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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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etwas Falsches erkannt und glaubte, das Richtige zu thun, indem man das
Gegentheil that, nicht eingedenk, daß der Gegensatz von etwas Falschen wieder
etwas Falsches sein konnte.

Und doch wird das Regulativ über den Volksschulunterricht unter Sach¬
verständigen wie unter Laien vielen Beifall finden und hat ihn schon gefun¬
den. Es kehrt die auf praktische Brauchbarkeit und unmittelbare Anwendbar¬
keit Hingerichtete materielle Seite des Unterrichts so heraus, daß viele aus
gerechter Freude darüber den Einblick in die eigentliche Meinung und den
Bereich des Gesetzes verlieren werden.

Auch eine nationale Bildung im Anschluß an unsre Nationalliteratur ge¬
hörte mit zu den Forderungen Verjüngst verflossenen Zeit. Wie verhalten sich da¬
zu die Regulative? Herr sticht, der im Jahre 1830 dem Ministerpräsidenten so
hart zu Leibe ging, hat sich seitdem eines Besseren besonnen; er hat nach einer
andern Seite hin Front gemacht; er geht jetzt unsern Dichtern zu Leibe. Die
sogenannten Classiker, sagt er in den Regulativen, sind nicht für die in den
Seminarien gebildeten Lehrer. Selbstverständlich also auch nicht für die über¬
wiegenden Massen der Nation, welche ihre Bildung von jenen erwarten. Wenn
wir jemals hätten zweifeln können, ob wir eine Nationalliteratur besitzen, so
müssen wir es jetzt, wo man erklärt, daß unsre Dichter sich nicht für die Lehrer
unsres Volks eignen. Und es ist nicht das schwierige Verständniß derselben
allein, das ihren Ausschluß aus den Volkskreisen herbeiführt; haben doch
Lessing, Schiller, Goethe, Uhland auch manches Einfache und Leichtverständ¬
liche geschrieben; es ist ihre, wie Stahl sagt, von christlicher Sitte losgetrennte
Gesinnung, welche ihre Werke alle zu den verbotenen Früchten vom Baume
des Erkenntnisses macht. Claudius (der Wandsbecker Bote) dagegen, Hebel,
Krummacher, Grimms Märchen, Gotthelfs Schriften werden den jungen Lehrern
empfohlen. Auch aus den Kreisen der Gebildeten, aus den höhern Ständen
möchte man wol, möchten namentlich die Leiter unsres Schulwesens gern die
Dichter der Blütezeit unsrer Literatur verbannen. Noch wird auf unsern
höhern Lehranstalten Literaturgeschichte gelehrt, meistens nur ein Weniges,
aber man findet auch dies Wenige zu viel. In einer der bedeutenderen Töchter¬
schulen Berlins hat der Director dem Lehrer, der diesen Unterricht ertheilt, wie-
derholentlich gerathen, sich dabei' doch auf die Geschichte des Kirchenliedes zu
beschränken; und in einer mit einer Schule verbundenen Pensionsanstalt, wo
der die Aufsicht führende Superintendent erfuhr, daß die Zöglinge der ersten
Classe, unter Anleitung ausgewählte Werke unsrer Dichter kennen lernen,
äußerte derselbe sein tiefes Bedauern, daß junge Mädchen, die er eingesegnet
hätte, Schillers Gedichte lesen könnten.

Die Forderung der Realschulen, für das Studium der Mathematik, der
Naturwissenschaften und der neuern Sprachen ihren mit dem Zeugniß der


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etwas Falsches erkannt und glaubte, das Richtige zu thun, indem man das
Gegentheil that, nicht eingedenk, daß der Gegensatz von etwas Falschen wieder
etwas Falsches sein konnte.

Und doch wird das Regulativ über den Volksschulunterricht unter Sach¬
verständigen wie unter Laien vielen Beifall finden und hat ihn schon gefun¬
den. Es kehrt die auf praktische Brauchbarkeit und unmittelbare Anwendbar¬
keit Hingerichtete materielle Seite des Unterrichts so heraus, daß viele aus
gerechter Freude darüber den Einblick in die eigentliche Meinung und den
Bereich des Gesetzes verlieren werden.

