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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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stände vorsichtshalber erbaut und außerdem die Absperrung durch eine Mauer,
deren Anfang wir bei der Landung betraten, bis an den Strand hinübergeführt.

Daß auf einem Eilande von ursprünglich so unwohnlichen Verhältnissen
von einer Urbevölkerung keine Rede war, versteht sich wol von selbst. Es
war auch gar keine Veranlassung zu Niederlassungen vorhanden, solange der
Newamündungssumpf, den Petersburg ebenfalls dem Wasser abgerungen hat,
noch ebenso unbewohnt lag, als die Ufer des ganzen Stromes bis zum
Ladogasee. --

Alle Menschen, die hier sind, hat das Machtwort des Zaren hergezaubert.
So ists natürlich, daß jene Mengen, welche als Beamte, Offiziere und Sol¬
daten unmittelbar dem Staatsdienst angehören, nicht nur den Grundstock, sondern
auch die weit überwiegende Masse der heutigen Bevölkerung bilden. --

Nach russischen Angaben, die indessen überall in ihren Bevölkerungszahlen
die Mehrheit zu übersteigen pflegen, bewohnen etwa 33,000 Menschen die
Insel nebst ihren Festungswerken. Davon gehören (im Frieden) etwa 60,000
der eigentlichen Besatzung an, -10,000 sind militärische Arrestanten -- Festungs-
gefangcne, die in eignen Kasernen zusammengehäuft sind. So bleiben blos
noch 3000 übrig, welche die Militäruniform nicht tragen. Aber es ist eine sehr
geringe Annahme, wenn davon etwa 1300 auf die Zoll-, Paß- und Polizeian¬
stalten, andere -1300 auf die mechanischen Etablissements der Marine und Festung
gerechnet werden. So sind noch 2300 sogenannte "freie Leute" übrig, welche
die bürgerlichen Gewerbe betreiben. Diese bestehen jedoch nicht im Handwerk,
sondern fast ausschließlich in Gastgebern, Schenkwirthschaft, im Halten von
Kramläden und Lohnfuhrwerken, besonders auch in Gcmüsegärtnerei, für welche
der Russe überall ein ganz besonderes Geschick zeigt. Mehr als Zweidrittel davon
sind freie oder auch nur auf Arbeitspaß entlassene leibeigne Russen, das letzte
Drittel zerfällt in Finnen, Letten, Esthen und Deutsche. Frauen gibt es
natürlich unter dieser gesammten Bevölkerung wenig und von diesen wenigen
noch wenigere, die nicht zum entartetsten Theilr des weiblichen Geschlechts
gehören.-----

Unter wahrhaft europäischen Verhältnissen würde an einem Orte, welcher
dem Staate zur Hauptverkehröpforte mit den Seenationen des ganzen 'Erd¬
theils wurde, eine bürgerliche Bevölkerung herangewachsen sein. All die un¬
zähligen Geschäfte eines so bedeutsamen Stapelplatzes, die Fabrikationen und
Manufacturen eines so wichtigen Hafens, die von der Zollgrenze, bedingten
Handelsmanipulationen lägen in der Hand von Privatleuten und würden
nicht nur viele Tausende ernähren, sondern auch ein neues Glied in der großen
die Welt verknüpfenden Civilisationskette geschlungen haben. Dies Alles ist
in Nußland unmöglich, weil das autokratische System auch der materiellen
Entwicklung keinen freien Spielraum lassen darf. Ueberall fesselt es sie an


stände vorsichtshalber erbaut und außerdem die Absperrung durch eine Mauer,
deren Anfang wir bei der Landung betraten, bis an den Strand hinübergeführt.

Daß auf einem Eilande von ursprünglich so unwohnlichen Verhältnissen
von einer Urbevölkerung keine Rede war, versteht sich wol von selbst. Es
war auch gar keine Veranlassung zu Niederlassungen vorhanden, solange der
Newamündungssumpf, den Petersburg ebenfalls dem Wasser abgerungen hat,
noch ebenso unbewohnt lag, als die Ufer des ganzen Stromes bis zum
Ladogasee. —

Alle Menschen, die hier sind, hat das Machtwort des Zaren hergezaubert.
So ists natürlich, daß jene Mengen, welche als Beamte, Offiziere und Sol¬
daten unmittelbar dem Staatsdienst angehören, nicht nur den Grundstock, sondern
auch die weit überwiegende Masse der heutigen Bevölkerung bilden. —

