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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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sehr durch Arbeiten gedrängt, und nimmt sich nicht überall genugMuße, jeder
Figur das gehörige Maß von Zeit und Kraft zuzuwenden; und indem er so
manche Figur nur in ihren Hauptzügen entwirft, ohne sie vollkommen durch¬
zuarbeiten, kommt es, daß, je nach der geistigen Intention, eine leicht zu
allgemein, eine andere reflectirt oder zu scharf, fast carricaturartig, speeisieirt
erscheint.

Während alle diese Umstände die Ertreme auf beiden Seiten stark vor¬
treten lassen, kommen die Mittelgestalten, die eher ein gleiches Maß des ein¬
fach Schönen und des individuell Charakteristischen in sich vereinen, in verhält¬
nismäßig geringerer Zahl bei Kaulbach vor. Daß er aber dennoch die Kraft
besitzt, auch solche Gestalten in vollster Realität zu schaffen, hat er häusig genug
aufs evidenteste dargethan, wie z. B. in der Hunnenschlacht oder der Versöh¬
nung Wittekinds, wo unter andern die Figur Wittekinds das Gepräge des
individuellsten Lebens trägt.

Es ist von dem oben erwähnten Beurtheiler Kaulbachs in diesen Blättern
(namentlich in Bezug auf die Hunnenschlacht) gesagt worden, Kaulbach habe
keine selbstständigen Formen, keinen eigentlichen Stil entwickelt, er habe den
des Cornelius nur eleganter, salonfähiger wiedergegeben. Ich muß dem ent¬
schieden widersprechen. Daß Cornelius Einfluß in dem Werke seines ehemaligen
Schülers sichtbar, ist nicht zu leugnen, daß aber trotz dieses Einflusses doch
Maulbachs Hunnenschlacht in ganz andrer Form auftritt, zeug" umsomehr von
dessen selbstständiger Begabung, wenn man bedenkt, in wie hohem Grabe der
Stil des Cornelius damals alles in München beherrschte. Wer wollte Raphael
die Selbstständigkeit der Form absprechen, weil seine ersten Werke sich an Pe-
ruginos Manier (und zwar mindestens ebenso entschieden, wie Kaulbach an
Cornelius) anschließen? Wenn Selbstständigkeit und Originalität allein darin
bestehen soll, baß man die in der Natur gebotene Form in besonderer, ein¬
seitiger Weise auffasse und Gewisses in derselben verhältnismäßig stark accen-
tuire, um so allerdings seinen Figuren ein eigenthümliches Gepräge zu ver¬
leihen, so mag ich gegen diese Ansicht nicht streiten. Aber höher als diese
Selbstständigkeit schätze ich die Form, welche stets an die Natur haltend das
Ideal der jedes Mal dargestellten Gestalt sucht, sie vom Zufälligen Störenden, Hin>
eingetragenen befreiend, das Große und Allgemeine stärker hervorhebend, das
Detail unterordnend, so daß wir Gestalten bekommen, die nicht allein aus¬
drucksvoll, sondern die ausdrucksvoll und schön zugleich sind. Solche
Gestalten bietet die Antike, solche Raphael, solche Kaulbach. Er ists, der die
Schönheit und Grazie der neuen Kunst errungen; und diese hohe Schönheit
und Grazie ists, die wiederum alle seine Schöpfungen verklärt und ihnen den
unterscheidenden Stempel aufdrückt.

Während bei Cornelius die Form stets nur das Mittel blieb, die Ge-


sehr durch Arbeiten gedrängt, und nimmt sich nicht überall genugMuße, jeder
Figur das gehörige Maß von Zeit und Kraft zuzuwenden; und indem er so
manche Figur nur in ihren Hauptzügen entwirft, ohne sie vollkommen durch¬
zuarbeiten, kommt es, daß, je nach der geistigen Intention, eine leicht zu
allgemein, eine andere reflectirt oder zu scharf, fast carricaturartig, speeisieirt
erscheint.

Während alle diese Umstände die Ertreme auf beiden Seiten stark vor¬
treten lassen, kommen die Mittelgestalten, die eher ein gleiches Maß des ein¬
fach Schönen und des individuell Charakteristischen in sich vereinen, in verhält¬
nismäßig geringerer Zahl bei Kaulbach vor. Daß er aber dennoch die Kraft
besitzt, auch solche Gestalten in vollster Realität zu schaffen, hat er häusig genug
aufs evidenteste dargethan, wie z. B. in der Hunnenschlacht oder der Versöh¬
nung Wittekinds, wo unter andern die Figur Wittekinds das Gepräge des
individuellsten Lebens trägt.

