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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Statthaftigkeit dieser geistreichen Musik und dieses musikalischen Denkens aus¬
gesprochen. Wenn man aber in dieser Beschäftigung nichts weiter sieht, als
ein subjectives Mittel, sich den ungefähren Gang des Musikstücks festzuhalten,
so wüßten wir nicht, was man dagegen einwenden wollte. Eine einfache Me¬
lodie singt man nach, ein großes Musikstück kann der Nichimusiker nur dadurch
bezwingen , daß er sich die Empfindungen, die er bei den einzelnen Theilen
gehabt, in einem ungefähren Zusammenhang ausdichtet. Die Methode ist
keine andere, als die bei der sogenannten Mnemotechnik angewandte. Weiter
ist freilich Nichts damit erreicht; aber daß ein solches Verfahren überhaupt
möglich ist, zeigt, daß die Stimmung der Seele und die Stimmung der Musik
keineswegs so ganz voneinander getrennt sind, als der Verfasser meint.

Als letztes Resultat seiner Untersuchungen stellt der Verfasser folgendes
fest (S. 32): Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und
Gegenstand der Musik. In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne
den Inhalt eines bestimmten Affectus bringen kann, zeigt uns recht treffend
ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die Arabeske. Wir er¬
blicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend,
sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen correspondirend,
scheinbar incommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein Gegen- oder
Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelnheiten, und doch ein
Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht todt und ruhend, sondern
in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken
und die feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger
Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in
sinnigem Wechsel von Nuhe und Anspnnnung das Auge stets neu überraschen?
Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese
lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der
die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung er¬
gießt, wüd dieser Eindruck dem musikalischen nicht sehr nahekommend sein?
Jeder von uns hat als Kind sich wol an dem wechselnden Farben- und For-
menspiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop auf incommensurabel
höherer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Ab¬
wechslung schöne Formen und Farben, sanstübergehend, scharf contrastirend,
immer symmetrisch und in sich erfüllt."

Eine solche Arabesken- und Kaleidoskopenmusik gibt eS allerdings; sie wird
vorzugsweise von solchen Musikern gemacht,, deren technische Bildung das pro-
ductive Talent ,bei weitem überwiegt. Allein wenn wir auch dieser Musik ihre
Berechtigung nicht absprechen wollen, so ist sie .jedenfalls nicht die höchste
Leistung der Kunst, auch nicht einmal in der Instrumentalmusik. Der Ver¬
sasser kann sich am besten davon überzeugen, wenn er die Aufführung einer


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Statthaftigkeit dieser geistreichen Musik und dieses musikalischen Denkens aus¬
gesprochen. Wenn man aber in dieser Beschäftigung nichts weiter sieht, als
ein subjectives Mittel, sich den ungefähren Gang des Musikstücks festzuhalten,
so wüßten wir nicht, was man dagegen einwenden wollte. Eine einfache Me¬
lodie singt man nach, ein großes Musikstück kann der Nichimusiker nur dadurch
bezwingen , daß er sich die Empfindungen, die er bei den einzelnen Theilen
gehabt, in einem ungefähren Zusammenhang ausdichtet. Die Methode ist
keine andere, als die bei der sogenannten Mnemotechnik angewandte. Weiter
ist freilich Nichts damit erreicht; aber daß ein solches Verfahren überhaupt
möglich ist, zeigt, daß die Stimmung der Seele und die Stimmung der Musik
keineswegs so ganz voneinander getrennt sind, als der Verfasser meint.

Als letztes Resultat seiner Untersuchungen stellt der Verfasser folgendes
fest (S. 32): Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und
Gegenstand der Musik. In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne
den Inhalt eines bestimmten Affectus bringen kann, zeigt uns recht treffend
ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die Arabeske. Wir er¬
blicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend,
sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen correspondirend,
scheinbar incommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein Gegen- oder
Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelnheiten, und doch ein
Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht todt und ruhend, sondern
in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken
und die feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger
Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in
sinnigem Wechsel von Nuhe und Anspnnnung das Auge stets neu überraschen?
Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese
lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der
die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung er¬
gießt, wüd dieser Eindruck dem musikalischen nicht sehr nahekommend sein?
Jeder von uns hat als Kind sich wol an dem wechselnden Farben- und For-
menspiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop auf incommensurabel
höherer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Ab¬
wechslung schöne Formen und Farben, sanstübergehend, scharf contrastirend,
immer symmetrisch und in sich erfüllt."

Eine solche Arabesken- und Kaleidoskopenmusik gibt eS allerdings; sie wird
vorzugsweise von solchen Musikern gemacht,, deren technische Bildung das pro-
ductive Talent ,bei weitem überwiegt. Allein wenn wir auch dieser Musik ihre
Berechtigung nicht absprechen wollen, so ist sie .jedenfalls nicht die höchste
Leistung der Kunst, auch nicht einmal in der Instrumentalmusik. Der Ver¬
sasser kann sich am besten davon überzeugen, wenn er die Aufführung einer


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[0217] Statthaftigkeit dieser geistreichen Musik und dieses musikalischen Denkens aus¬ gesprochen. Wenn man aber in dieser Beschäftigung nichts weiter sieht, als ein subjectives Mittel, sich den ungefähren Gang des Musikstücks festzuhalten, so wüßten wir nicht, was man dagegen einwenden wollte. Eine einfache Me¬ lodie singt man nach, ein großes Musikstück kann der Nichimusiker nur dadurch bezwingen , daß er sich die Empfindungen, die er bei den einzelnen Theilen gehabt, in einem ungefähren Zusammenhang ausdichtet. Die Methode ist keine andere, als die bei der sogenannten Mnemotechnik angewandte. Weiter ist freilich Nichts damit erreicht; aber daß ein solches Verfahren überhaupt möglich ist, zeigt, daß die Stimmung der Seele und die Stimmung der Musik keineswegs so ganz voneinander getrennt sind, als der Verfasser meint. Als letztes Resultat seiner Untersuchungen stellt der Verfasser folgendes fest (S. 32): Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik. In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affectus bringen kann, zeigt uns recht treffend ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die Arabeske. Wir er¬ blicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen correspondirend, scheinbar incommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelnheiten, und doch ein Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht todt und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken und die feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Nuhe und Anspnnnung das Auge stets neu überraschen? Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung er¬ gießt, wüd dieser Eindruck dem musikalischen nicht sehr nahekommend sein? Jeder von uns hat als Kind sich wol an dem wechselnden Farben- und For- menspiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop auf incommensurabel höherer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Ab¬ wechslung schöne Formen und Farben, sanstübergehend, scharf contrastirend, immer symmetrisch und in sich erfüllt." Eine solche Arabesken- und Kaleidoskopenmusik gibt eS allerdings; sie wird vorzugsweise von solchen Musikern gemacht,, deren technische Bildung das pro- ductive Talent ,bei weitem überwiegt. Allein wenn wir auch dieser Musik ihre Berechtigung nicht absprechen wollen, so ist sie .jedenfalls nicht die höchste Leistung der Kunst, auch nicht einmal in der Instrumentalmusik. Der Ver¬ sasser kann sich am besten davon überzeugen, wenn er die Aufführung einer Grenzboten. II. !>8S6. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/217>, abgerufen am 22.07.2024.