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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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die eisernen Formen und widersprechenden Normen des speciellen und localen
Staatszweckes. Wie in keiner russischen Stadt der Begriff der Bürgerthüm-
lichkeit wieder erstand, nachdem er einmal durch die Entwicklung des Zaren-
thums in Moskau, Nowgorod, Litew u. s. w. untergegangen war, so hat
auch die moderne Gestaltung des europäischen Städtelebens nirgend selbst-
ständig erstehen können, seit in Petersburg alle Vorzüge, Gewinne und Vor¬
theile der russischen Wechselbeziehungen mit der Außenwelt zusammengehäuft
werden müssen.

Während in Kronstäbe der Staat jedem Privatunternehmen sein Erstehen
erschwert und seine Marinebedürfnisse ausschließlich in eignen Fabriken und
Manufacturen herstellt, sind die Anlagen von Productionsstätteu für alle
Nothwendigkeiten eines Handelshafens den Privatunternehmern ebenfalls nicht
oder nur äußerst ausnahmsweise bewilligt worden. Höchstens Commanditen
dürfen selbst von den Petersburgern hier außen geHallen werden. Allein die dar¬
auf haftenden Lasten, die vom Festungöwesen aufgelegten Beschränkungen ver¬
theuern die Preise der Producte dermaßen, daß sie mit der Production und
den Preisen der Kronanstalten nicht concurriren können, obgleich wie überall
die Herstellungskosten des Privatunternehmers ursprünglich fast um ein Drittel
geringer sind als die des Staates, und vollends des vom russischen Beamten-
thum bedienten Staates. Man kann kaum daran zweifeln, daß Nußland auf
Kronstäbe keine Entwicklung der Privatindustrie aufkommen lassen will.

Dies sieht man auch der Stadt Kronstäbe auf den ersten Blick an.
Diese breiten, regelrechten Straßen mit den unter einem Dach hinlaufenden
uniformen Häusern baute keine sich selbstständig entwickelnde Stadtbevölkerung.
Ueberall erkennt man das aufgemauerte Ukas, überall den nivellirenden Befehl
des Festungscommandanten. Menschen begegnet man äußerst selten. Was
in diesen Häusern lebt, das verbringt den ganzen Tag entweder in den
Arbeitsstätten des Hafens oder auf den ankernden Schiffen oder endlich in
den Kasernen, Kasematten und Lazarethen. Ziemlich unbeschäftigt stehen die
Jswvschtschiks (d. i. Lvhndroschken) auf den übermäßig geweiteten Plätzen;
und zu welchem Zwecke auch in Kronstäbe an jeder Ecke ein Polizeiposten vor
seinem Schilderhause die Hellebarde schüttert, begreift man kaum. Es gibt
ja kein Gassenleben zu überwachen.

Der östliche Theil, der Admiralitätstheil genannt, har aber für
sein todtes Dasein wenigstens den Vortheil, am höchsten zu liegen und da¬
durch der verhältnißmäßig gesundesten Luft zu genießen. Zu betrachten ist
dagegen sehr wenig außer jenem ungeheuern Marinelazareth, welches uns
beim Heransegeln zuerst ins Auge fiel. Den Leser in die Intimitäten dieser
Wohnung des Leidens einzuführen ihl hier nicht der Ort. Vielleicht dürfte
es indessen nicht ohne Interesse sein, in flüchtigem Ueberblicke wenigstens die


die eisernen Formen und widersprechenden Normen des speciellen und localen
Staatszweckes. Wie in keiner russischen Stadt der Begriff der Bürgerthüm-
lichkeit wieder erstand, nachdem er einmal durch die Entwicklung des Zaren-
thums in Moskau, Nowgorod, Litew u. s. w. untergegangen war, so hat
auch die moderne Gestaltung des europäischen Städtelebens nirgend selbst-
ständig erstehen können, seit in Petersburg alle Vorzüge, Gewinne und Vor¬
theile der russischen Wechselbeziehungen mit der Außenwelt zusammengehäuft
werden müssen.

Während in Kronstäbe der Staat jedem Privatunternehmen sein Erstehen
erschwert und seine Marinebedürfnisse ausschließlich in eignen Fabriken und
Manufacturen herstellt, sind die Anlagen von Productionsstätteu für alle
Nothwendigkeiten eines Handelshafens den Privatunternehmern ebenfalls nicht
oder nur äußerst ausnahmsweise bewilligt worden. Höchstens Commanditen
dürfen selbst von den Petersburgern hier außen geHallen werden. Allein die dar¬
auf haftenden Lasten, die vom Festungöwesen aufgelegten Beschränkungen ver¬
theuern die Preise der Producte dermaßen, daß sie mit der Production und
den Preisen der Kronanstalten nicht concurriren können, obgleich wie überall
die Herstellungskosten des Privatunternehmers ursprünglich fast um ein Drittel
geringer sind als die des Staates, und vollends des vom russischen Beamten-
thum bedienten Staates. Man kann kaum daran zweifeln, daß Nußland auf
Kronstäbe keine Entwicklung der Privatindustrie aufkommen lassen will.

