Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die
Musik könne es, denn nur sie ist reine absolute Tonkunst.... In einer
Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von jener der
Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden, daß die Rechnung der
Verschiedenen Künste sich streng sondern ließe.... Die Vereinigung mit
der Dichtkunst erweitert die Macht der Poesie, aber nicht ihre Grenzen."

Nun ist es aber doch wol ein höchst willkürliches Verfahren, aus dem Ge-
biet der reinen absoluten Tonkunst denjenigen Ton auszuschließen, der nach
dem Zeugniß aller Musiker und Nichtmusiker der ergreifendste, dasjenige In¬
strument, welches das am reichsten ausgestattete ist. Wie kommt die Geige
und das Waldhorn dazu, der menschlichen Kehle vorgezogen zu werden? auf
welcher doch der geschickte Künstler viel herrlichere Melodien spielen, aus
welcher er viel tiefsinnigere Harmonien entwickeln kann, als auf allen Blas-
und Saiteninstrumenten zusammengenommen. Die Willkürlichkeit ist um so
größer, da bei allen Nationen die Entwickelung der Tonkunst von der Vocal¬
musik anfängt, der die Instrumente nur zur Begleitung dienen. Die reine
Orchester- und Kammermusik hat sich erst in weit späterer Zeit und eigentlich
im vollsten Sinne nur bei den Deutschen entwickelt, aus Tanzen, Marschen,
Volksliedern und religiösen Chören, aus welchen allmälig dann jenes wunder¬
bare Kunstwerk hervorgegangen ist, das wir in Beethoven bewundern. Nun
würde es zwar unstatthaft sein, den Werth der verschiedenen Zweige der Musik
genetisch festzustellen, aber eine unerhörte Einseitigkeit ist es doch, den ursprüng¬
lichsten und wichtigsten Zweig derselben gradezu von dem Gebiet der Musik
auszuschließen.

Hier sieht man, wie gefährlich es ist, an eine objective Untersuchung
mit einer bestimmten Voraussetzung zu gehen. Der Verfasser will die Ton¬
kunst als eine von dem Gefühl und Wort ganz unabhängige darstellen. . In
dieser Darstellung ist ihm aber die Vocalmusik aus zwei Gründen unbequem:
einmal wird bei der Beurtheilung eines Sängers jeder Musiker oder Nicht¬
musiker sich für unbefriedigt erklären, wenn bei dem reichsten Stimmaterial
und der glänzendsten technischen Entwicklung dasjenige fehlt, was man in Er¬
manglung eines bessern Ausdrucks Seele oder Empfindung nennt; sodann
wird das Instrument der menschlichen Stimme durch seine eigne Natur getrie¬
ben, über das bloße Oeffnen deö Mundes hinauszugehen und die Lippen,
Zähne, Gaumen u. s. w. anzuwenden, mit andern Worten, sich z" Buchstaben
zu moduliren. Da nun aber zufällig der Träger dieses Instruments zugleich
ein vernünftig empfindendes und denkendes Wesen ist, so wird es ihm wiver-
streben, sinnlose Combinationen von, Buchstaben hervorzubringen, er wird die¬
selben in der gewohnten Weise zu Worten zusammenfügen, die Worte werden
irgendetwas ausdrücken sollen und das der mens-suchen Natur immanente Be-


Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die
Musik könne es, denn nur sie ist reine absolute Tonkunst.... In einer
Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von jener der
Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden, daß die Rechnung der
Verschiedenen Künste sich streng sondern ließe.... Die Vereinigung mit
der Dichtkunst erweitert die Macht der Poesie, aber nicht ihre Grenzen."

Nun ist es aber doch wol ein höchst willkürliches Verfahren, aus dem Ge-
biet der reinen absoluten Tonkunst denjenigen Ton auszuschließen, der nach
dem Zeugniß aller Musiker und Nichtmusiker der ergreifendste, dasjenige In¬
strument, welches das am reichsten ausgestattete ist. Wie kommt die Geige
und das Waldhorn dazu, der menschlichen Kehle vorgezogen zu werden? auf
welcher doch der geschickte Künstler viel herrlichere Melodien spielen, aus
welcher er viel tiefsinnigere Harmonien entwickeln kann, als auf allen Blas-
und Saiteninstrumenten zusammengenommen. Die Willkürlichkeit ist um so
größer, da bei allen Nationen die Entwickelung der Tonkunst von der Vocal¬
musik anfängt, der die Instrumente nur zur Begleitung dienen. Die reine
Orchester- und Kammermusik hat sich erst in weit späterer Zeit und eigentlich
im vollsten Sinne nur bei den Deutschen entwickelt, aus Tanzen, Marschen,
Volksliedern und religiösen Chören, aus welchen allmälig dann jenes wunder¬
bare Kunstwerk hervorgegangen ist, das wir in Beethoven bewundern. Nun
würde es zwar unstatthaft sein, den Werth der verschiedenen Zweige der Musik
genetisch festzustellen, aber eine unerhörte Einseitigkeit ist es doch, den ursprüng¬
lichsten und wichtigsten Zweig derselben gradezu von dem Gebiet der Musik
auszuschließen.

