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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Gewalt des Künstlers gegeben, folgt seiner Laune und ist aufs Unerwartetste
gefaßt. Wie soll da noch von einer strengen Beurtheilung die Rede sein, wie
wir sie bei der einfachen ernsten Auffassung anzulegen gewohnt sind, wo wir
ein jeder mit festen Normen und souveränen Ansprüchen herantreten.

Da ists natürlich, daß wir hier auf jedem Schritt anstoßen, während wir
bei humoristischer Auffassung, vom Künstler selbst geführt, jedes Hinderniß
Zeicht überspringen. So lassen wir uns, nachdem wir einmal wissen, Kaul¬
bach will uns die ganze Weltgeschichte, in Kindergestalten parodirt, vorführen,
von seiner übermüthigen Laune mit fortreißen, sind über jedes Einzelne
erfreut und fragen nicht weiter, ob und wo es anders sein konnte. Ebenso geht
es uns beim Reineke Fuchs," wo wir über all den tollen Einfällen, über den
bekannten Thiergestalten in immer neuen komischen Situationen und den treffen¬
den Beziehungen gar nicht zum Nachdenken kommen, sondern uns in der neuen
Welt, in die wir geführt werden, alles behaglich gefallen lassen.

Es ist gewiß keine Figur^ Shakespeares so allgemein und unbedingt
beliebt und bewundert, als Fal/dass. Aber sowenig er darum das größte
Zeugniß seines Genies ist und sowenig man sagen kann, daß darum das
Humoristische Shakespeares eigentliches und größtes Feld-sei, weil er andre Ge¬
stalten geschaffen, die eine noch höhere Dichterpotenz voraussetzen, sowenig
kann ich auch Kaulbachs humoristisches Talent, um der allgemeiner", breitern
und entschiednern Wirkung willen als sein bedeutendstes gelten lassen, da er
sich durch seine Hunnenschlacht, babylonischen Thurmbau, die Blüte Griechen¬
lands und die Bekehrung Wittekinds, durch die Sage, Karl den Großen
Italia und die Wissenschaft (um von den übrigen zu schweigen) als einen hohen
und tragischen Geist documentirt.

Umsomehr müssen wir erstaunen, wenn wir das ungeheure Gebiet über¬
blicken, das zwischen diesen und jenen Schöpfungen liegt und das Kaulbach
in seiner ganzen Ausdehnung beherrscht, um so sichrer beherrscht, da er eS
vermag, allem, was er geistig erfaßt, auch sinnlich den entsprechenden Ausdruck
zu geben. Hilft ihm hierzu die Kraft der Empfindung und die Lebendigkeit
der Phantasie, so gelingt es ihm noch mehr durch die freie Herrschaft über die
Form, die vielleicht kein Künstler irgendeiner Zeit so unbedingt übte, wie
er, in der ihn aber gewiß keiner, übertraf.

Kaulbach hat nicht nur, wie vor zwei Jahren ein Beurtheiler in diesen
Blättern von ihm sagte, ein glänzendes Formengedächtniß, er besitzt, was
mehr sagen will, das tiefste Verständniß und den schärfsten und edelsten Sinn
für die Form, was er darin bekundet, daß er nicht allein vermag, gesehene
Formen zu reproduciren, sondern auch überall zu erkennen, worin das eigent¬
lich (im höhern Sinn) Charakteristische und worin das Schöne der Form
besteht. Daher ist denn auch Kaulbach in seiner Form überall ideal, er geht


Gewalt des Künstlers gegeben, folgt seiner Laune und ist aufs Unerwartetste
gefaßt. Wie soll da noch von einer strengen Beurtheilung die Rede sein, wie
wir sie bei der einfachen ernsten Auffassung anzulegen gewohnt sind, wo wir
ein jeder mit festen Normen und souveränen Ansprüchen herantreten.

Da ists natürlich, daß wir hier auf jedem Schritt anstoßen, während wir
bei humoristischer Auffassung, vom Künstler selbst geführt, jedes Hinderniß
Zeicht überspringen. So lassen wir uns, nachdem wir einmal wissen, Kaul¬
bach will uns die ganze Weltgeschichte, in Kindergestalten parodirt, vorführen,
von seiner übermüthigen Laune mit fortreißen, sind über jedes Einzelne
erfreut und fragen nicht weiter, ob und wo es anders sein konnte. Ebenso geht
es uns beim Reineke Fuchs,» wo wir über all den tollen Einfällen, über den
bekannten Thiergestalten in immer neuen komischen Situationen und den treffen¬
den Beziehungen gar nicht zum Nachdenken kommen, sondern uns in der neuen
Welt, in die wir geführt werden, alles behaglich gefallen lassen.

Es ist gewiß keine Figur^ Shakespeares so allgemein und unbedingt
beliebt und bewundert, als Fal/dass. Aber sowenig er darum das größte
Zeugniß seines Genies ist und sowenig man sagen kann, daß darum das
Humoristische Shakespeares eigentliches und größtes Feld-sei, weil er andre Ge¬
stalten geschaffen, die eine noch höhere Dichterpotenz voraussetzen, sowenig
kann ich auch Kaulbachs humoristisches Talent, um der allgemeiner», breitern
und entschiednern Wirkung willen als sein bedeutendstes gelten lassen, da er
sich durch seine Hunnenschlacht, babylonischen Thurmbau, die Blüte Griechen¬
lands und die Bekehrung Wittekinds, durch die Sage, Karl den Großen
Italia und die Wissenschaft (um von den übrigen zu schweigen) als einen hohen
und tragischen Geist documentirt.

Umsomehr müssen wir erstaunen, wenn wir das ungeheure Gebiet über¬
blicken, das zwischen diesen und jenen Schöpfungen liegt und das Kaulbach
in seiner ganzen Ausdehnung beherrscht, um so sichrer beherrscht, da er eS
vermag, allem, was er geistig erfaßt, auch sinnlich den entsprechenden Ausdruck
zu geben. Hilft ihm hierzu die Kraft der Empfindung und die Lebendigkeit
der Phantasie, so gelingt es ihm noch mehr durch die freie Herrschaft über die
Form, die vielleicht kein Künstler irgendeiner Zeit so unbedingt übte, wie
er, in der ihn aber gewiß keiner, übertraf.

Kaulbach hat nicht nur, wie vor zwei Jahren ein Beurtheiler in diesen
Blättern von ihm sagte, ein glänzendes Formengedächtniß, er besitzt, was
mehr sagen will, das tiefste Verständniß und den schärfsten und edelsten Sinn
für die Form, was er darin bekundet, daß er nicht allein vermag, gesehene
Formen zu reproduciren, sondern auch überall zu erkennen, worin das eigent¬
lich (im höhern Sinn) Charakteristische und worin das Schöne der Form
besteht. Daher ist denn auch Kaulbach in seiner Form überall ideal, er geht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/16>, abgerufen am 01.07.2024.