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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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dessen letztes Ziel die modexne Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewesen
sei. Man hat die Entdeckung gemacht, daß zur Erreichung dieses Ziels Frank¬
reich den bedenklichen Weg des Absolutismus durchmachen mußte, damit alle Neste
des Feudalstaates vertilgt wurden. Von diesem Gedanken ausgehend hat
man über die einzelnen historischen Thatsachen die abenteuerlichsten Urtheile
gefällt, die fast jedes Mal darauf ausgehen, daß man die nämlichen Bestrebun¬
gen, die man jetzt selbst auf seine Fahne schreibt, in der vergangenen Zeit als
vnfrüht verurtheilt. Man lobt die Inquisition des -13. Jahrhunderts, daß
sie die Glaubensfreiheit in Südfrankreich vernichtet und dadurch die nationale
Einheit möglich machte; man lobt die Könige des -14,. Jahrhunderts, daß sie -
die Municipalverfassung der französischen Städte und die Bemühungen, auf
Grundlage derselben eine allgemeine Verfassung Frankreichs aufzurichten, un¬
terdrückten, weil jene ursprünglichen und naturwüchsigen Freiheiten doch nur die
Sonderinteressen vertraten; man lobt Ludwig XI. und seine Henker, weil er
den Adel niederschlug und durch ein allgemeines Schreckenssystem die künftige
Gleichheit vorbereitete; man lobt Richelieu, daß er die Protestanten, die er im
Auslande unterstützte, im Innern des Landes unterdrückte und dadurch die
Aufhebung des Edictes von Nantes vorbereitete, durch welches der bestiale
Geist der Bluthochzeit gebändigt worden war. Auch diesen bestialen Geist, der
uns freilich die Ereignisse der Jahre 1793 und 94 begreiflich macht, steht man
nicht an zu rühmen und zu preisen als einen nationalen Ausdruck der Abnei¬
gung gegen den protestantischen Adel. Nachdem man so alle Ereignisse auf
den Kopf gestellt und überall nachgewiesen, daß jene energischen und großen
Verstandesmenschen, die mit aller Macht ihres Geistes für den Absolutismus
zu arbeiten glaubten, durch eine geheime Ironie des Schicksas für die Freiheit
arbeiteten, kommt man endlich zur französischen Revolution, wo sich denn ergiebt,
daß jene Arbeit von einem Jahrtausend die Freiheit und Gleichheit nicht als
eine natürliche Frucht erzeugte, sondern in sich selbst zusammenbrach. Auch
der Untergang der neugewonnenen Freiheit zuerst durch Napoleon, dann durch
die Restauration macht jene philosophischen Vertreter des Constitutionalismus
nicht irre. Wenn sich nun neuerdings gezeigt hat, daß trotz aller dieser unge¬
heuren Opfer die kaum gewonnene constitutionelle Freiheit wieder in den Staub
, getreten ist, so hat man ein letztes Mittel gefunden, die Wege der Vorsehung
zu retten, man hat nämlich alle Fehler der frühern Geschichte der sogenannten
Bourgeoisie zur Last gelegt und behauptet, das eigentliche Volk habe sich noch
gar nicht daran betheiligt. Nun bemerkt Quinet mit Recht, daß eine mora¬
lische Person, d. l). ein Eollectivbegriff, sich ebenso wie ein Individuum nur
durch Thaten bewähren könne und daß. es daher ein sehr zweifelhaftes Lob
für das sogenannte Volk sei, wenn es sich wirklich an der Geschichte noch gar
nicht betheiligt habe. Er macht daraus aufmerksam, daß man bei der eviter-


dessen letztes Ziel die modexne Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewesen
sei. Man hat die Entdeckung gemacht, daß zur Erreichung dieses Ziels Frank¬
reich den bedenklichen Weg des Absolutismus durchmachen mußte, damit alle Neste
des Feudalstaates vertilgt wurden. Von diesem Gedanken ausgehend hat
man über die einzelnen historischen Thatsachen die abenteuerlichsten Urtheile
gefällt, die fast jedes Mal darauf ausgehen, daß man die nämlichen Bestrebun¬
gen, die man jetzt selbst auf seine Fahne schreibt, in der vergangenen Zeit als
vnfrüht verurtheilt. Man lobt die Inquisition des -13. Jahrhunderts, daß
sie die Glaubensfreiheit in Südfrankreich vernichtet und dadurch die nationale
Einheit möglich machte; man lobt die Könige des -14,. Jahrhunderts, daß sie -
die Municipalverfassung der französischen Städte und die Bemühungen, auf
Grundlage derselben eine allgemeine Verfassung Frankreichs aufzurichten, un¬
terdrückten, weil jene ursprünglichen und naturwüchsigen Freiheiten doch nur die
Sonderinteressen vertraten; man lobt Ludwig XI. und seine Henker, weil er
den Adel niederschlug und durch ein allgemeines Schreckenssystem die künftige
Gleichheit vorbereitete; man lobt Richelieu, daß er die Protestanten, die er im
Auslande unterstützte, im Innern des Landes unterdrückte und dadurch die
Aufhebung des Edictes von Nantes vorbereitete, durch welches der bestiale
Geist der Bluthochzeit gebändigt worden war. Auch diesen bestialen Geist, der
uns freilich die Ereignisse der Jahre 1793 und 94 begreiflich macht, steht man