Hier sieht man, wie gefährlich es ist, an eine objective Untersuchung
mit einer bestimmten Voraussetzung zu gehen. Der Verfasser will die Ton¬
kunst als eine von dem Gefühl und Wort ganz unabhängige darstellen. . In
dieser Darstellung ist ihm aber die Vocalmusik aus zwei Gründen unbequem:
einmal wird bei der Beurtheilung eines Sängers jeder Musiker oder Nicht¬
musiker sich für unbefriedigt erklären, wenn bei dem reichsten Stimmaterial
und der glänzendsten technischen Entwicklung dasjenige fehlt, was man in Er¬
manglung eines bessern Ausdrucks Seele oder Empfindung nennt; sodann
wird das Instrument der menschlichen Stimme durch seine eigne Natur getrie¬
ben, über das bloße Oeffnen deö Mundes hinauszugehen und die Lippen,
Zähne, Gaumen u. s. w. anzuwenden, mit andern Worten, sich z» Buchstaben
zu moduliren. Da nun aber zufällig der Träger dieses Instruments zugleich
ein vernünftig empfindendes und denkendes Wesen ist, so wird es ihm wiver-
streben, sinnlose Combinationen von, Buchstaben hervorzubringen, er wird die¬
selben in der gewohnten Weise zu Worten zusammenfügen, die Worte werden
irgendetwas ausdrücken sollen und das der mens-suchen Natur immanente Be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99601"/>
          <p xml:id="ID_729" prev="#ID_728"> Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die<lb/>
Musik könne es, denn nur sie ist reine absolute Tonkunst.... In einer<lb/>
Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von jener der<lb/>
Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden, daß die Rechnung der<lb/>
Verschiedenen Künste sich streng sondern ließe.... Die Vereinigung mit<lb/>
der Dichtkunst erweitert die Macht der Poesie, aber nicht ihre Grenzen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_730"> Nun ist es aber doch wol ein höchst willkürliches Verfahren, aus dem Ge-<lb/>
biet der reinen absoluten Tonkunst denjenigen Ton auszuschließen, der nach<lb/>
dem Zeugniß aller Musiker und Nichtmusiker der ergreifendste, dasjenige In¬<lb/>
strument, welches das am reichsten ausgestattete ist. Wie kommt die Geige<lb/>
und das Waldhorn dazu, der menschlichen Kehle vorgezogen zu werden? auf<lb/>
welcher doch der geschickte Künstler viel herrlichere Melodien spielen, aus<lb/>
welcher er viel tiefsinnigere Harmonien entwickeln kann, als auf allen Blas-<lb/>
und Saiteninstrumenten zusammengenommen. Die Willkürlichkeit ist um so<lb/>
größer, da bei allen Nationen die Entwickelung der Tonkunst von der Vocal¬<lb/>
musik anfängt, der die Instrumente nur zur Begleitung dienen. Die reine<lb/>
Orchester- und Kammermusik hat sich erst in weit späterer Zeit und eigentlich<lb/>
im vollsten Sinne nur bei den Deutschen entwickelt, aus Tanzen, Marschen,<lb/>
Volksliedern und religiösen Chören, aus welchen allmälig dann jenes wunder¬<lb/>
bare Kunstwerk hervorgegangen ist, das wir in Beethoven bewundern. Nun<lb/>
würde es zwar unstatthaft sein, den Werth der verschiedenen Zweige der Musik<lb/>
genetisch festzustellen, aber eine unerhörte Einseitigkeit ist es doch, den ursprüng¬<lb/>
lichsten und wichtigsten Zweig derselben gradezu von dem Gebiet der Musik<lb/>
auszuschließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_731" next="#ID_732"> Hier sieht man, wie gefährlich es ist, an eine objective Untersuchung<lb/>
mit einer bestimmten Voraussetzung zu gehen. Der Verfasser will die Ton¬<lb/>
kunst als eine von dem Gefühl und Wort ganz unabhängige darstellen. . In<lb/>
dieser Darstellung ist ihm aber die Vocalmusik aus zwei Gründen unbequem:<lb/>
einmal wird bei der Beurtheilung eines Sängers jeder Musiker oder Nicht¬<lb/>
musiker sich für unbefriedigt erklären, wenn bei dem reichsten Stimmaterial<lb/>
und der glänzendsten technischen Entwicklung dasjenige fehlt, was man in Er¬<lb/>
