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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Pracht kennen zu lernen, in deren Strahlen Rußland ven armen, schlecht¬
gehaltenen Marinesoldaten zu leiden und zu sterben vergönnt. -- Man denke
sich ein ungeheures dreistöckiges Gebäude in Hufeisenform. In der Mitte
des Haupttheils strahlt die griechisch-russische Kirche, daneben und in den
Seitenflügeln sind in den zwei obern Stockwerken 93 Krankensäle zu finden.
Das ganze Erdgeschoß wird von Oekvnomieräumen, Beamtenwohnungen
u. dergl. eingenommen. Von den drei Hausthoren bis in das letzte Kranken¬
gemach sind alle Fußböden aus Eichenparket gefertigt, sind im Winter alle
Räume gleichmäßig durchwärmt. Lange, lichte Corridors lausen vor den
Krankenzimmern hin; dort ergehen sich die Genesenden. In den Zimmern
selbst stehen je etwa 30 Betten auf eisernen Gestellen, musterhaft sauber her¬
gerichtet und gehalten; eine treffliche Ventilation hält die Luft rein und leicht.
Und in diesen Räumen, welche durchschnittlich 1700---1800 Kranke gleichzeitig
beherbergen, jährlich etwa. 30--32,000, üben 20 Aerzte unter drei Oberärzten
ihren Berus. Jeder Saal hat wieder zwei Feldscheerer für den höhern Kranken¬
wärterdienst und zwei niedere Krankenwärter.

Trotz all dieser Vorkehrungen sterben von den Kranken sechs vom Hun¬
dert -- ein Zeichen, wie schlecht nicht nur die Gesundheitszustande der russi¬
schen Ostseeflotte im Allgemeinen, sondern speciell auch die der Kronstädter
Garnison sind. Und in der That ist hier der Scorbut so allherrschend jahr¬
aus, jahrein (nur die drei strengsten Wintermonate ausgenommen), daß viel¬
leicht kaum ein Mensch eristirt, der nicht wenigstens der Geneigtheit zu dieser
abscheulichen Krankheit verfällt. Es ist daher auch eine bestimmte Gewohn¬
heit, die Behandlung jedes Leidens im Lazareth wie im Privathaus zuerst
gegen die scorbutische Complication zu richten. Rechnet man dazu, daß aus
der russischen Ostseeflotte durchschnittlich der vierte Mensch an mehr oder min¬
der entwickelter Schwindsucht leidet, so sind die schlechten Resultate selbst
der besten Heilanstalten und der geschicktesten ärztlichen Behandlung wahrlich
leicht zu erklären.-- Manche Leute wollen selbst behaupten, daß die Unthätig-
keit und Untüchtigkeit, welche die russische Marine nicht blos in der Ostsee,
sondern ebenso im schwarzen Meere zeigt, vorzüglich aus den entsetzlichen
Gesundheitszuständen der Mariniers herzuleiten sei.

Der westliche, sogenannte Commandantentheil der Stadt bildet die
eigentliche Umgebung der Häfen. War schon bisher im ganzen äußern An¬
sehen wenig Spur von einem selbstständigen Emporwachsen der Straßen, so
hier noch viel weniger. Wir gelangen über weite Strecken, auf denen
die Baugefangenen soeben neuen Grund zu weitläufigen Gebäuden graben;
in ein Stück Stadt, das keine Stadt ist, obgleich die Häuser von den un¬
geheuersten Dimensionen und so schnurgerad und regelmäßig aufgeführt stehen,
wie nur irgend im elegantesten Viertel von Se. Petersburg.


Pracht kennen zu lernen, in deren Strahlen Rußland ven armen, schlecht¬
gehaltenen Marinesoldaten zu leiden und zu sterben vergönnt. — Man denke
sich ein ungeheures dreistöckiges Gebäude in Hufeisenform. In der Mitte
des Haupttheils strahlt die griechisch-russische Kirche, daneben und in den
Seitenflügeln sind in den zwei obern Stockwerken 93 Krankensäle zu finden.
Das ganze Erdgeschoß wird von Oekvnomieräumen, Beamtenwohnungen
u. dergl. eingenommen. Von den drei Hausthoren bis in das letzte Kranken¬
gemach sind alle Fußböden aus Eichenparket gefertigt, sind im Winter alle
Räume gleichmäßig durchwärmt. Lange, lichte Corridors lausen vor den
Krankenzimmern hin; dort ergehen sich die Genesenden. In den Zimmern
selbst stehen je etwa 30 Betten auf eisernen Gestellen, musterhaft sauber her¬
gerichtet und gehalten; eine treffliche Ventilation hält die Luft rein und leicht.
Und in diesen Räumen, welche durchschnittlich 1700—-1800 Kranke gleichzeitig
beherbergen, jährlich etwa. 30—32,000, üben 20 Aerzte unter drei Oberärzten
ihren Berus. Jeder Saal hat wieder zwei Feldscheerer für den höhern Kranken¬
wärterdienst und zwei niedere Krankenwärter.