nicht an zu rühmen und zu preisen als einen nationalen Ausdruck der Abnei¬
gung gegen den protestantischen Adel. Nachdem man so alle Ereignisse auf
den Kopf gestellt und überall nachgewiesen, daß jene energischen und großen
Verstandesmenschen, die mit aller Macht ihres Geistes für den Absolutismus
zu arbeiten glaubten, durch eine geheime Ironie des Schicksas für die Freiheit
arbeiteten, kommt man endlich zur französischen Revolution, wo sich denn ergiebt,
daß jene Arbeit von einem Jahrtausend die Freiheit und Gleichheit nicht als
eine natürliche Frucht erzeugte, sondern in sich selbst zusammenbrach. Auch
der Untergang der neugewonnenen Freiheit zuerst durch Napoleon, dann durch
die Restauration macht jene philosophischen Vertreter des Constitutionalismus
nicht irre. Wenn sich nun neuerdings gezeigt hat, daß trotz aller dieser unge¬
heuren Opfer die kaum gewonnene constitutionelle Freiheit wieder in den Staub
, getreten ist, so hat man ein letztes Mittel gefunden, die Wege der Vorsehung
zu retten, man hat nämlich alle Fehler der frühern Geschichte der sogenannten
Bourgeoisie zur Last gelegt und behauptet, das eigentliche Volk habe sich noch
gar nicht daran betheiligt. Nun bemerkt Quinet mit Recht, daß eine mora¬
lische Person, d. l). ein Eollectivbegriff, sich ebenso wie ein Individuum nur
durch Thaten bewähren könne und daß. es daher ein sehr zweifelhaftes Lob
für das sogenannte Volk sei, wenn es sich wirklich an der Geschichte noch gar
nicht betheiligt habe. Er macht daraus aufmerksam, daß man bei der eviter-


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[0038] dessen letztes Ziel die modexne Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewesen sei. Man hat die Entdeckung gemacht, daß zur Erreichung dieses Ziels Frank¬ reich den bedenklichen Weg des Absolutismus durchmachen mußte, damit alle Neste des Feudalstaates vertilgt wurden. Von diesem Gedanken ausgehend hat man über die einzelnen historischen Thatsachen die abenteuerlichsten Urtheile gefällt, die fast jedes Mal darauf ausgehen, daß man die nämlichen Bestrebun¬ gen, die man jetzt selbst auf seine Fahne schreibt, in der vergangenen Zeit als vnfrüht verurtheilt. Man lobt die Inquisition des -13. Jahrhunderts, daß sie die Glaubensfreiheit in Südfrankreich vernichtet und dadurch die nationale Einheit möglich machte; man lobt die Könige des -14,. Jahrhunderts, daß sie - die Municipalverfassung der französischen Städte und die Bemühungen, auf Grundlage derselben eine allgemeine Verfassung Frankreichs aufzurichten, un¬ terdrückten, weil jene ursprünglichen und naturwüchsigen Freiheiten doch nur die Sonderinteressen vertraten; man lobt Ludwig XI. und seine Henker, weil er den Adel niederschlug und durch ein allgemeines Schreckenssystem die künftige Gleichheit vorbereitete; man lobt Richelieu, daß er die Protestanten, die er im Auslande unterstützte, im Innern des Landes unterdrückte und dadurch die Aufhebung des Edictes von Nantes vorbereitete, durch welches der bestiale Geist der Bluthochzeit gebändigt worden war. Auch diesen bestialen Geist, der uns freilich die Ereignisse der Jahre 1793 und 94 begreiflich macht, steht man nicht an zu rühmen und zu preisen als einen nationalen Ausdruck der Abnei¬ gung gegen den protestantischen Adel. Nachdem man so alle Ereignisse auf den Kopf gestellt und überall nachgewiesen, daß jene energischen und großen Verstandesmenschen, die mit aller Macht ihres Geistes für den Absolutismus zu arbeiten glaubten, durch eine geheime Ironie des Schicksas für die Freiheit arbeiteten, kommt man endlich zur französischen Revolution, wo sich denn ergiebt, daß jene Arbeit von einem Jahrtausend die Freiheit und Gleichheit nicht als eine natürliche Frucht erzeugte, sondern in sich selbst zusammenbrach. Auch der Untergang der neugewonnenen Freiheit zuerst durch Napoleon, dann durch die Restauration macht jene philosophischen Vertreter des Constitutionalismus nicht irre. Wenn sich nun neuerdings gezeigt hat, daß trotz aller dieser unge¬ heuren Opfer die kaum gewonnene constitutionelle Freiheit wieder in den Staub , getreten ist, so hat man ein letztes Mittel gefunden, die Wege der Vorsehung zu retten, man hat nämlich alle Fehler der frühern Geschichte der sogenannten Bourgeoisie zur Last gelegt und behauptet, das eigentliche Volk habe sich noch gar nicht daran betheiligt. Nun bemerkt Quinet mit Recht, daß eine mora¬ lische Person, d. l). ein Eollectivbegriff, sich ebenso wie ein Individuum nur durch Thaten bewähren könne und daß. es daher ein sehr zweifelhaftes Lob für das sogenannte Volk sei, wenn es sich wirklich an der Geschichte noch gar nicht betheiligt habe. Er macht daraus aufmerksam, daß man bei der eviter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/38>, abgerufen am 01.07.2024.