manglung eines bessern Ausdrucks Seele oder Empfindung nennt; sodann<lb/>
wird das Instrument der menschlichen Stimme durch seine eigne Natur getrie¬<lb/>
ben, über das bloße Oeffnen deö Mundes hinauszugehen und die Lippen,<lb/>
Zähne, Gaumen u. s. w. anzuwenden, mit andern Worten, sich z» Buchstaben<lb/>
zu moduliren. Da nun aber zufällig der Träger dieses Instruments zugleich<lb/>
ein vernünftig empfindendes und denkendes Wesen ist, so wird es ihm wiver-<lb/>
streben, sinnlose Combinationen von, Buchstaben hervorzubringen, er wird die¬<lb/>
selben in der gewohnten Weise zu Worten zusammenfügen, die Worte werden<lb/>
irgendetwas ausdrücken sollen und das der mens-suchen Natur immanente Be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0215] Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es, denn nur sie ist reine absolute Tonkunst.... In einer Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von jener der Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden, daß die Rechnung der Verschiedenen Künste sich streng sondern ließe.... Die Vereinigung mit der Dichtkunst erweitert die Macht der Poesie, aber nicht ihre Grenzen." Nun ist es aber doch wol ein höchst willkürliches Verfahren, aus dem Ge- biet der reinen absoluten Tonkunst denjenigen Ton auszuschließen, der nach dem Zeugniß aller Musiker und Nichtmusiker der ergreifendste, dasjenige In¬ strument, welches das am reichsten ausgestattete ist. Wie kommt die Geige und das Waldhorn dazu, der menschlichen Kehle vorgezogen zu werden? auf welcher doch der geschickte Künstler viel herrlichere Melodien spielen, aus welcher er viel tiefsinnigere Harmonien entwickeln kann, als auf allen Blas- und Saiteninstrumenten zusammengenommen. Die Willkürlichkeit ist um so größer, da bei allen Nationen die Entwickelung der Tonkunst von der Vocal¬ musik anfängt, der die Instrumente nur zur Begleitung dienen. Die reine Orchester- und Kammermusik hat sich erst in weit späterer Zeit und eigentlich im vollsten Sinne nur bei den Deutschen entwickelt, aus Tanzen, Marschen, Volksliedern und religiösen Chören, aus welchen allmälig dann jenes wunder¬ bare Kunstwerk hervorgegangen ist, das wir in Beethoven bewundern. Nun würde es zwar unstatthaft sein, den Werth der verschiedenen Zweige der Musik genetisch festzustellen, aber eine unerhörte Einseitigkeit ist es doch, den ursprüng¬ lichsten und wichtigsten Zweig derselben gradezu von dem Gebiet der Musik auszuschließen. Hier sieht man, wie gefährlich es ist, an eine objective Untersuchung mit einer bestimmten Voraussetzung zu gehen. Der Verfasser will die Ton¬ kunst als eine von dem Gefühl und Wort ganz unabhängige darstellen. . In dieser Darstellung ist ihm aber die Vocalmusik aus zwei Gründen unbequem: einmal wird bei der Beurtheilung eines Sängers jeder Musiker oder Nicht¬ musiker sich für unbefriedigt erklären, wenn bei dem reichsten Stimmaterial und der glänzendsten technischen Entwicklung dasjenige fehlt, was man in Er¬ manglung eines bessern Ausdrucks Seele oder Empfindung nennt; sodann wird das Instrument der menschlichen Stimme durch seine eigne Natur getrie¬ ben, über das bloße Oeffnen deö Mundes hinauszugehen und die Lippen, Zähne, Gaumen u. s. w. anzuwenden, mit andern Worten, sich z» Buchstaben zu moduliren. Da nun aber zufällig der Träger dieses Instruments zugleich ein vernünftig empfindendes und denkendes Wesen ist, so wird es ihm wiver- streben, sinnlose Combinationen von, Buchstaben hervorzubringen, er wird die¬ selben in der gewohnten Weise zu Worten zusammenfügen, die Worte werden irgendetwas ausdrücken sollen und das der mens-suchen Natur immanente Be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/215
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/215>, abgerufen am 22.07.2024.