Trotz all dieser Vorkehrungen sterben von den Kranken sechs vom Hun¬
dert — ein Zeichen, wie schlecht nicht nur die Gesundheitszustande der russi¬
schen Ostseeflotte im Allgemeinen, sondern speciell auch die der Kronstädter
Garnison sind. Und in der That ist hier der Scorbut so allherrschend jahr¬
aus, jahrein (nur die drei strengsten Wintermonate ausgenommen), daß viel¬
leicht kaum ein Mensch eristirt, der nicht wenigstens der Geneigtheit zu dieser
abscheulichen Krankheit verfällt. Es ist daher auch eine bestimmte Gewohn¬
heit, die Behandlung jedes Leidens im Lazareth wie im Privathaus zuerst
gegen die scorbutische Complication zu richten. Rechnet man dazu, daß aus
der russischen Ostseeflotte durchschnittlich der vierte Mensch an mehr oder min¬
der entwickelter Schwindsucht leidet, so sind die schlechten Resultate selbst
der besten Heilanstalten und der geschicktesten ärztlichen Behandlung wahrlich
leicht zu erklären.— Manche Leute wollen selbst behaupten, daß die Unthätig-
keit und Untüchtigkeit, welche die russische Marine nicht blos in der Ostsee,
sondern ebenso im schwarzen Meere zeigt, vorzüglich aus den entsetzlichen
Gesundheitszuständen der Mariniers herzuleiten sei.

Der westliche, sogenannte Commandantentheil der Stadt bildet die
eigentliche Umgebung der Häfen. War schon bisher im ganzen äußern An¬
sehen wenig Spur von einem selbstständigen Emporwachsen der Straßen, so
hier noch viel weniger. Wir gelangen über weite Strecken, auf denen
die Baugefangenen soeben neuen Grund zu weitläufigen Gebäuden graben;
in ein Stück Stadt, das keine Stadt ist, obgleich die Häuser von den un¬
geheuersten Dimensionen und so schnurgerad und regelmäßig aufgeführt stehen,
wie nur irgend im elegantesten Viertel von Se. Petersburg.


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[0256] Pracht kennen zu lernen, in deren Strahlen Rußland ven armen, schlecht¬ gehaltenen Marinesoldaten zu leiden und zu sterben vergönnt. — Man denke sich ein ungeheures dreistöckiges Gebäude in Hufeisenform. In der Mitte des Haupttheils strahlt die griechisch-russische Kirche, daneben und in den Seitenflügeln sind in den zwei obern Stockwerken 93 Krankensäle zu finden. Das ganze Erdgeschoß wird von Oekvnomieräumen, Beamtenwohnungen u. dergl. eingenommen. Von den drei Hausthoren bis in das letzte Kranken¬ gemach sind alle Fußböden aus Eichenparket gefertigt, sind im Winter alle Räume gleichmäßig durchwärmt. Lange, lichte Corridors lausen vor den Krankenzimmern hin; dort ergehen sich die Genesenden. In den Zimmern selbst stehen je etwa 30 Betten auf eisernen Gestellen, musterhaft sauber her¬ gerichtet und gehalten; eine treffliche Ventilation hält die Luft rein und leicht. Und in diesen Räumen, welche durchschnittlich 1700—-1800 Kranke gleichzeitig beherbergen, jährlich etwa. 30—32,000, üben 20 Aerzte unter drei Oberärzten ihren Berus. Jeder Saal hat wieder zwei Feldscheerer für den höhern Kranken¬ wärterdienst und zwei niedere Krankenwärter. Trotz all dieser Vorkehrungen sterben von den Kranken sechs vom Hun¬ dert — ein Zeichen, wie schlecht nicht nur die Gesundheitszustande der russi¬ schen Ostseeflotte im Allgemeinen, sondern speciell auch die der Kronstädter Garnison sind. Und in der That ist hier der Scorbut so allherrschend jahr¬ aus, jahrein (nur die drei strengsten Wintermonate ausgenommen), daß viel¬ leicht kaum ein Mensch eristirt, der nicht wenigstens der Geneigtheit zu dieser abscheulichen Krankheit verfällt. Es ist daher auch eine bestimmte Gewohn¬ heit, die Behandlung jedes Leidens im Lazareth wie im Privathaus zuerst gegen die scorbutische Complication zu richten. Rechnet man dazu, daß aus der russischen Ostseeflotte durchschnittlich der vierte Mensch an mehr oder min¬ der entwickelter Schwindsucht leidet, so sind die schlechten Resultate selbst der besten Heilanstalten und der geschicktesten ärztlichen Behandlung wahrlich leicht zu erklären.— Manche Leute wollen selbst behaupten, daß die Unthätig- keit und Untüchtigkeit, welche die russische Marine nicht blos in der Ostsee, sondern ebenso im schwarzen Meere zeigt, vorzüglich aus den entsetzlichen Gesundheitszuständen der Mariniers herzuleiten sei. Der westliche, sogenannte Commandantentheil der Stadt bildet die eigentliche Umgebung der Häfen. War schon bisher im ganzen äußern An¬ sehen wenig Spur von einem selbstständigen Emporwachsen der Straßen, so hier noch viel weniger. Wir gelangen über weite Strecken, auf denen die Baugefangenen soeben neuen Grund zu weitläufigen Gebäuden graben; in ein Stück Stadt, das keine Stadt ist, obgleich die Häuser von den un¬ geheuersten Dimensionen und so schnurgerad und regelmäßig aufgeführt stehen, wie nur irgend im elegantesten Viertel von Se. Petersburg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/256>, abgerufen am 24.08.2024.