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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Verfasser gegangen. Die einzelnen seiner Bemerkungen, soweit sie nicht von
dem ängstlichen Bestreben erfüllt sind, daS Gefühl von der Kunst öd fern als
möglich zu halten, verrathen durchweg den gebildeten Musiker, der auf das
feinste über seine Kunst nachgedacht hat und gewähren jedem Bildungsbedürftigen
die reichste Ausbeute.

Sodann liegt die Fehlerhaftigkeit des Princips mehr in der metaphysischen
Form, als in dem wirklichen Inhalt. DaS, was er eigentlich sagen will, ist
vollkommen richtig, er drückt es nur ungenau aus. Er will sagen, daß man
aus dem bloßen Gefühl, aus der poetischen Stimmung nicht das geringste
musikalische Gesetz herleiten kann; die Musik hat ihr eignes Gesetz, welches
aus der Natur des Tons, aus der Natur der Harmonie hergeleitet werden
muß und dieses Gesetz ist bei allen Zweigen der Kunst dasjenige, welches zu¬
erst und vor allen Dingen beobachtet werden muß. Der echte Componist geht
nich^t von einer beliebigen poetischen Empfindung oder Idee aus, sondern die
Empfindung lebt bei ihm sogleich als eine musikalische und strebt, sich nach
musikalischen Gesetzen zu ergänzen, zu erweitern, zu vervollständigen. Diese
Theorie macht sich allerdings am deutlichsten in der reinen Instrumentalmusik
geltend, wo die Abwesenheit bestimmter musikalischer Formen und die Ersetzung
derselben durch bloße Stimmungen (Berlioz, Liszt u. s. w.) auch dem ungeüb¬
testen Ohr unerträglich wird. Sie ist aber auch auf die Vocalmusik anzuwenden.
Die modernen Reformatoren der Oper gehen, um dieselbe zu einer Kunstform
zu erheben, von einem ganz falschen Princip aus, indem sie den Componisten
auffordern, die Gesetze seiner Kunst vollständig den poetischen Intentionen des
Textdichters unterzuordnen. Ebenso falsch ist freilich die bisherige Praxis, den
Tert nur als Vehikel der musikalischen Form zu betrachten. Die geistvollste
Musik geht dem normalen Publicum verloren, wenn sie an einen unsinnigen
Tert verschwendet ist, wie man ja an der Zauberflöte sieht, wie man aber an
noch vielen andern Opern erkennen würde, wenn sich das Publicum nicht
daran gewöhnt hätte, zum Behuf des musikalischen Genusses künstlich seinen
Verstand zum Schweigen zu bringen, und wenn nebenbei dieser Verstand nicht
schon durch das recitirende Drama theilweise corrumpirt wäre. Die einzige
Möglichkeit, ein Kunstwerk hervorzubringen, besteht darin, daß der Textdichter
neben seiner poetischen Intention sich stets bemüht, in der Seele des Musikers
zu empfinden. In der neusten Oper speculirt man lediglich auf die Einfalt
des Pöbels, der aufgehende Sonnen, Geister, Zigeuner :c. sehen, Barcarolen,
Choräle und Märsche durcheinander hören will. Dichter, wie Metastasio, bemühten
sich im Gegentheil, sich die Empfindungen ihrer Helden sofort musikalisch vor¬
zustellen. Die Form der Arie z. B. ist nicht willkürlich erdacht. Um das Ohr
und durch das Ohr das Gefühl anzuregen und zu befriedigen, muß sie im
Wesentlichen die Form haben, wie sie durch die Kunst festgestellt ist; wenn sie


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Verfasser gegangen. Die einzelnen seiner Bemerkungen, soweit sie nicht von
dem ängstlichen Bestreben erfüllt sind, daS Gefühl von der Kunst öd fern als
möglich zu halten, verrathen durchweg den gebildeten Musiker, der auf das
feinste über seine Kunst nachgedacht hat und gewähren jedem Bildungsbedürftigen
die reichste Ausbeute.

