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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Versuch nicht an seiner innern Unmöglichkeit, sondern an der symbolischen
Richtung, welche Goethe in seinein Alter einschlug. Wenn der französische
Kritiker den Werth der sittlichen Ideen im Gegensatz gegen den auf das End¬
liche gerichteten Trieb des Jndustrialismus scharf hervorhebt, so pflichten wir
ihm vollkommen bei; wenn er aber die Unversöhnbarkeit jener beiden Princi¬
pien behauptet, und seine moralischen Ideen gewissermaßen als einen Hebel
ansieht, durch welchen der herrschende Geist des Zeitalters aus den Fugen ge¬
hoben werden soll, so leidet eine solche Auffassung an all den Schwächen,
welche der blossen guten Meinung anzukleben pflegen, wenn sie nicht mit dem
Bewußtsein realer Kraft verbunden ist. Wir verkennen die unsittlichen und
bedrohlichen Seiten in der jetzigen Einrichtung der Industrie keineswegs, allein
sie entspricht dem gegenwärtigen Stande der Cultur, und wer die Menschheit
zu bessern unternimmt, muß von den gegebenen Voraussetzungen ausgehen.
Die Aufgabe ist unendlich schwierig und wird gewiß nicht so schnell gelöst
werden; aber wer sich ^überhaupt mit solchen Gegenständen beschäftigt, darf sie
nicht umgehen. Die gegenwärtige Einrichtung der Arbeit ist das Gegebene.
Sie völlig umgestalten zu wollen ist ein thörichtes Vorhaben. Es kommt
darauf an, sie auf diejenige Weise zu reformiren, daß an die Unruhe und Au-
sten'gkeit des Erwerbs eine höhere und bleibende Idee sich knüpft. Wenn am
Ende des vorigen Jahrhunderts die deutsche Dichtkunst sich die Mühe gab,
an Stelle der praktischen Erziehung der Menschheit, die sie für unmöglich
hielt, die ästhetische zu setzen, so gingen aus diesem Versuch zwar sehr inter¬
essante Leistungen hervor, aber im Ganzen mußte er scheitern, denn auch die
Kunst erblüht nur auf dem Boden der bestehenden sittlichen Verhältnisse.' Wir
wollen uns hüten, aufs neue in jenen abstracten Idealismus zu verfallen,
5er jedes Mal mit titanischen Umwälzungsplänen beginnt und in schwermüthi-
ger Resignation endet.

Dasselbe Heft enthält eine Abhandlung von Edgar Quinet über die Philo¬
sophie der Geschichte Frankreichs, die wir mit größtem Interesse gelesen haben.
Quack ist, wenn wir uns aus der Gesammtheit seiner Schriften ein Bild zu
machen versuchen, ein höchst begabter, aber ercentrischer Kopf, in dessen Be¬
wegungen wir ebenso häufig durch eine handgreifliche Absurdität, wie durch
den reinsten Ausdruck des gesunden Menschenverstandes überrascht werden.
Dies Mal hat er die letztere Seite und zwar ans eine sehr glänzende Weise ent¬
faltet. Die Franzose" haben auf ihre Weise die von uns erfundene Idee einer
Philosophie der Geschichte ausgebeutet und auf die Geschichte Frankreichs an¬
gewendet, und namentlich sind es die demokratischen Schriftsteller gewesen,
Michelet, L. Blanc u. s. w., welche darin die unerhörtesten Entdeckungen ge¬
macht haben. Man hat sich daran gewöhnt, in der französischen Geschichte
einen zusammenhängenden, gewissermaßen providentiellew Gang zu suchen,


Versuch nicht an seiner innern Unmöglichkeit, sondern an der symbolischen
Richtung, welche Goethe in seinein Alter einschlug. Wenn der französische
Kritiker den Werth der sittlichen Ideen im Gegensatz gegen den auf das End¬
liche gerichteten Trieb des Jndustrialismus scharf hervorhebt, so pflichten wir
ihm vollkommen bei; wenn er aber die Unversöhnbarkeit jener beiden Princi¬
pien behauptet, und seine moralischen Ideen gewissermaßen als einen Hebel
ansieht, durch welchen der herrschende Geist des Zeitalters aus den Fugen ge¬
hoben werden soll, so leidet eine solche Auffassung an all den Schwächen,
welche der blossen guten Meinung anzukleben pflegen, wenn sie nicht mit dem
Bewußtsein realer Kraft verbunden ist. Wir verkennen die unsittlichen und
bedrohlichen Seiten in der jetzigen Einrichtung der Industrie keineswegs, allein
sie entspricht dem gegenwärtigen Stande der Cultur, und wer die Menschheit
zu bessern unternimmt, muß von den gegebenen Voraussetzungen ausgehen.
Die Aufgabe ist unendlich schwierig und wird gewiß nicht so schnell gelöst
werden; aber wer sich ^überhaupt mit solchen Gegenständen beschäftigt, darf sie
nicht umgehen. Die gegenwärtige Einrichtung der Arbeit ist das Gegebene.
Sie völlig umgestalten zu wollen ist ein thörichtes Vorhaben. Es kommt
darauf an, sie auf diejenige Weise zu reformiren, daß an die Unruhe und Au-
sten'gkeit des Erwerbs eine höhere und bleibende Idee sich knüpft. Wenn am
Ende des vorigen Jahrhunderts die deutsche Dichtkunst sich die Mühe gab,
an Stelle der praktischen Erziehung der Menschheit, die sie für unmöglich
hielt, die ästhetische zu setzen, so gingen aus diesem Versuch zwar sehr inter¬
essante Leistungen hervor, aber im Ganzen mußte er scheitern, denn auch die
Kunst erblüht nur auf dem Boden der bestehenden sittlichen Verhältnisse.' Wir
wollen uns hüten, aufs neue in jenen abstracten Idealismus zu verfallen,
5er jedes Mal mit titanischen Umwälzungsplänen beginnt und in schwermüthi-
ger Resignation endet.

Dasselbe Heft enthält eine Abhandlung von Edgar Quinet über die Philo¬
sophie der Geschichte Frankreichs, die wir mit größtem Interesse gelesen haben.
Quack ist, wenn wir uns aus der Gesammtheit seiner Schriften ein Bild zu
machen versuchen, ein höchst begabter, aber ercentrischer Kopf, in dessen Be¬
wegungen wir ebenso häufig durch eine handgreifliche Absurdität, wie durch
den reinsten Ausdruck des gesunden Menschenverstandes überrascht werden.
Dies Mal hat er die letztere Seite und zwar ans eine sehr glänzende Weise ent¬
faltet. Die Franzose« haben auf ihre Weise die von uns erfundene Idee einer
Philosophie der Geschichte ausgebeutet und auf die Geschichte Frankreichs an¬
gewendet, und namentlich sind es die demokratischen Schriftsteller gewesen,
Michelet, L. Blanc u. s. w., welche darin die unerhörtesten Entdeckungen ge¬
macht haben. Man hat sich daran gewöhnt, in der französischen Geschichte
einen zusammenhängenden, gewissermaßen providentiellew Gang zu suchen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/37>, abgerufen am 01.07.2024.