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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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sang zwischen Elektricität, Magnetismus, Licht, Wärme und mechanischer Kraft,
wenn man ihn auch vorher geahnt hätte, konnte einzig und allein erst der Ver¬
such feststellen. Mit der Ehrfurcht allein ist wenig, ohne den krausen Bart nun
einmal nichts anzufangen. Wenn wirklich Goethe und Humboldt nur jenen
tiefen und feinen historischen Sinn gehabt hätten, mit aller Wahrscheinlichkeit
und Treue würden sie nur Dolmetscher der Vergangenheit, nicht Verkündiger
der Zukunft gewesen sein. Es ist aber bei weitem nicht so.

Goethe hält den Faust in Händen. Der Faust ist nämlich schlechthin die
Unzulänglichkeit des Wissens. "Der Bart der Schlüssel der Wissenschaft ist
kraus, doch hebt er nicht die Riegel," sagt Faust, solange er noch selbst ein
Mann der Wissenschaft ist. Und ist das nicht genug? Denn daß Faust sich
dem Teufel ergibt und nach dem Ausleben der Leidenschaft und einem Carne-
val des Genusses aus eigner Kraft in beschränkter nützlicher Thätigkeit seine
Befriedigung findet und seine Seligkeit erringt, thut weiter nichts; hat er sich
doch von der Wissenschaft, von jedem System losgesagt; Durst nach Genuß
und Sehnsucht nach Seligkeit erhebt ihn weit aus dem Wust und Duft der
blind einhertappenden Vernunft; zudem glaubt er ein den Teufel und an den
Teufel glauben ist doch zuletzt der sicherste Beweis des Glaubens an den
geoffenbarten Gott.

Nichts gibt eine bessere Probe von der vielseitigen Natur Goethes, als
daß die verschiedensten Ansichten aus seinen Schriften herausgelesen worden
sind. In der That hat er sich zu verschiedenen Zeiten mit Neigung in die ver¬
schiedensten Richtungen geworfen; was Wunder, wenn sie in Faust, einem
Werke, dessen Schöpfung sich durch sein ganzes Dichterleben hindurchzieht, bei¬
nahe alle nebeneinander vorfinden. So klingen denn Pietismus und Theis¬
mus, Pantheismus und Mysticismus aus seinen Werken an; auf "die Geheim¬
nisse" weist der Supranaturalist, auf den Dithyrambus "an die Natur" der
Naturalist; Liberale und servile suchen aus , seinen Schriften Belege für ihre
Meinungen; die Freunde der Freiheit zeigen auf seinen Egmont; auf seine
Ehrfurcht vor den Fürsten die streng Königlichgesinnten; in Philosophie und in
Kunst nehmen die entgegengesetztesten Parteien ihn für sich in Beschlag, und
die verschiedenartigsten Weltanschauungen behaupten, sich von ihm herzuleiten; die
romantische Schule und das ganze junge Deutschland haben ihn als ihren Meister
verehrt, Spiritualismus und Emancipation des Fleisches sich um ihn gestritten;
seine Poesie verklärt nicht nur Mignons schöne Seelen, und Makarien, sondern
auch Bajaderen, Philinen und "Lacerten": Faust liebt nicht nur Gretchen, er
zaubert sich auch Helenen wieder zurück; und Goethe selbst ist daher halb ro¬
mantisch, halb classisch; auch der Orientalismus und unsre altdeutsche Vorzeit
finden sich in ihm vertreten; er hat französischem Witz, französischer Frivolität
französischer Tragik gehuldigt; ohne seinen Willen hat er das sporenklingende


sang zwischen Elektricität, Magnetismus, Licht, Wärme und mechanischer Kraft,
wenn man ihn auch vorher geahnt hätte, konnte einzig und allein erst der Ver¬
such feststellen. Mit der Ehrfurcht allein ist wenig, ohne den krausen Bart nun
einmal nichts anzufangen. Wenn wirklich Goethe und Humboldt nur jenen
tiefen und feinen historischen Sinn gehabt hätten, mit aller Wahrscheinlichkeit
und Treue würden sie nur Dolmetscher der Vergangenheit, nicht Verkündiger
der Zukunft gewesen sein. Es ist aber bei weitem nicht so.

Goethe hält den Faust in Händen. Der Faust ist nämlich schlechthin die
Unzulänglichkeit des Wissens. „Der Bart der Schlüssel der Wissenschaft ist
kraus, doch hebt er nicht die Riegel," sagt Faust, solange er noch selbst ein
Mann der Wissenschaft ist. Und ist das nicht genug? Denn daß Faust sich
dem Teufel ergibt und nach dem Ausleben der Leidenschaft und einem Carne-
val des Genusses aus eigner Kraft in beschränkter nützlicher Thätigkeit seine
Befriedigung findet und seine Seligkeit erringt, thut weiter nichts; hat er sich
doch von der Wissenschaft, von jedem System losgesagt; Durst nach Genuß
und Sehnsucht nach Seligkeit erhebt ihn weit aus dem Wust und Duft der
blind einhertappenden Vernunft; zudem glaubt er ein den Teufel und an den
Teufel glauben ist doch zuletzt der sicherste Beweis des Glaubens an den
geoffenbarten Gott.

Nichts gibt eine bessere Probe von der vielseitigen Natur Goethes, als
daß die verschiedensten Ansichten aus seinen Schriften herausgelesen worden
sind. In der That hat er sich zu verschiedenen Zeiten mit Neigung in die ver¬
schiedensten Richtungen geworfen; was Wunder, wenn sie in Faust, einem
Werke, dessen Schöpfung sich durch sein ganzes Dichterleben hindurchzieht, bei¬
nahe alle nebeneinander vorfinden. So klingen denn Pietismus und Theis¬
mus, Pantheismus und Mysticismus aus seinen Werken an; auf „die Geheim¬
nisse" weist der Supranaturalist, auf den Dithyrambus „an die Natur" der
Naturalist; Liberale und servile suchen aus , seinen Schriften Belege für ihre
Meinungen; die Freunde der Freiheit zeigen auf seinen Egmont; auf seine
Ehrfurcht vor den Fürsten die streng Königlichgesinnten; in Philosophie und in
Kunst nehmen die entgegengesetztesten Parteien ihn für sich in Beschlag, und
die verschiedenartigsten Weltanschauungen behaupten, sich von ihm herzuleiten; die
romantische Schule und das ganze junge Deutschland haben ihn als ihren Meister
verehrt, Spiritualismus und Emancipation des Fleisches sich um ihn gestritten;
seine Poesie verklärt nicht nur Mignons schöne Seelen, und Makarien, sondern
auch Bajaderen, Philinen und „Lacerten": Faust liebt nicht nur Gretchen, er
zaubert sich auch Helenen wieder zurück; und Goethe selbst ist daher halb ro¬
mantisch, halb classisch; auch der Orientalismus und unsre altdeutsche Vorzeit
finden sich in ihm vertreten; er hat französischem Witz, französischer Frivolität
französischer Tragik gehuldigt; ohne seinen Willen hat er das sporenklingende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/116>, abgerufen am 22.07.2024.