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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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von den Beethovenschen Sinfonien und deren Eindruck auf das Publicum
beobachtet. Er wird hier keineswegs jenes theilnahmlose Wohlgefallen finden,
welches hüpfende Arabesken allenfalls erregen können, sondern ein inneres
Ergriffensein, das sich in jedem Blick verräth. Der Meister wirkt unmittelbar
durch seine Kunst auf die Gefühle ein und reißt sie gewaltsam mit sich fort in
der Richtung, die er selbst anweist, und ohne das Verständniß zu haben, sich
an der technischen Geschicklichkeit, der Kunstfertigkeit der Verbindungen und
Ueberzeugungen u. tgi. zu erfreuen, wird der empfängliche Nichtmusiker freudig
Mit fortgezogen. Dies würden wir auch der Behauptung entgegensetzen, welche
der Versasser S. 91 aufstellt: "Es gibt kein Naturschönes für die Musik;
dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten ist tiefgehend
und folgenschwer. Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes
nachzeichnen, Nachformen, etwas nachzumusiciren gibt es in der Natur nicht;
die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre u. s. w.

Wir sind vom Gegentheil überzeugt. Wir glauben auch, daß die so
häufig ausgesprochene Behauptung, daß man sich in der Oper erst künstlich
an die Möglichkeit, die Empfindungen durch den Gesang ausdrücken zu hören,
gewöhnen müsse, ganz aus der Luft gegriffen ist; im Gegentheil tritt die
Empfindung bei dem normal gebildeten Menschen ebenso aus der Kehle heraus,
wie bei den Vögeln und bei den wilden Thieren. Freilich macht man von
Natur keine Triller und ähnliches; aber die Natur zu veredeln, ist eben Sache
der Kunst. Man betrachte doch nur die Fechtkunst. Von Natur wird es gewiß'
keinem, der einen andern todten will, einfallen, mit seinem Degen dreimal um
den Degen des andern zu fahren, dann wieder zurück u. s. w., kurz eine Reihe
anscheinend zweckloser Bewegungen zu 'machen. Die Kunst aber lehrt uns,
daß die anscheinende Zwecklosigkeit dieser Bewegungen schneller und entschiedener
zum Zweck führt, als das naturalistische Drauflosschlagen; und so ist es auch
in der Tonkunst. Der Naturalist drückt seine Empfindungen durch Naturlaute
aus, der künstlerisch Gebildete findet dagegen einen vollständiger", tiefern und
richtigern Ausdruck seines Innern im künstlerisch modulirten Gesang. Der
bloße Virtuos bleibt freilich innerlich ebenso unbetheiligt, wenn er seine Triller
schlägt, als wenn er seine Finger in fabelhafter Geschwindigkeit über die Tasten
laufen läßt; aber der bloße Virtuos gehört auch nicht in das Gebiet der Kunst.

Wir haben unsre Abweichungen von den Ansichten des Verfassers so
vielfach und scharf ausgesprochen, daß man an unsrer ursprünglichen Empfeh¬
lung des Werks irre werden könnte und doch war sie ernst gemeint. Wir
hoffen, über diesen Gegenstand von kundigerer Hand eine ausführliche Aus¬
einandersetzung bringen zu können; hier bemerken wir Nur zweierlei.

Einmal kommt es ja wol öfters vor, daß man etwas Falsches sucht und
eauf dem Wege die bedeutendsten Entdeckungen macht. So ists auch dem


von den Beethovenschen Sinfonien und deren Eindruck auf das Publicum
beobachtet. Er wird hier keineswegs jenes theilnahmlose Wohlgefallen finden,
welches hüpfende Arabesken allenfalls erregen können, sondern ein inneres
Ergriffensein, das sich in jedem Blick verräth. Der Meister wirkt unmittelbar
durch seine Kunst auf die Gefühle ein und reißt sie gewaltsam mit sich fort in
der Richtung, die er selbst anweist, und ohne das Verständniß zu haben, sich
an der technischen Geschicklichkeit, der Kunstfertigkeit der Verbindungen und
Ueberzeugungen u. tgi. zu erfreuen, wird der empfängliche Nichtmusiker freudig
Mit fortgezogen. Dies würden wir auch der Behauptung entgegensetzen, welche
der Versasser S. 91 aufstellt: „Es gibt kein Naturschönes für die Musik;
dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten ist tiefgehend
und folgenschwer. Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes
nachzeichnen, Nachformen, etwas nachzumusiciren gibt es in der Natur nicht;
die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre u. s. w.