Es ist von dem oben erwähnten Beurtheiler Kaulbachs in diesen Blättern
(namentlich in Bezug auf die Hunnenschlacht) gesagt worden, Kaulbach habe
keine selbstständigen Formen, keinen eigentlichen Stil entwickelt, er habe den
des Cornelius nur eleganter, salonfähiger wiedergegeben. Ich muß dem ent¬
schieden widersprechen. Daß Cornelius Einfluß in dem Werke seines ehemaligen
Schülers sichtbar, ist nicht zu leugnen, daß aber trotz dieses Einflusses doch
Maulbachs Hunnenschlacht in ganz andrer Form auftritt, zeug« umsomehr von
dessen selbstständiger Begabung, wenn man bedenkt, in wie hohem Grabe der
Stil des Cornelius damals alles in München beherrschte. Wer wollte Raphael
die Selbstständigkeit der Form absprechen, weil seine ersten Werke sich an Pe-
ruginos Manier (und zwar mindestens ebenso entschieden, wie Kaulbach an
Cornelius) anschließen? Wenn Selbstständigkeit und Originalität allein darin
bestehen soll, baß man die in der Natur gebotene Form in besonderer, ein¬
seitiger Weise auffasse und Gewisses in derselben verhältnismäßig stark accen-
tuire, um so allerdings seinen Figuren ein eigenthümliches Gepräge zu ver¬
leihen, so mag ich gegen diese Ansicht nicht streiten. Aber höher als diese
Selbstständigkeit schätze ich die Form, welche stets an die Natur haltend das
Ideal der jedes Mal dargestellten Gestalt sucht, sie vom Zufälligen Störenden, Hin>
eingetragenen befreiend, das Große und Allgemeine stärker hervorhebend, das
Detail unterordnend, so daß wir Gestalten bekommen, die nicht allein aus¬
drucksvoll, sondern die ausdrucksvoll und schön zugleich sind. Solche
Gestalten bietet die Antike, solche Raphael, solche Kaulbach. Er ists, der die
Schönheit und Grazie der neuen Kunst errungen; und diese hohe Schönheit
und Grazie ists, die wiederum alle seine Schöpfungen verklärt und ihnen den
unterscheidenden Stempel aufdrückt.

Während bei Cornelius die Form stets nur das Mittel blieb, die Ge-


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[0018] sehr durch Arbeiten gedrängt, und nimmt sich nicht überall genugMuße, jeder Figur das gehörige Maß von Zeit und Kraft zuzuwenden; und indem er so manche Figur nur in ihren Hauptzügen entwirft, ohne sie vollkommen durch¬ zuarbeiten, kommt es, daß, je nach der geistigen Intention, eine leicht zu allgemein, eine andere reflectirt oder zu scharf, fast carricaturartig, speeisieirt erscheint. Während alle diese Umstände die Ertreme auf beiden Seiten stark vor¬ treten lassen, kommen die Mittelgestalten, die eher ein gleiches Maß des ein¬ fach Schönen und des individuell Charakteristischen in sich vereinen, in verhält¬ nismäßig geringerer Zahl bei Kaulbach vor. Daß er aber dennoch die Kraft besitzt, auch solche Gestalten in vollster Realität zu schaffen, hat er häusig genug aufs evidenteste dargethan, wie z. B. in der Hunnenschlacht oder der Versöh¬ nung Wittekinds, wo unter andern die Figur Wittekinds das Gepräge des individuellsten Lebens trägt. Es ist von dem oben erwähnten Beurtheiler Kaulbachs in diesen Blättern (namentlich in Bezug auf die Hunnenschlacht) gesagt worden, Kaulbach habe keine selbstständigen Formen, keinen eigentlichen Stil entwickelt, er habe den des Cornelius nur eleganter, salonfähiger wiedergegeben. Ich muß dem ent¬ schieden widersprechen. Daß Cornelius Einfluß in dem Werke seines ehemaligen Schülers sichtbar, ist nicht zu leugnen, daß aber trotz dieses Einflusses doch Maulbachs Hunnenschlacht in ganz andrer Form auftritt, zeug« umsomehr von dessen selbstständiger Begabung, wenn man bedenkt, in wie hohem Grabe der Stil des Cornelius damals alles in München beherrschte. Wer wollte Raphael die Selbstständigkeit der Form absprechen, weil seine ersten Werke sich an Pe- ruginos Manier (und zwar mindestens ebenso entschieden, wie Kaulbach an Cornelius) anschließen? Wenn Selbstständigkeit und Originalität allein darin bestehen soll, baß man die in der Natur gebotene Form in besonderer, ein¬ seitiger Weise auffasse und Gewisses in derselben verhältnismäßig stark accen- tuire, um so allerdings seinen Figuren ein eigenthümliches Gepräge zu ver¬ leihen, so mag ich gegen diese Ansicht nicht streiten. Aber höher als diese Selbstständigkeit schätze ich die Form, welche stets an die Natur haltend das Ideal der jedes Mal dargestellten Gestalt sucht, sie vom Zufälligen Störenden, Hin> eingetragenen befreiend, das Große und Allgemeine stärker hervorhebend, das Detail unterordnend, so daß wir Gestalten bekommen, die nicht allein aus¬ drucksvoll, sondern die ausdrucksvoll und schön zugleich sind. Solche Gestalten bietet die Antike, solche Raphael, solche Kaulbach. Er ists, der die Schönheit und Grazie der neuen Kunst errungen; und diese hohe Schönheit und Grazie ists, die wiederum alle seine Schöpfungen verklärt und ihnen den unterscheidenden Stempel aufdrückt. Während bei Cornelius die Form stets nur das Mittel blieb, die Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/18>, abgerufen am 01.07.2024.