Nach russischen Angaben, die indessen überall in ihren Bevölkerungszahlen
die Mehrheit zu übersteigen pflegen, bewohnen etwa 33,000 Menschen die
Insel nebst ihren Festungswerken. Davon gehören (im Frieden) etwa 60,000
der eigentlichen Besatzung an, -10,000 sind militärische Arrestanten — Festungs-
gefangcne, die in eignen Kasernen zusammengehäuft sind. So bleiben blos
noch 3000 übrig, welche die Militäruniform nicht tragen. Aber es ist eine sehr
geringe Annahme, wenn davon etwa 1300 auf die Zoll-, Paß- und Polizeian¬
stalten, andere -1300 auf die mechanischen Etablissements der Marine und Festung
gerechnet werden. So sind noch 2300 sogenannte „freie Leute" übrig, welche
die bürgerlichen Gewerbe betreiben. Diese bestehen jedoch nicht im Handwerk,
sondern fast ausschließlich in Gastgebern, Schenkwirthschaft, im Halten von
Kramläden und Lohnfuhrwerken, besonders auch in Gcmüsegärtnerei, für welche
der Russe überall ein ganz besonderes Geschick zeigt. Mehr als Zweidrittel davon
sind freie oder auch nur auf Arbeitspaß entlassene leibeigne Russen, das letzte
Drittel zerfällt in Finnen, Letten, Esthen und Deutsche. Frauen gibt es
natürlich unter dieser gesammten Bevölkerung wenig und von diesen wenigen
noch wenigere, die nicht zum entartetsten Theilr des weiblichen Geschlechts
gehören.---—

Unter wahrhaft europäischen Verhältnissen würde an einem Orte, welcher
dem Staate zur Hauptverkehröpforte mit den Seenationen des ganzen 'Erd¬
theils wurde, eine bürgerliche Bevölkerung herangewachsen sein. All die un¬
zähligen Geschäfte eines so bedeutsamen Stapelplatzes, die Fabrikationen und
Manufacturen eines so wichtigen Hafens, die von der Zollgrenze, bedingten
Handelsmanipulationen lägen in der Hand von Privatleuten und würden
nicht nur viele Tausende ernähren, sondern auch ein neues Glied in der großen
die Welt verknüpfenden Civilisationskette geschlungen haben. Dies Alles ist
in Nußland unmöglich, weil das autokratische System auch der materiellen
Entwicklung keinen freien Spielraum lassen darf. Ueberall fesselt es sie an


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[0254] stände vorsichtshalber erbaut und außerdem die Absperrung durch eine Mauer, deren Anfang wir bei der Landung betraten, bis an den Strand hinübergeführt. Daß auf einem Eilande von ursprünglich so unwohnlichen Verhältnissen von einer Urbevölkerung keine Rede war, versteht sich wol von selbst. Es war auch gar keine Veranlassung zu Niederlassungen vorhanden, solange der Newamündungssumpf, den Petersburg ebenfalls dem Wasser abgerungen hat, noch ebenso unbewohnt lag, als die Ufer des ganzen Stromes bis zum Ladogasee. — Alle Menschen, die hier sind, hat das Machtwort des Zaren hergezaubert. So ists natürlich, daß jene Mengen, welche als Beamte, Offiziere und Sol¬ daten unmittelbar dem Staatsdienst angehören, nicht nur den Grundstock, sondern auch die weit überwiegende Masse der heutigen Bevölkerung bilden. — Nach russischen Angaben, die indessen überall in ihren Bevölkerungszahlen die Mehrheit zu übersteigen pflegen, bewohnen etwa 33,000 Menschen die Insel nebst ihren Festungswerken. Davon gehören (im Frieden) etwa 60,000 der eigentlichen Besatzung an, -10,000 sind militärische Arrestanten — Festungs- gefangcne, die in eignen Kasernen zusammengehäuft sind. So bleiben blos noch 3000 übrig, welche die Militäruniform nicht tragen. Aber es ist eine sehr geringe Annahme, wenn davon etwa 1300 auf die Zoll-, Paß- und Polizeian¬ stalten, andere -1300 auf die mechanischen Etablissements der Marine und Festung gerechnet werden. So sind noch 2300 sogenannte „freie Leute" übrig, welche die bürgerlichen Gewerbe betreiben. Diese bestehen jedoch nicht im Handwerk, sondern fast ausschließlich in Gastgebern, Schenkwirthschaft, im Halten von Kramläden und Lohnfuhrwerken, besonders auch in Gcmüsegärtnerei, für welche der Russe überall ein ganz besonderes Geschick zeigt. Mehr als Zweidrittel davon sind freie oder auch nur auf Arbeitspaß entlassene leibeigne Russen, das letzte Drittel zerfällt in Finnen, Letten, Esthen und Deutsche. Frauen gibt es natürlich unter dieser gesammten Bevölkerung wenig und von diesen wenigen noch wenigere, die nicht zum entartetsten Theilr des weiblichen Geschlechts gehören.---— Unter wahrhaft europäischen Verhältnissen würde an einem Orte, welcher dem Staate zur Hauptverkehröpforte mit den Seenationen des ganzen 'Erd¬ theils wurde, eine bürgerliche Bevölkerung herangewachsen sein. All die un¬ zähligen Geschäfte eines so bedeutsamen Stapelplatzes, die Fabrikationen und Manufacturen eines so wichtigen Hafens, die von der Zollgrenze, bedingten Handelsmanipulationen lägen in der Hand von Privatleuten und würden nicht nur viele Tausende ernähren, sondern auch ein neues Glied in der großen die Welt verknüpfenden Civilisationskette geschlungen haben. Dies Alles ist in Nußland unmöglich, weil das autokratische System auch der materiellen Entwicklung keinen freien Spielraum lassen darf. Ueberall fesselt es sie an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/254>, abgerufen am 24.08.2024.