude darüber erhielt auch in der Sprache einen
detaillirten und breiteren Ausdruck. Lust und Schmerz des Einzelnen in dem
beschränkten Kreise des Privatlebens wurden sinnig und mit einem reflectiren-
d.en Wesen empfunden; man dachte darüber nach und vertiefte sich träume¬
risch darein. In dieser Zeit entwickelte sich nicht nur bei den Gebildeten, auch
im Volke eine Freude am Naturgenuß, die selbst in den Kreisen des Volkes,
welche wir naiv nennen, nicht ohne Sentimentalität blieb — eine größere
Weichheit und Reizbarkeit des Gemüthes ward allgemein. Freundschaft und
Liebe wurden in ihrem Ausdrucke bewegter, leidenschaftlicher, auch sie wur¬
den sentimental. Der Glaube, der zu Platers Zeit den' Geist zumeist auf¬
geregt hatte, soweit seine Dogmen dem zersetzenden Verstände Stoff boten,
wurde zur Träumerei, zum Entzücken, zu einer Mystik des Gefühls. Die junge
einfältige Menschenseele rang nicht mehr vorzugsweise nach einem Verständniß
der Traditionen, sondern nach der Aufnahme Gottes im liebenden Herzen.
Während man sonst vor der Ketzerei gezittert und den Aberglaube» verfolgt hatte,
bebte jetzt das einsame gläubige Menschenherz vor der Sünde. Statt seine Feinde
zu hassen und mit seinen Freunden für die Wahrheit zu leben und zu sterben,
rang der Einzelne jetzt im Stillen mit der Versuchung und grübelte über
den Gegensatz zwischen christlichem Idealismus und den natürlichen Forderungen
menschlicher Sinnlichkeit. An die Stelle der übermüthigen Thatkraft, des
Heldenmuths und deö mannhaften Trotzes war ein verschüchtertes, liebe
bedürftiges, sinniges und nach innen gewandtes Leben getreten, zarter und fein¬
fühlender, aber auch weicher und unbehilflicher, als zwei Jahrhunderte zuvor.
Kurz, unsre Art zu empfinden und zu denken, dieselbe Stimmung der Volks¬
seele, welche vorzugsweise geeignet war., alles Große und Fremde mit inniger
Hingebung in sich aufzunehmen, welche kurz darauf in einer reichen Blüte
deutscher Lyrik durch hundert Jahre lang einen unendlichen Reichthum an
Stimmungen und Gefühlen ausströmte; welche in ihrem Bestreben, das eigne
Herz zu verstehen und die eignen Gedanken zu deuten, die einander anklagten
und entschuldigten, sich eine neue Philosophie schuf und in der Wissenschaft mit
unersättlicher Begierde die hohe Einheit suchte, welche in dem eignen Leben
fehlte, die Einheit zwischen dem eignen Herzen, der Natur und dem Göttlichen.
Es ist dies unsre Volksseele, welche durch Noth und Sklaverei darauf geführt,
den Zusammenhang des Einzelnen mit seinem Volke zu verstehen, in ihren
ruckweisen Versuchen, das Staatsleben umzuformen, überall schwärmerischen
Enthusiasmus bewiesen hat, innige Hingebung an die Ideale des Herzens,


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[0427] die bis jetzt unser Treiben beherrscht hat, und die wir mit einem nicht ganz ent'prechenden Ausdruck als die lyrische bezeichnen können. Die Fäden, durch welche der einzelne Mensch an seine nächste Umgebung, die Landschaft, seine Thätigkeit, die Verwandten und Freunde gebunden war, wurden mit Be¬ hagen erkannt, und die Freude darüber erhielt auch in der Sprache einen detaillirten und breiteren Ausdruck. Lust und Schmerz des Einzelnen in dem beschränkten Kreise des Privatlebens wurden sinnig und mit einem reflectiren- d.en Wesen empfunden; man dachte darüber nach und vertiefte sich träume¬ risch darein. In dieser Zeit entwickelte sich nicht nur bei den Gebildeten, auch im Volke eine Freude am Naturgenuß, die selbst in den Kreisen des Volkes, welche wir naiv nennen, nicht ohne Sentimentalität blieb — eine größere Weichheit und Reizbarkeit des Gemüthes ward allgemein. Freundschaft und Liebe wurden in ihrem Ausdrucke bewegter, leidenschaftlicher, auch sie wur¬ den sentimental. Der Glaube, der zu Platers Zeit den' Geist zumeist auf¬ geregt hatte, soweit seine Dogmen dem zersetzenden Verstände Stoff boten, wurde zur Träumerei, zum Entzücken, zu einer Mystik des Gefühls. Die junge einfältige Menschenseele rang nicht mehr vorzugsweise nach einem Verständniß der Traditionen, sondern nach der Aufnahme Gottes im liebenden Herzen. Während man sonst vor der Ketzerei gezittert und den Aberglaube» verfolgt hatte, bebte jetzt das einsame gläubige Menschenherz vor der Sünde. Statt seine Feinde zu hassen und mit seinen Freunden für die Wahrheit zu leben und zu sterben, rang der Einzelne jetzt im Stillen mit der Versuchung und grübelte über den Gegensatz zwischen christlichem Idealismus und den natürlichen Forderungen menschlicher Sinnlichkeit. An die Stelle der übermüthigen Thatkraft, des Heldenmuths und deö mannhaften Trotzes war ein verschüchtertes, liebe bedürftiges, sinniges und nach innen gewandtes Leben getreten, zarter und fein¬ fühlender, aber auch weicher und unbehilflicher, als zwei Jahrhunderte zuvor. Kurz, unsre Art zu empfinden und zu denken, dieselbe Stimmung der Volks¬ seele, welche vorzugsweise geeignet war., alles Große und Fremde mit inniger Hingebung in sich aufzunehmen, welche kurz darauf in einer reichen Blüte deutscher Lyrik durch hundert Jahre lang einen unendlichen Reichthum an Stimmungen und Gefühlen ausströmte; welche in ihrem Bestreben, das eigne Herz zu verstehen und die eignen Gedanken zu deuten, die einander anklagten und entschuldigten, sich eine neue Philosophie schuf und in der Wissenschaft mit unersättlicher Begierde die hohe Einheit suchte, welche in dem eignen Leben fehlte, die Einheit zwischen dem eignen Herzen, der Natur und dem Göttlichen. Es ist dies unsre Volksseele, welche durch Noth und Sklaverei darauf geführt, den Zusammenhang des Einzelnen mit seinem Volke zu verstehen, in ihren ruckweisen Versuchen, das Staatsleben umzuformen, überall schwärmerischen Enthusiasmus bewiesen hat, innige Hingebung an die Ideale des Herzens, 83*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/427>, abgerufen am 01.07.2024.