Sodann liegt die Fehlerhaftigkeit des Princips mehr in der metaphysischen
Form, als in dem wirklichen Inhalt. DaS, was er eigentlich sagen will, ist
vollkommen richtig, er drückt es nur ungenau aus. Er will sagen, daß man
aus dem bloßen Gefühl, aus der poetischen Stimmung nicht das geringste
musikalische Gesetz herleiten kann; die Musik hat ihr eignes Gesetz, welches
aus der Natur des Tons, aus der Natur der Harmonie hergeleitet werden
muß und dieses Gesetz ist bei allen Zweigen der Kunst dasjenige, welches zu¬
erst und vor allen Dingen beobachtet werden muß. Der echte Componist geht
nich^t von einer beliebigen poetischen Empfindung oder Idee aus, sondern die
Empfindung lebt bei ihm sogleich als eine musikalische und strebt, sich nach
musikalischen Gesetzen zu ergänzen, zu erweitern, zu vervollständigen. Diese
Theorie macht sich allerdings am deutlichsten in der reinen Instrumentalmusik
geltend, wo die Abwesenheit bestimmter musikalischer Formen und die Ersetzung
derselben durch bloße Stimmungen (Berlioz, Liszt u. s. w.) auch dem ungeüb¬
testen Ohr unerträglich wird. Sie ist aber auch auf die Vocalmusik anzuwenden.
Die modernen Reformatoren der Oper gehen, um dieselbe zu einer Kunstform
zu erheben, von einem ganz falschen Princip aus, indem sie den Componisten
auffordern, die Gesetze seiner Kunst vollständig den poetischen Intentionen des
Textdichters unterzuordnen. Ebenso falsch ist freilich die bisherige Praxis, den
Tert nur als Vehikel der musikalischen Form zu betrachten. Die geistvollste
Musik geht dem normalen Publicum verloren, wenn sie an einen unsinnigen
Tert verschwendet ist, wie man ja an der Zauberflöte sieht, wie man aber an
noch vielen andern Opern erkennen würde, wenn sich das Publicum nicht
daran gewöhnt hätte, zum Behuf des musikalischen Genusses künstlich seinen
Verstand zum Schweigen zu bringen, und wenn nebenbei dieser Verstand nicht
schon durch das recitirende Drama theilweise corrumpirt wäre. Die einzige
Möglichkeit, ein Kunstwerk hervorzubringen, besteht darin, daß der Textdichter
neben seiner poetischen Intention sich stets bemüht, in der Seele des Musikers
zu empfinden. In der neusten Oper speculirt man lediglich auf die Einfalt
des Pöbels, der aufgehende Sonnen, Geister, Zigeuner :c. sehen, Barcarolen,
Choräle und Märsche durcheinander hören will. Dichter, wie Metastasio, bemühten
sich im Gegentheil, sich die Empfindungen ihrer Helden sofort musikalisch vor¬
zustellen. Die Form der Arie z. B. ist nicht willkürlich erdacht. Um das Ohr
und durch das Ohr das Gefühl anzuregen und zu befriedigen, muß sie im
Wesentlichen die Form haben, wie sie durch die Kunst festgestellt ist; wenn sie


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[0219] Verfasser gegangen. Die einzelnen seiner Bemerkungen, soweit sie nicht von dem ängstlichen Bestreben erfüllt sind, daS Gefühl von der Kunst öd fern als möglich zu halten, verrathen durchweg den gebildeten Musiker, der auf das feinste über seine Kunst nachgedacht hat und gewähren jedem Bildungsbedürftigen die reichste Ausbeute. Sodann liegt die Fehlerhaftigkeit des Princips mehr in der metaphysischen Form, als in dem wirklichen Inhalt. DaS, was er eigentlich sagen will, ist vollkommen richtig, er drückt es nur ungenau aus. Er will sagen, daß man aus dem bloßen Gefühl, aus der poetischen Stimmung nicht das geringste musikalische Gesetz herleiten kann; die Musik hat ihr eignes Gesetz, welches aus der Natur des Tons, aus der Natur der Harmonie hergeleitet werden muß und dieses Gesetz ist bei allen Zweigen der Kunst dasjenige, welches zu¬ erst und vor allen Dingen beobachtet werden muß. Der echte Componist geht nich^t von einer beliebigen poetischen Empfindung oder Idee aus, sondern die Empfindung lebt bei ihm sogleich als eine musikalische und strebt, sich nach musikalischen Gesetzen zu ergänzen, zu erweitern, zu vervollständigen. Diese Theorie macht sich allerdings am deutlichsten in der reinen Instrumentalmusik geltend, wo die Abwesenheit bestimmter musikalischer Formen und die Ersetzung derselben durch bloße Stimmungen (Berlioz, Liszt u. s. w.) auch dem ungeüb¬ testen Ohr unerträglich wird. Sie ist aber auch auf die Vocalmusik anzuwenden. Die modernen Reformatoren der Oper gehen, um dieselbe zu einer Kunstform zu erheben, von einem ganz falschen Princip aus, indem sie den Componisten auffordern, die Gesetze seiner Kunst vollständig den poetischen Intentionen des Textdichters unterzuordnen. Ebenso falsch ist freilich die bisherige Praxis, den Tert nur als Vehikel der musikalischen Form zu betrachten. Die geistvollste Musik geht dem normalen Publicum verloren, wenn sie an einen unsinnigen Tert verschwendet ist, wie man ja an der Zauberflöte sieht, wie man aber an noch vielen andern Opern erkennen würde, wenn sich das Publicum nicht daran gewöhnt hätte, zum Behuf des musikalischen Genusses künstlich seinen Verstand zum Schweigen zu bringen, und wenn nebenbei dieser Verstand nicht schon durch das recitirende Drama theilweise corrumpirt wäre. Die einzige Möglichkeit, ein Kunstwerk hervorzubringen, besteht darin, daß der Textdichter neben seiner poetischen Intention sich stets bemüht, in der Seele des Musikers zu empfinden. In der neusten Oper speculirt man lediglich auf die Einfalt des Pöbels, der aufgehende Sonnen, Geister, Zigeuner :c. sehen, Barcarolen, Choräle und Märsche durcheinander hören will. Dichter, wie Metastasio, bemühten sich im Gegentheil, sich die Empfindungen ihrer Helden sofort musikalisch vor¬ zustellen. Die Form der Arie z. B. ist nicht willkürlich erdacht. Um das Ohr und durch das Ohr das Gefühl anzuregen und zu befriedigen, muß sie im Wesentlichen die Form haben, wie sie durch die Kunst festgestellt ist; wenn sie 27*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/219>, abgerufen am 01.07.2024.