Auch eine nationale Bildung im Anschluß an unsre Nationalliteratur ge¬
hörte mit zu den Forderungen Verjüngst verflossenen Zeit. Wie verhalten sich da¬
zu die Regulative? Herr sticht, der im Jahre 1830 dem Ministerpräsidenten so
hart zu Leibe ging, hat sich seitdem eines Besseren besonnen; er hat nach einer
andern Seite hin Front gemacht; er geht jetzt unsern Dichtern zu Leibe. Die
sogenannten Classiker, sagt er in den Regulativen, sind nicht für die in den
Seminarien gebildeten Lehrer. Selbstverständlich also auch nicht für die über¬
wiegenden Massen der Nation, welche ihre Bildung von jenen erwarten. Wenn
wir jemals hätten zweifeln können, ob wir eine Nationalliteratur besitzen, so
müssen wir es jetzt, wo man erklärt, daß unsre Dichter sich nicht für die Lehrer
unsres Volks eignen. Und es ist nicht das schwierige Verständniß derselben
allein, das ihren Ausschluß aus den Volkskreisen herbeiführt; haben doch
Lessing, Schiller, Goethe, Uhland auch manches Einfache und Leichtverständ¬
liche geschrieben; es ist ihre, wie Stahl sagt, von christlicher Sitte losgetrennte
Gesinnung, welche ihre Werke alle zu den verbotenen Früchten vom Baume
des Erkenntnisses macht. Claudius (der Wandsbecker Bote) dagegen, Hebel,
Krummacher, Grimms Märchen, Gotthelfs Schriften werden den jungen Lehrern
empfohlen. Auch aus den Kreisen der Gebildeten, aus den höhern Ständen
möchte man wol, möchten namentlich die Leiter unsres Schulwesens gern die
Dichter der Blütezeit unsrer Literatur verbannen. Noch wird auf unsern
höhern Lehranstalten Literaturgeschichte gelehrt, meistens nur ein Weniges,
aber man findet auch dies Wenige zu viel. In einer der bedeutenderen Töchter¬
schulen Berlins hat der Director dem Lehrer, der diesen Unterricht ertheilt, wie-
derholentlich gerathen, sich dabei' doch auf die Geschichte des Kirchenliedes zu
beschränken; und in einer mit einer Schule verbundenen Pensionsanstalt, wo
der die Aufsicht führende Superintendent erfuhr, daß die Zöglinge der ersten
Classe, unter Anleitung ausgewählte Werke unsrer Dichter kennen lernen,
äußerte derselbe sein tiefes Bedauern, daß junge Mädchen, die er eingesegnet
hätte, Schillers Gedichte lesen könnten.

Die Forderung der Realschulen, für das Studium der Mathematik, der
Naturwissenschaften und der neuern Sprachen ihren mit dem Zeugniß der


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[0379] etwas Falsches erkannt und glaubte, das Richtige zu thun, indem man das Gegentheil that, nicht eingedenk, daß der Gegensatz von etwas Falschen wieder etwas Falsches sein konnte. Und doch wird das Regulativ über den Volksschulunterricht unter Sach¬ verständigen wie unter Laien vielen Beifall finden und hat ihn schon gefun¬ den. Es kehrt die auf praktische Brauchbarkeit und unmittelbare Anwendbar¬ keit Hingerichtete materielle Seite des Unterrichts so heraus, daß viele aus gerechter Freude darüber den Einblick in die eigentliche Meinung und den Bereich des Gesetzes verlieren werden. Auch eine nationale Bildung im Anschluß an unsre Nationalliteratur ge¬ hörte mit zu den Forderungen Verjüngst verflossenen Zeit. Wie verhalten sich da¬ zu die Regulative? Herr sticht, der im Jahre 1830 dem Ministerpräsidenten so hart zu Leibe ging, hat sich seitdem eines Besseren besonnen; er hat nach einer andern Seite hin Front gemacht; er geht jetzt unsern Dichtern zu Leibe. Die sogenannten Classiker, sagt er in den Regulativen, sind nicht für die in den Seminarien gebildeten Lehrer. Selbstverständlich also auch nicht für die über¬ wiegenden Massen der Nation, welche ihre Bildung von jenen erwarten. Wenn wir jemals hätten zweifeln können, ob wir eine Nationalliteratur besitzen, so müssen wir es jetzt, wo man erklärt, daß unsre Dichter sich nicht für die Lehrer unsres Volks eignen. Und es ist nicht das schwierige Verständniß derselben allein, das ihren Ausschluß aus den Volkskreisen herbeiführt; haben doch Lessing, Schiller, Goethe, Uhland auch manches Einfache und Leichtverständ¬ liche geschrieben; es ist ihre, wie Stahl sagt, von christlicher Sitte losgetrennte Gesinnung, welche ihre Werke alle zu den verbotenen Früchten vom Baume des Erkenntnisses macht. Claudius (der Wandsbecker Bote) dagegen, Hebel, Krummacher, Grimms Märchen, Gotthelfs Schriften werden den jungen Lehrern empfohlen. Auch aus den Kreisen der Gebildeten, aus den höhern Ständen möchte man wol, möchten namentlich die Leiter unsres Schulwesens gern die Dichter der Blütezeit unsrer Literatur verbannen. Noch wird auf unsern höhern Lehranstalten Literaturgeschichte gelehrt, meistens nur ein Weniges, aber man findet auch dies Wenige zu viel. In einer der bedeutenderen Töchter¬ schulen Berlins hat der Director dem Lehrer, der diesen Unterricht ertheilt, wie- derholentlich gerathen, sich dabei' doch auf die Geschichte des Kirchenliedes zu beschränken; und in einer mit einer Schule verbundenen Pensionsanstalt, wo der die Aufsicht führende Superintendent erfuhr, daß die Zöglinge der ersten Classe, unter Anleitung ausgewählte Werke unsrer Dichter kennen lernen, äußerte derselbe sein tiefes Bedauern, daß junge Mädchen, die er eingesegnet hätte, Schillers Gedichte lesen könnten. Die Forderung der Realschulen, für das Studium der Mathematik, der Naturwissenschaften und der neuern Sprachen ihren mit dem Zeugniß der 47 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/379>, abgerufen am 22.07.2024.