Dies sieht man auch der Stadt Kronstäbe auf den ersten Blick an.
Diese breiten, regelrechten Straßen mit den unter einem Dach hinlaufenden
uniformen Häusern baute keine sich selbstständig entwickelnde Stadtbevölkerung.
Ueberall erkennt man das aufgemauerte Ukas, überall den nivellirenden Befehl
des Festungscommandanten. Menschen begegnet man äußerst selten. Was
in diesen Häusern lebt, das verbringt den ganzen Tag entweder in den
Arbeitsstätten des Hafens oder auf den ankernden Schiffen oder endlich in
den Kasernen, Kasematten und Lazarethen. Ziemlich unbeschäftigt stehen die
Jswvschtschiks (d. i. Lvhndroschken) auf den übermäßig geweiteten Plätzen;
und zu welchem Zwecke auch in Kronstäbe an jeder Ecke ein Polizeiposten vor
seinem Schilderhause die Hellebarde schüttert, begreift man kaum. Es gibt
ja kein Gassenleben zu überwachen.

Der östliche Theil, der Admiralitätstheil genannt, har aber für
sein todtes Dasein wenigstens den Vortheil, am höchsten zu liegen und da¬
durch der verhältnißmäßig gesundesten Luft zu genießen. Zu betrachten ist
dagegen sehr wenig außer jenem ungeheuern Marinelazareth, welches uns
beim Heransegeln zuerst ins Auge fiel. Den Leser in die Intimitäten dieser
Wohnung des Leidens einzuführen ihl hier nicht der Ort. Vielleicht dürfte
es indessen nicht ohne Interesse sein, in flüchtigem Ueberblicke wenigstens die


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[0255] die eisernen Formen und widersprechenden Normen des speciellen und localen Staatszweckes. Wie in keiner russischen Stadt der Begriff der Bürgerthüm- lichkeit wieder erstand, nachdem er einmal durch die Entwicklung des Zaren- thums in Moskau, Nowgorod, Litew u. s. w. untergegangen war, so hat auch die moderne Gestaltung des europäischen Städtelebens nirgend selbst- ständig erstehen können, seit in Petersburg alle Vorzüge, Gewinne und Vor¬ theile der russischen Wechselbeziehungen mit der Außenwelt zusammengehäuft werden müssen. Während in Kronstäbe der Staat jedem Privatunternehmen sein Erstehen erschwert und seine Marinebedürfnisse ausschließlich in eignen Fabriken und Manufacturen herstellt, sind die Anlagen von Productionsstätteu für alle Nothwendigkeiten eines Handelshafens den Privatunternehmern ebenfalls nicht oder nur äußerst ausnahmsweise bewilligt worden. Höchstens Commanditen dürfen selbst von den Petersburgern hier außen geHallen werden. Allein die dar¬ auf haftenden Lasten, die vom Festungöwesen aufgelegten Beschränkungen ver¬ theuern die Preise der Producte dermaßen, daß sie mit der Production und den Preisen der Kronanstalten nicht concurriren können, obgleich wie überall die Herstellungskosten des Privatunternehmers ursprünglich fast um ein Drittel geringer sind als die des Staates, und vollends des vom russischen Beamten- thum bedienten Staates. Man kann kaum daran zweifeln, daß Nußland auf Kronstäbe keine Entwicklung der Privatindustrie aufkommen lassen will. Dies sieht man auch der Stadt Kronstäbe auf den ersten Blick an. Diese breiten, regelrechten Straßen mit den unter einem Dach hinlaufenden uniformen Häusern baute keine sich selbstständig entwickelnde Stadtbevölkerung. Ueberall erkennt man das aufgemauerte Ukas, überall den nivellirenden Befehl des Festungscommandanten. Menschen begegnet man äußerst selten. Was in diesen Häusern lebt, das verbringt den ganzen Tag entweder in den Arbeitsstätten des Hafens oder auf den ankernden Schiffen oder endlich in den Kasernen, Kasematten und Lazarethen. Ziemlich unbeschäftigt stehen die Jswvschtschiks (d. i. Lvhndroschken) auf den übermäßig geweiteten Plätzen; und zu welchem Zwecke auch in Kronstäbe an jeder Ecke ein Polizeiposten vor seinem Schilderhause die Hellebarde schüttert, begreift man kaum. Es gibt ja kein Gassenleben zu überwachen. Der östliche Theil, der Admiralitätstheil genannt, har aber für sein todtes Dasein wenigstens den Vortheil, am höchsten zu liegen und da¬ durch der verhältnißmäßig gesundesten Luft zu genießen. Zu betrachten ist dagegen sehr wenig außer jenem ungeheuern Marinelazareth, welches uns beim Heransegeln zuerst ins Auge fiel. Den Leser in die Intimitäten dieser Wohnung des Leidens einzuführen ihl hier nicht der Ort. Vielleicht dürfte es indessen nicht ohne Interesse sein, in flüchtigem Ueberblicke wenigstens die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/255>, abgerufen am 24.08.2024.