Wir sind vom Gegentheil überzeugt. Wir glauben auch, daß die so
häufig ausgesprochene Behauptung, daß man sich in der Oper erst künstlich
an die Möglichkeit, die Empfindungen durch den Gesang ausdrücken zu hören,
gewöhnen müsse, ganz aus der Luft gegriffen ist; im Gegentheil tritt die
Empfindung bei dem normal gebildeten Menschen ebenso aus der Kehle heraus,
wie bei den Vögeln und bei den wilden Thieren. Freilich macht man von
Natur keine Triller und ähnliches; aber die Natur zu veredeln, ist eben Sache
der Kunst. Man betrachte doch nur die Fechtkunst. Von Natur wird es gewiß'
keinem, der einen andern todten will, einfallen, mit seinem Degen dreimal um
den Degen des andern zu fahren, dann wieder zurück u. s. w., kurz eine Reihe
anscheinend zweckloser Bewegungen zu 'machen. Die Kunst aber lehrt uns,
daß die anscheinende Zwecklosigkeit dieser Bewegungen schneller und entschiedener
zum Zweck führt, als das naturalistische Drauflosschlagen; und so ist es auch
in der Tonkunst. Der Naturalist drückt seine Empfindungen durch Naturlaute
aus, der künstlerisch Gebildete findet dagegen einen vollständiger», tiefern und
richtigern Ausdruck seines Innern im künstlerisch modulirten Gesang. Der
bloße Virtuos bleibt freilich innerlich ebenso unbetheiligt, wenn er seine Triller
schlägt, als wenn er seine Finger in fabelhafter Geschwindigkeit über die Tasten
laufen läßt; aber der bloße Virtuos gehört auch nicht in das Gebiet der Kunst.

Wir haben unsre Abweichungen von den Ansichten des Verfassers so
vielfach und scharf ausgesprochen, daß man an unsrer ursprünglichen Empfeh¬
lung des Werks irre werden könnte und doch war sie ernst gemeint. Wir
hoffen, über diesen Gegenstand von kundigerer Hand eine ausführliche Aus¬
einandersetzung bringen zu können; hier bemerken wir Nur zweierlei.

Einmal kommt es ja wol öfters vor, daß man etwas Falsches sucht und
eauf dem Wege die bedeutendsten Entdeckungen macht. So ists auch dem


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[0218] von den Beethovenschen Sinfonien und deren Eindruck auf das Publicum beobachtet. Er wird hier keineswegs jenes theilnahmlose Wohlgefallen finden, welches hüpfende Arabesken allenfalls erregen können, sondern ein inneres Ergriffensein, das sich in jedem Blick verräth. Der Meister wirkt unmittelbar durch seine Kunst auf die Gefühle ein und reißt sie gewaltsam mit sich fort in der Richtung, die er selbst anweist, und ohne das Verständniß zu haben, sich an der technischen Geschicklichkeit, der Kunstfertigkeit der Verbindungen und Ueberzeugungen u. tgi. zu erfreuen, wird der empfängliche Nichtmusiker freudig Mit fortgezogen. Dies würden wir auch der Behauptung entgegensetzen, welche der Versasser S. 91 aufstellt: „Es gibt kein Naturschönes für die Musik; dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten ist tiefgehend und folgenschwer. Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes nachzeichnen, Nachformen, etwas nachzumusiciren gibt es in der Natur nicht; die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre u. s. w. Wir sind vom Gegentheil überzeugt. Wir glauben auch, daß die so häufig ausgesprochene Behauptung, daß man sich in der Oper erst künstlich an die Möglichkeit, die Empfindungen durch den Gesang ausdrücken zu hören, gewöhnen müsse, ganz aus der Luft gegriffen ist; im Gegentheil tritt die Empfindung bei dem normal gebildeten Menschen ebenso aus der Kehle heraus, wie bei den Vögeln und bei den wilden Thieren. Freilich macht man von Natur keine Triller und ähnliches; aber die Natur zu veredeln, ist eben Sache der Kunst. Man betrachte doch nur die Fechtkunst. Von Natur wird es gewiß' keinem, der einen andern todten will, einfallen, mit seinem Degen dreimal um den Degen des andern zu fahren, dann wieder zurück u. s. w., kurz eine Reihe anscheinend zweckloser Bewegungen zu 'machen. Die Kunst aber lehrt uns, daß die anscheinende Zwecklosigkeit dieser Bewegungen schneller und entschiedener zum Zweck führt, als das naturalistische Drauflosschlagen; und so ist es auch in der Tonkunst. Der Naturalist drückt seine Empfindungen durch Naturlaute aus, der künstlerisch Gebildete findet dagegen einen vollständiger», tiefern und richtigern Ausdruck seines Innern im künstlerisch modulirten Gesang. Der bloße Virtuos bleibt freilich innerlich ebenso unbetheiligt, wenn er seine Triller schlägt, als wenn er seine Finger in fabelhafter Geschwindigkeit über die Tasten laufen läßt; aber der bloße Virtuos gehört auch nicht in das Gebiet der Kunst. Wir haben unsre Abweichungen von den Ansichten des Verfassers so vielfach und scharf ausgesprochen, daß man an unsrer ursprünglichen Empfeh¬ lung des Werks irre werden könnte und doch war sie ernst gemeint. Wir hoffen, über diesen Gegenstand von kundigerer Hand eine ausführliche Aus¬ einandersetzung bringen zu können; hier bemerken wir Nur zweierlei. Einmal kommt es ja wol öfters vor, daß man etwas Falsches sucht und eauf dem Wege die bedeutendsten Entdeckungen macht. So ists auch dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/218>, abgerufen am 03.07.2024.